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Träume - ein postapokalyptisches Märchen

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20.12.2002
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Träume - ein postapokalyptisches Märchen

Es war einmal ein Junge, der ein Falke sein wollte. Sein größter Wunsch war es, auf die Welt hinabzublicken, mit Wind unter den Flügeln und Freiheit im Sinn. Seine Augen glühten, wenn er nur daran dachte, und sein Herz pochte in seiner Brust.
Eines Tages machte er den Fehler, darüber zu sprechen. Die Leute in seinem Dorf wollten nichts davon wissen. Du bist kein Falke, sagten sie, du kannst nicht fliegen.
Der Junge ging davon und dachte an die rote Schmetterlingsfrau, die ihm im Traum erschienen war, ein wunderbares Schwebewesen, leicht und grazil wie eine Tänzerin. Er hatte versucht, sie zu fangen, aber sie war entkommen.
Als er alt genug war, um alleine zu reisen, wagte er einen Ausflug in die weit entfernte Stadt, um die großen, toten Flugmaschinen zu bestaunen. Dort standen sie auf einem riesigen Asphaltfeld herum wie verrostete Dinosaurier. Die pralle Sonne schlug auf sie ein, ihre Scheiben waren gebrochen, die Reifen platt. Der Gedanke, sie könnten fliegen, sprengte jede Vorstellungskraft.
Außer der des Jungen.
Bald verbrachte er jeden Tag auf dem Flugplatz und jede Nacht in der Bibliothek. Dort studierte er die Anatomie der Flugmaschinen und lernte alles über ihre Steuerung. Auch beschäftigte er sich mit den Gesetzen der Physik und der Mechanik. So vergingen Jahre, ohne dass von außen erkennbar gewesen wäre, dass der Junge irgendwelche Fortschritte machte.
Eines Abends lief ihm ein Mädchen über den Weg. Sie hatte einen wunderbar-leichten, unbeschwerten Gang, sie summte und schnipste zu einer unbekannten Melodie, und ihr Haar – der Junge traute seinen Augen nicht – es war von einem tiefen, satten Rot.
Er nahm seinen Mut zusammen, trat zu ihr und sagte: „Du bist mir im Traum erschienen.“
„Tatsächlich?“ Sie lächelte. „Und was habe ich dort gemacht?“
„Du warst ein roter Schmetterling“, sagte er. „Und du hast wunderschön getanzt.“
„Und was ist dann passiert?“
„Ich habe versucht, dich zu fassen, aber du bist entkommen. Seitdem hoffe ich jeden Tag, dass du zurückkommst. Du bist sogar schöner, als ich dich in Erinnerung hatte. Träume ich etwa?“
„Du träumst nicht“, sagte sie. „Allerdings muss eine Verwechslung vorliegen. Ich bin nicht der Schmetterling aus deinem Traum.“
„Tanzt du?“
„Mit Freude, ja.“
„Tanzt du auch in den Träumen anderer?“
„Ab und zu. Wenn mir danach ist.“
„Du bist es.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich tanze nur für die, die mich kennen. Von den Träumen fremder Menschen halte ich mich grundsätzlich fern, schon mein Leben lang.“
„Dann müssen wir uns kennenlernen“, sagte der Junge.
Das Mädchen überlegte kurz. „In sieben Tagen.“
„Geht es nicht früher?“
„Nein.“
Der Junge seufzte geschlagen. „Okay.“
Sie wandte sich zum Gehen und lächelte.

Noch in derselben Nacht besuchte sie ihn, betörender denn je. Er sah sie in einem roten Kleid auf einer Wiese tanzen, ihre Beine zierten violette Spitzenstrümpfe, und ihr Haar flog mit Schwung durch die Luft.
Er versuchte sie zu fangen, aber sie entkam.

Nach ihrem ersten Treffen gab es bald ein zweites und ein drittes, und der Jungen wusste, dass er sie heiraten wollte. Noch wartete er jedoch mit diesem Schritt, der Sittlichkeit halber, aber auch, weil es vorher noch etwas zu erledigen gab.
Der Falke stand kurz davor, seinen ersten Flug anzutreten.
In einer Halle hatte er eine Maschine gefunden, die, vor Sonne und Regen geschützt, noch etwas von ihrem alten Glanz besaß. Ihr Rumpf war leuchtend weiß, und ihre Flügel strahlten in Lila. Sogar die Stühle im Cockpit, aus feinstem cremefarbenen Leder, rochen frisch und sauber.

„Ich habe Angst“, sagte das Mädchen am Abend vor dem Flug.
„Wovor?“, fragte er.
„Was ist, wenn ich doch die Tänzerin in deinen Träumen war, die dir entkommt?“
„Aber du hast doch gesagt, dass du nicht diese Tänzerin sein kannst.“
„Vielleicht irre ich mich. Wenn du in diese Maschine steigst, kann es sein, dass wir uns nie wieder sehen.“
„Du willst doch nur, dass ich bleibe.“
„Ja! Du riskierst alles für diesen Flug, auch mich. Ist dir das wirklich wert?“
„Ich bin ein Falke, und Falken müssen fliegen.“
„Und ich bin ein Schmetterling, der will, dass du mich fängst.“
„Ich werde dich fangen. Aber vorher muss ich fliegen. Nur eine kleine Runde, mehr nicht. Dann komme ich sofort zu dir zurück.“

Am nächsten Morgen füllte der Junge den Tank der Merlin 1 mit Kerosin und startete sie. Ihre Triebwerke heulten auf, und der Junge bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper. Er drückte sich eine Brille mit großen, dunklen Gläsern auf die Nase, schlug den Kragen seiner Pilotenjacke hoch und gab Vollgas.
Als die Merlin 1 abhob, konnte er es im ersten Moment gar nicht glauben. Er war in der Luft. Die Flüsse waren blaue Schlangen unter ihm, die Bäume Unkraut, die Gebäude nur noch graue, hässliche Steine. Er flog direkt über seinem Dorf, ließ die Triebwerke aufdonnern und schoss in den Himmel hinauf.
Ehe er sich versah, hatte er die Wolkendecke durchbrochen. Er blickte nach unten und spürte das Verlangen, sich in dem Wolkenstoff zu wälzen wie in weißen Laken. Die Strahlen der Sonne brannten auf seiner Haut, und er fühlte sich dem großen Stern ganz nahe.
Er flog kreuz und quer und über den Himmel, voller Euphorie, auch wenn der Anblick unter ihm nicht immer schön war. Die Städte sahen leer aus, ohne Anzeichen von Überlebenden.
Nach einer Weile sah er einen Strand mit einer großen Düne näherkommen.
Der Junge dachte an sein Schmetterlingsmädchen und wusste, dass er jetzt umdrehen musste. Und doch zog es ihn in diesem Moment so stark in die Ferne wie nie zuvor.
Erst jetzt, als Europa bereits hinter ihm lag, wurde ihm bewusst, wohin es ihn zog. Nach New York. Er wollte ins Herz der alten Welt eindringen. Er wollte ihre Dekadenz schmecken und ihre Herrlichkeit erleben. Er wollte wissen, ob es irgendwo in den Ruinen dort ein leises wehmütiges Pochen gab.
In den nächsten Stunden, während der atlantische Ozean sich in all seiner Eintönigkeit unter ihm ausbreitete, wurde der Junge immer wieder von Wellen der Melancholie ergriffen. Er konnte spüren, wie er sich immer weiter von seinem Mädchen entfernte. In seiner Brust gab es einen ziehenden Schmerz, der stetig zunahm. Er vermutete, dass die Schmetterlingsfrau das gleiche Ziehen spürte. Als seien ihre Herzen durch ein magisches Seil verbunden.
Der Junge schwor sich in diesem Moment, alles Erdenkliche dafür zu tun, einen Weg zurück zu finden. Mochten die Schmerzen in seiner Brust noch so unerträglich werden, er würde Kraft aus ihnen schöpfen. Und einen gewissen Trost. Bedeuteten sie doch, dass das Seil noch hielt.

Als er die Küste des nordamerikanischen Kontinents erblickte, war er vor allem erleichtert. Doch dann ging etwas schief. Im Landeanflug kam das Räderwerk nicht heraus.
Der Junge fasste sich an den Kopf und flog am Flugplatz vorbei. Er musste eine Wasserlandung versuchen.
Schon hatte er die Insel Manhattan im Visier. Er schnallte sich an, zog eine Schwimmweste über und setzte auf den Fluss auf. Als die Merlin zum Stehen kam, öffnete er eine Notluke und sprang ins Wasser. Zitternd schwamm er ans Ufer, wo er sich auf eine Wiese hinlegte und durchatmete. Die Merlin sank in den Fluss, ganz langsam. Langsam ging auch die Sonne unter, hinter den Bauwerken auf der anderen Uferseite. Links davon, auf einer Insel in der Ferne, hielt die Freiheitsstatue eine Fackel nach oben.
Der Junge spazierte nach Manhattan hinein.

Bald fand er sich von Hochhäusern umschlossen. An jeder Ecke schossen sie in die Höhe, viereckige Klötze, graufarben und kalt. Ihre Scheiben waren dreckig und nirgends brannte Licht.
Ob der Junge hier ein Pochen finden würde?
Er ging schnell voran und wünschte sich bereits, er wäre wieder in der Luft.
Da seine Kleidung immer noch nass war, ging er in die nächste Boutique. Dort fand er einen blauen Anzug, der ihm passte, ein schwarzes Hemd und gemütliche Lederschuhe. Er zog sich um und ging weiter, ziellos und mit einem wachsenden Gefühl des Unbehagens. Ein kühler Wind fegte an ihm vorbei, und die Hochhäusern warfen lange schwarze Schatten.
Er irrte weiter, bald durch völlige Finsternis, bis er sich auf einem großen Platz wiederfand, eine Lichtung im Wolkenkratzerwald. Von allen Seiten her wurde der Platz von Leuchtreklamen umringt, deren Licht längst erloschen war.
Hier, an diesem Ort, hatten sich einst die Träume der alten Welt abgebildet, möglichst laut und bunt.
Der Junge drehte sich im Kreis, ließ den Blick schweifen und horchte in die Stille.
Der kalte, milchige Mondglanz überzog alles.
Der Junge stieg in ein gelbes Taxi und rollte sich auf der Rückbank zusammen. Durch das gläserne Schiebedach konnte er die Sterne sehen, während draußen der Wind heulte. Er steckte sich die Finger in die Ohren und versuchte wegzuhören, aber es gelang ihm nicht, im Gegenteil, das Heulen schien immer lauter zu werden.
Die Geister der alten Welt kamen zu ihm. Der Junge konnte sie sehen, Kinder und Frauen und Männer, sie schüttelten das Taxi durch und schrien. Ihre Augen leuchteten, ihre Gesichter waren verzerrt, und für einen kurzen, grausamen Moment, als dem Jungen schon die ersten Tränen kamen, sprangen alle Lichter auf dem Times Square an, nur für ihn. Blutrot erstrahlten sie, und heller als die Sonne selbst.

Am nächsten Morgen, als der Junge aus dem Taxi stieg, sah er einen Mann näherkommen. Er hatte ein erlegtes Reh über die Schulter geschlungen und ein Gewehr in der Hand. Er war groß und kräftig, sein Bart leicht ergraut. Er trat zu dem Jungen und sagte: „Hallo.“
„Hallo“, sagte der Junge. „Wer bist du?“
„Ich bin der letzte Mensch auf Erden. Wer bist du?“
„Ich bin ein Falke.“
„Ja, so muss es sein. Du bist mir im Traum begegnet. Ich habe gesehen, wie du geflogen bist.“
„Tatsächlich?“, sagte der Junge erstaunt. „Und was ist dann passiert?“
„Dann habe ich dich abgeschossen.“
„Oh …“
„Ja, blöd. Vor allem, wenn man bedenkt, wie einsam ich bin.“ Der letzte Mensch lächelte, als habe er einen Witz gemacht. Doch seine Augen verrieten, dass er tatsächlich sehr einsam war. „Gibt es dich wirklich?“
„Ja“, sagte der Junge. „Mich gibt es wirklich. Allerdings muss eine Verwechslung vorliegen. Ich kann nicht der Falke aus deinem Traum sein.“
„Fliegst du?“
„Ja.“
„Kreuz und quer über den Himmel, der Sonne ganz nahe?“
„Oh ja, mit Freude.“
„Du bist es.“
Der Junge schüttelte den Kopf. „Da wir uns eben erst begegnet sind, gehe ich davon aus, dass du von einem anderen Falke geträumt hast.“
„Dann spricht wohl nichts dagegen, wenn wir Freunde werden?“
„Nein“, sagte der Junge, „ganz und gar nicht.“

Der letzte Mensch auf Erden wohnte in Brooklyn. Dort lebte er zusammen mit einem Drachenbaum, den er jeden zweiten Tag goss. Um sich zu ernähren, ging er im Central Park jagen und sammelte Dosen.
Am Abend kochte er für den Jungen, und sie kamen ins Gespräch.
„Ist sie schön?“, fragte der Mann, als der Junge von der Schmetterlingsfrau erzählte.
„Mehr als schön“, sagte der Junge. „Wenn sie tanzt, schwingt ihre ganze Seele mit, so unbefangen und sorglos, als gäbe es nur sie auf der Welt. Und in der Tat übertrifft sie dann alles.“
„Und sie gehört dir? Dir allein?“
„Ja, und sie wartet auf mich.“
„Wie kannst du dir so sicher sein?“
„Weil wir uns lieben.“
Der Mann zog die Brauen an.
„Ich kann es spüren“, sagte der Junge. „Es gibt ein Ziehen in unseren Herzen, das uns verbindet.“
„Aber sie ist sehr weit weg. Und dein Flugzeug ist kaputt. Wie willst du sie wiedersehen?“
„Ich werde morgen zum Flugplatz gehen und eine neue Maschine finden, der ich Leben einhauchen kann. Ich habe es einmal geschafft und werde es wieder schaffen. Du glaubst mir nicht?“
„Entschuldige meinen zweifelnden Blick. Du musst verstehen, ich war auch schon mal am Flugplatz. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Maschinen fliegen. Aber man sieht dir an, wie entschlossen du bist. Ich glaube, wenn jemand es schafft, dann du. Dein Mädchen muss wirklich etwas Besonderes sein.“
„Oh ja, das ist sie wirklich.“
Der Junge erzählte noch mehr von der Schmetterlingsfrau, von ihrem rotem Haar und ihrem leichtem Gang, und der Mann hörte aufmerksam zu.
„Was ist mit dir?“, fragte der Junge. „Bist du wirklich all die Jahre über ganz alleine gewesen?“
„Nicht ganz. Ich hatte einen Hund, aber …“ Der Mann verstummte plötzlich, und sein Gesicht zog sich vor Schmerz zusammen.
Der Junge wollte natürlich wissen, was mit dem Hund passiert war, bohrte aber nicht nach.

Am nächsten Morgen zog der Junge in den obersten Stock des Wohnhauses gegenüber ein. Er ließ alles mehr oder weniger so, wie es war, und brach noch am selben Tag Richtung Flugplatz auf.
Als er am Abend zurückkehrte, hörte er eine Stimme.
„Hast du Hunger?“, rief der Mann von seinem Fenster aus.
„Und wie“, sagte der Junge.

Dies wurde schnell zur Routine. Der Junge aß jeden Abend bei dem Mann. Sie spielten Schach und unterhielten sich bis spät in die Nacht.
„Erzähl doch wieder von der Schmetterlingsfrau“, sagte der Mann immer wieder, und dann lehnte er sich zurück und lächelte selig.

Der Junge legte sich früh auf eine Maschine fest, die er für den Rückflug geeignet hielt. Nach einem Jahr funktionierte das Getriebe, und nach zweien brachte er endlich beide Triebwerke zum Laufen. An diesem Tag gab er der Maschine den Namen Freja 0 und verdoppelte seine Anstrengungen. Das Ziehen in seiner Brust wurde immer größer; er musste sich beeilen. An vielen Abenden kam er gar nicht mehr nach Hause, sondern schlief im Bauch der Maschine. Sie war nicht ganz so schön wie die Merlin 1, nicht so groß und nicht so strahlend, aber er empfand eine größere Zärtlichkeit für sie.

„Es ist so weit“, sagte er am Abend vor dem Flug. „Morgen fliege ich zurück.“
Der Mann runzelte die Stirn. „Du glaubst, dass deine Maschine fliegen kann? Bis nach Europa?“
„Ja.“
„Deine Maschine wird aller Wahrscheinlichkeit nach in den Ozean stürzen. Falls sie es überhaupt vom Boden schafft.“
„Hab Vertrauen, alter Freund. Meine Freja wird mich nicht im Stich lassen, das weiß ich.“
„Ich versuche nur, dich zu schützen.“
„Nein, du willst, dass ich hierbleibe.“
„Ja. Die letzten Jahre waren sehr schön. Wir führen doch ein nettes Leben. Wir haben genug zu Essen, wir haben Wein, und wir spielen Schach. Bist du wirklich bereit, all das für ein Mädchen am anderen Ende der Welt zu riskieren?“
„Ich bin mehr als bereit. Du vergisst, dass ich ein Falke bin.“
„Und ich war einmal der letzte Mensch auf Erden. Das will ich nie wieder sein.“
„Hast du etwa gedacht, ich lasse dich hier? Du kommst natürlich mit! Die Freja hat mehr als genug Platz in ihrem Bauch.“
Der Mann verzog besorgt das Gesicht.
„Ich werde um jede Gefahr einen großen Bogen machen“, sagte der Junge. „Ich werde so sicher und zielbewusst fliegen, wie ich nur kann.“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Bitte, bleibe hier. Zwinge mich zu nichts.“
„Ich zwinge dich zu nichts. Morgen früh werde ich vorbeikommen, um mich zu verabschieden. Oder um dich mitzunehmen. Es ist deine Entscheidung.“

Am nächsten Morgen erwartete ihn der Mann vor seinem Wohnhaus. Er trug einen schwarzen Anzug und hatte einen Rollkoffer dabei. Unter seinen Augen waren große Ringe.
Der Junge lächelte. „Ich wusste es.“
Auf dem Weg zum Flugplatz sagte der Mann kein Wort.
„Sei nicht so angespannt“, sagte der Junge. „Es wird alles gut.“

Schon rollten sie über die Startbahn. Der Junge fühlte sich großartig. Er spürte die ganze Kraft der Freja und hob in aller Ruhe ab. Keine zwanzig Minuten später hatte er seine Zielflughöhe erreicht. Er schaltete auf Autopilot und lehnte sich zurück.
Der Mann kam nach vorne ins Cockpit. „Wir fliegen“, sagte er. „Ich kann es nicht glauben. Herr im Himmel, wir fliegen!“
Der Junge war überglücklich. „Und weißt du, was das schönste daran ist?“
„Was denn?“
„Das Ziehen lässt nach. Die Schmerzen in meiner Brust, die mich mit meinem Mädchen verbinden, werden weniger. Gott! Was habe ich nicht gelitten in den letzten Jahren? Endlich ist es vorbei, und ich kann sie wieder in den Arm nehmen!“

Als der Junge das Asphaltfeld näherkommen sah, jenes Asphaltfeld, auf dem er so viele Stunden verbracht hatte, mit ölverschmierten Händen und kalten Füßen, wurde er beinahe zu Tränen gerührt. Er war daheim. Und er kam gerade rechtzeitig. Noch warf die Sonne genug Licht auf die Landebahn.
Die Freja 0 ließ ihn bis zuletzt nicht im Stich. Das Räderwerk kam heraus, sie hielt die Spur, und dem Jungen gelang seine erste Landung auf Asphalt.
Er schnallte sich ab und sprang auf.
In der Cockpit-Tür stand der Mann. Er hielt eine schwarze Pistole in der Hand, die er auf den Jungen richtete. Sein Mund war grausam verzogen, seine Hände zitterten. Er hatte Tränen in den Augen.
Dem Jungen klappte die Kinnlade auf. Dann begann er ebenfalls zu weinen.
„Du hast mich nie gefragt, was mit meinem Hund passiert ist“, sagte der Mann.
„Bitte …“
„Nun, jetzt werde ich dir die Geschichte erzählen. Mein Hund war mir das Liebste auf der Welt. Ich war der letzte Mensch auf Erden und er mein bester Freund. In dem Winter, bevor du gekommen bist, bin ich sehr krank geworden. Ich hustete Blut und konnte kaum das Bett verlassen. In meiner eigenen Scheiße habe ich gelebt, im eigenen Blut, wochenlang, und alles, was mir blieb, war mein Hund. Gott hatte mich zu Einsamkeit verdammt und nun ließ er mich dahinsiechen. Ich flehte Ihn an, mich endlich zu töten. Weißt du, wie es ist, sterben zu wollen, Falke? Du warst schon immer in der Luft, nicht wahr? Du hast nie zu spüren bekommen, wie grausam das Menschenleben sein kann, du hast die Dinge immer nur von oben gesehen.“
„Mein Mädchen …“
„Dein Mädchen hast du seit Jahren nicht mehr gesehen. Du hast sie verlassen, weil du fliegen wolltest. Damit musst du jetzt leben. Mein Hund hat mich nie verlassen. In all der Zeit, während ich im Bett lag und zu Gott gefleht habe, ist er bei mir geblieben. Ich musste aus dem Bett krabbeln, um Essen zu holen. Auf dem Weg in die Küche habe ich mich jedes Mal gefragt, ob ich noch die Kraft besaß, eine Dose zu öffnen. Mein Hund hat mich begleitet, hat mir übers Gesicht geleckt und versucht, mich zu ermuntern. Später, als unsere Essensvorräte alle waren, hat er manchmal die Wohnung verlassen. Ich habe mir gewünscht, er käme nicht mehr, er ließe mich sterben und fände irgendwo ein glückliches Hundeleben. Aber er kam immer wieder. Und legte mir Ratten aufs Bett, die ich durchgekocht und langsam zerkaut habe. So ging das eine Weile. Doch der Winter war unerbittlich, und irgendwann schienen sogar die Ratten verschwunden zu sein. Die Kräfte meines Hundes ließen nach. Bald lag er nur noch neben meinem Bett. Die Krankheit hatte mich nicht besiegt, doch der Hunger würde mir bald ein Ende machen, das spürte ich. Eines Nachts rief ich meinen Hund zu mir. Er kam mit wedelndem Schwanz. Ich habe ihn gestreichelt und umarmt, habe ihm lieb zugesprochen und schließlich diese Pistole hier an den Kopf gesetzt. Und weißt du, was das Schlimmste daran ist: Er hat mir geschmeckt. So ist das mit dem Hunger. Du siehst die Welt von oben, Falke, und glaubst, alles zu sehen. Aber ich sehe die Welt von unten, und ich lebe immer noch.“

Das Mädchen war in ein Buch vertieft, als sie es hörte, ein mächtiges Rauschen, wie ein Wasserfall in der Ferne. Sie warf den Kopf in den Nacken, sah die Flugmaschine und rannte los.
Die letzten Jahre waren hart für sie gewesen. Zu lange hatte sie auf die Rückkehr ihres Falken gewartet. Sie tanzte zwar weiterhin, doch etwas hatte sich verändert. Sie war noch immer wunderschön, doch ihre Bewegungen sahen anders aus, mitunter wirkten sie bemüht. Die atemberaubende Leichtigkeit, die einst jedem ihrer Schritte innewohnte, hatte sie verloren.
Als sie fast schon den Flugplatz erreicht hatte, bemerkte sie einen schwarzer Koffer am Wegesrand. Sie hörte ein Knacken, drehte den Kopf und sah einem Mann aus dem Wald heraus spazieren. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn und eine Schaufel in der Hand. Er legte sie ab und trat zu ihr.
„Hallo“, sagte er.
„Hallo“, sagte sie. „Wer bist du?“
„Wo ich herkomme, bin ich der letzte Mensch auf Erden. Hier bin ich wohl der fremde Mensch.“
„Ja“, sagte sie, „so ist es. Hast du einen Falken gesehen?“
„Ja.“
„Er ist tot, nicht wahr?“
„Woher weißt du das?“
„Ich spüre es. Seit er mich verlassen hat, begleitet mich ein Ziehen in der Brust, das uns verbindet. Dieses Ziehen ist nun fort.“
„Der Falke, den ich kannte, hat gerne von einer Schmetterlingsfrau mit rotem Haar erzählt, einer wunderbaren Tänzerin, die ihn im Traum besucht hat. Du bist diese Frau, nicht wahr?“
Das Mädchen senkte den Kopf und begann zu weinen.
„Es tut mir sehr leid“, sagte der Mann.
„Du kommst mir sehr bekannt vor“, sagte sie. „Mein Leben lang habe ich von einem fremden Mann geträumt, der mich fängt und in einen Käfig steckt. Bist du etwa dieser fremde Mann?“
„Ich ziehe es vor, mich aus fremden Träumen rauszuhalten. Du musst also von einem anderen Fremden geträumt haben. Gestatte mir dennoch die Frage, schöne Schmetterlingsfrau, bloß aus Interesse, was passiert, nachdem der fremde Mensch dich gefangen und in den Käfig gesteckt hat?“
„Ich bringe ihn dazu, ebenfalls in den Käfig kommen. Und dann schließe ich die Tür.“
„Und nachdem du die Tür zugemacht hast – tanzt du immer noch so schön?“
„Ich tanze weiter, so gut ich eben kann.“
„Nun“, sagte Mann. „So schlimm hört sich das doch gar nicht an.“
„Könnte wohl schlimmer sein.“
„Oh ja“, sagte er, „das könnte es.“

Und so kam es, dass der Mann und die Schmetterlingsfrau zusammen in ein Haus zogen und eine Familie gründeten. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

 
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Also mal abgesehen davon, dass ich nicht wirklich ein Märchenfreund bin, JuJu, hab ich nach dieser Geschichte das Gefühl, dass es auch nicht unbedingt dein Genre ist. All das nämlich, was ich an deinen anderen Geschichten so schätze und liebe, die so wunderbar pointierten Dialoge, die toll gezeichneten Figuren, Sprachwitz und ein in aller Regel mitreißender Plot, fehlt mir hier. Es passiert zwar viel, das schon, aber irgendwie hängt das alles so in der Luft, ich kann mit dem ganzen Setting einfach nichts anfangen. Lese ich da von den drei letzten Menschen auf dieser Welt? Ist diese Schmetterlingsfrau überhaupt ein Mensch aus Fleisch und Blut, oder nur eine Projektion der beiden Männer? Oder darf man sich bei einem Märchen solche Fragen gar nicht stellen?
Also sollte da irgendwas Gleichnishaftes in der Geschichte stecken, ich weiß nicht recht, so wirklich machte sie mir keine Lust, danach zu suchen.
Einzig das bitterböse, makabre Ende entlockte mir ein Grinsen.

(Ein paar Fehler stecken noch drin. Fallfehler, vergessene oder verlorene Wörter - eines gleich im ersten(!) Satz :rolleyes: - da und dort ein falscher Genus, usw. das Übliche halt. Aber ich bin heute leider so richtig feiertäglich faul. Die Bugs darf wer anderer raussuchen.)

Ich warte gespannt auf deine nächste romantische Story, JuJu.

offshore

 

Hallo Ernst,

danke für die Kritik. Du konntest gar nix damit anfangen, scheiße. Ich hab hier was anderes gemacht, das weiß ich, und ja ... finds trotzdem irgendwie cool. Mal schauen.

MfG,

JuJu

 
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Hallo Juju,

ich bin auch noch nicht überzeugt von der Geschichte. Ich denke, die könnte richtig gut sein, aber es muss noch Arbeit reingesteckt werden.

Mein erster Kritikpunkt ist, ich finde sie zu lang. Du hast den Text als Märchen angelegt, das finde ich an sich auch gut - die Sprache und die Erzählweise passen gut dazu, und das Ende wirkt auch echt stark, wenn man die ganze Zeit in dieser märchenhaften Stimmung schwelgt und so eine fiese Wendung nicht erwartet.

Aber Märchen können aus meiner Sicht nur dann richtig gut funktionieren, wenn sie relativ kurz sind. Deine Figuren hier sind keine richtigen Charaktere, sondern eher so was wie Archetypen - null Komplexität. Das passt auch, das ist eine Eigenschaft von Märchen. Da gibt es halt die böse Königin oder was weiß ich, und nicht die traumatisierte Frau mit der schweren Kindheit. Und hier gibt es halt den Jungen, der fliegen will und das Mädchen, das hauptsächlich schön ist und gerne tanzt. :) Ist völlig okay für diesen Text - aber Figuren von dieser Sorte folge ich halt nicht für unbestimmt lange Zeit als Leser, dafür sind die nicht interessant genug. Wenn du nicht auf den Märchencharakter verzichten und deine Figuren weiter entwickeln willst, dann musst du beim Schreiben schneller zum Punkt kommen.

Aus meiner Sicht solltest du die ganze Europatour streichen. Die treibt die Handlung eigentlich nicht voran - und wenn ich mal mit einer unmärchenhaften Realismusbrille drauf schaue, glaube ich auch nicht, dass der Treibstoff reichen würde, um durch Berlin, Paris, etc. und dann noch über den Atlantik zu fliegen, ohne dass er wenigstens mal tankt. :)
Und auch sonst gibt es bestimmt ein paar Stellen, die gestrafft werden können.

Zweiter Kritikpunkt: Es gibt wirklich noch einiges zu korrigieren. Ich mache mal eine Liste von Fehlern und anderen Sachen, die mir aufgefallen sind.

Träume - ein postapokalyptisches Märchen
Auch wenn ich zugeben muss, dass mich vor allem das Wort postapokalyptisch angezogen hat (ich hab heute zum zweiten Mal "Mad Max: Fury Road" im Kino gesehen, das ist voll meine Wellenlänge zur Zeit :)), finde ich solche beschreibenden Untertitel eigentlich nicht so toll. Man findet als Leser doch eigentlich selbst raus, was für einen Text man vor sich hat.

Ihre Scheiben waren gebrochen, und ihre Reifen waren platt.
zerbrochen oder geborsten würden besser passen

Nach ihrem ersten Treffen gab es bald ein zweites und ein drittes, und der Jungen wusste, dass er das Mädchen heiraten wollte.
Junge

Sogar die Stühle im Cockpit, aus feinstem cremefarbenem Leder, rochen frisch und sauber.
cremefarbenen

Ist dir das wirklich wert?“
da fehlt noch ein "es"

Er wartete, bis der Tacho zweihundert Kilometer pro Stunde anzeigte, dann zog er an dem Steuerknüppel.
das würde ich zu am zusammenziehen

Er flog bereits in Hundert Meter Höhe!
hundert klein

Eine Herde wilder Pferde galoppierte über eine Wiese, und ein Bär sah erstaunt nach oben.
Da fliegt er aber ziemlich niedrig, wenn er sogar den Gesichtsausdruck des Bären erkennt ...

Die Stahlen der Sonne brannten auf seiner Haut, und er fühlte sich dem großen Stern ganz nahe.
Strahlen

In Berlin flog er etwas tiefer, um die Stadt zu besichtigen. Ein Mal umkreiste er den Fernsehturm auf der Suche nach dem Brandenburger Tor, das er schließlich fand. Fasziniert dachte er daran, dass hier einst die Grenze gelaufen war, die die Welt in Ost und West geteilt hatte.
verlaufen

Und irgendwie klingt mir das alles nicht so richtig postapokalyptisch. Der Junge kennt nicht nur die Namen sämtlicher Städte die er besucht, sondern sogar ihre Sehenswürdigkeiten und ihre Geschichte - und die Sehenswürdigkeiten scheinen auch alle noch da zu sein abgesehen vom Eifelturm. Gut, du erwähnst die Bibliothek, die es offenbar auch noch gibt, er könnte die Informationen aus Büchern gelernt haben. Aber trotzdem - eine zusammengebrochene Zivilisation stelle ich mir anders vor. Und wie gesagt - die ganze Europatour ist mir ohnehin zu viel.

An und für sich wäre das nicht so schlimm gewesen, hätte der Junge nicht das Gefühl gehabt, die Kämpfe seien längst vorbei.
Das verstehe ich nicht - wäre es nicht schlimmer, wenn dort noch gekämpft würde - also gefährlicher?

Ein wenig beklemmt verließ er Paris, sich plötzlich nicht mehr sicher, wohin er als Nächstes wollte.
Hmm ... ich bin nicht sicher, beklemmt geht glaube ich auch, aber beklommen fände ich besser.

Sechs Stunden bloß, mehr nicht, dann würde er einen neuen Kontinenten zu Gesicht bekommen.
Kontinent

In den nächsten Stunden, während der atlantische Ozean sich in all ihrer Eintönigkeit unter ihm ausbreitete,
seiner - ist ja auf den Ozean bezogen

Als seien ihre Herzen durch einen magischen Seil verbunden, der, je weiter er flog, einer immer größeren Spannung ausgesetzt wurde.
ein magisches Seil; das

Bedeuteten sie doch, dass der Seil noch hielt.
das

Schon hatte er die Insel Manhattan im Visier. Er sah die Häufung von Wolkenkratzern an ihrer Spitze und das Wasser ringsum.
Ich habe mal gelesen (ich glaube in dem Buch "Die Welt ohne uns"), dass Manhattan nach dem Zusammenbruch der Zivilisation sehr schnell unter Wasser stehen würde - aber das muss in der Geschichte nicht zwingend so sein, denke ich, es geht ja hier nicht um eine möglichst realistische Zukunftsvision. :)

Das Wasser schwappte über die Windschutzscheibe und dröhnte mit solcher Wucht, dass es dem Jungen in die Knochen fuhr.
Ist es wirklich das Wasser, was dröhnt? Ich würde noch "der Motor" oder so was einfügen.

Links davon, auf einer Insel in der Ferne, hielt die Freiheitsstatue einen Fackel nach oben, als entfache sie den Himmel.
eine

Der Junge freute sich, wieder etwas zu sehen, und doch, als er vorsichtig den Platz erkundigte, wurde ihm wieder unwohl zumute.
erkundete

Am nächsten Morgen, als der Junge aus dem Taxi stieg, sah er ein Mann näherkommen.
einen

Der letzte Mensch auf Erden bezog eine Ein-Zimmer-Wohnung in Brooklyn.
bewohnte - der zieht doch nicht erst nach der Begegnung mit dem Jungen dort ein.
Und - wenn ich in New York keine Miete zahlen müsste, würde ich mir doch eine größere Wohnung suchen. Warum mit einem Zimmer vorlieb nehmen? :)

Der Mann verstummte plötzlich, und sein Gesicht zog sich vor Schmerzen zusammen.
Ich würde Schmerz schreiben, weil es ja eher etwas Emotionales ist. Schmerzen klingt nach etwas Körperlichem.

„Ich muss noch in meinem Terminkader nachschauen, aber ich glaube, da lässt sich was machen.
Terminkalender

Tatsächlich gibt es für mich nichts Schöneres, als dich zu empfangen, für dich zu kochen und dir zu sprechen.
da fehlt noch "mit"

Sei dir versichert, dass ich deine Gesellschaft enorm schätze.
das "dir" muss weg - "sei versichert" ist eine feste Redewendung

Der Mann warf einen Blick in die Ecke, wo ein kleiner, grauer Kissen lag, voller Tierhaare. In stillen Momenten sah er häufig dorthin.
kleines graues

Sie trug ein gelbes Sommerkleid, das im Wind schwirrte, und jedes Mal, wenn sie eine ausfallende Bewegung gemacht hat, einen Sprung oder eine Finte, flog ihr Haar nach oben, und es war, als stünde die Zeit still.“
Eine Finte ist doch ein Täuschungsmanöver oder so was. Ich weiß nicht, ob das beim Tanzen vielleicht eine andere Bedeutung hat, aber meine Vermutung ist, das ist nicht das richtige Wort.

Den Tag vor dem Rückflug verbrachte er komplett damit, sie zu putzten, ihre graue Farbe zum Glänzen zu bringen, den Cockpit auszuwischen und die Scheiben.
das

Mit einer kleinen Tasche auf dem Rücken klingelte der Junge im Morgengrauen bei dem Mann.
klopfte. Die haben sicher keine Elektrizität mehr. :)

Nach einer Weile kam dieser herunter, mit einem Rollkoffer und drei Gemälde unter dem Arm.
Gemälden

Ich habe mir gewünscht, er käme nicht mehr, er lasse mich sterben und fände irgendwo ein glückliches Hundeleben.
ließe

Das Mädchen war in einem Buch vertieft, als sie es hörte,
ein

Die atemberaubende Leichtigkeit, die einst jedem ihrer Schitte innewohnte, hatte sie verloren.
Schritte

Sie hörte ein Knacken, drehte den Kopf, und sah einem Mann aus dem Wald heraus spazieren.
einen

Ja, also mach dich mal an die Arbeit. Das lohnt sich für den Text, der hat einen guten Kern, es ist nur zuviel drumherum gepackt. Wenn du die überflüssigen Teile streichst, hätte die Geschichte auch eine schöne Symmetrie, mit diesem Hin und Her über den Atlantik, und den drei Begegnungen Junge/Mädchen, Junge/Letzer Mensch und Mädchen/Letzter Mensch, die sie jeweils schon in einem Traum vorhergesehen haben. Das ist auch so ein typisches Märchenelement, das gefiel mir ganz gut. :)

Grüße von Perdita

 

Hallo Perdita,

mega vielen Dank!!! Irgendwie hatte ich ja den klitzekleinen Verdacht, das Ding könnte vielleicht ein bisschen zu lang sein, doch jetzt wo das jemand offen ausspricht ... jetzt habe ich plötzlich das Gefühl, das Ding ist so unfassbar aufgebläht wie noch kein Märchen jemals ever. Ich gehe noch aüsführlicher auf deine Kritik ein, bin grad dabei martialisch zu kürzen. Danke!

MfG,

JuJu

 

Hallo JuJu, ich find schon, dass du was mit Märchen am Hut hast. Mitr gefällt die Geschichte. Mir gefallen die Figuren. Die passen zum Märchen und sind sehr liebenswert, zumindest der Junge und das Schmetterlingsmädchen. Bei dem letzten Mann bin ich mir noch nichts so ganz sicher. Immerhin ist er der Vielschichtigste.
Auch sprachlich hast du das Märchenmäßige drauf.
Aber perdita hat Recht, du musst noch mal ran. Ich bin auch über die Apokalypse gestolpert. Ich find das zwar eine sehr sehr schöne Idee, eine nachapokalyptische Welt mit einem Märchen zu kreuzen, aber ich hab mich auch gefragt, woher der Junge das alles weiß. Das kam mir einfach zu glatt. Und da würde ich ein bisschen nachbessern.
Zweiter Punkt: Es ist auch mir zu lang. Bei der Europadurchreise bin ich mal kurzfristig ausgestiegen. Seine Sehnsucht kannst du doch trotzdem genügend darstellen. Bin aber dran gebleiben, weil ich unbedingt wissen wollte, ob der Junge nun seinen Traum erfüllt kriegt und trotzdem zurückkehrt. Ein ganz schön gemeines Ende hast du dir da einfallen lassen. Eine romantische Seele nimmt dir das definitiv übel. Zum Glück bin ich ja keine. :D Und da kommt auch der dritte Punkt, weshalb die Geschichte für mich noch nicht richtig run ist: Ich hab mich gewundert, warum der letzte Mensch (okay, er heißt so, aber warum muss er dann immer gleich dafür sorgen?) den Jungen umbringt. Hab ich was überlesen? Offshore und Perdita scheint es klar zu sein. Mir nicht. Ich mein, bei dem Hund war das klar, dass und warum der Mann seinen Hund getötet hat. Aber warum den Jungen? Ich verstehe es wirklich nicht.

Du siehst die Welt von oben, Falke, und glaubst, alles zu sehen. Aber ich sehe die Welt von unten, und ich lebe immer noch.“
Das hier deutet an, dass es ums Überleben geht. Aber inwiefern denn?
Also an dieser Stelle ist in der Geschichte füt mich ein Bruch. Nichtsdestotrotz hab ich sie gerne gelesen.
Ich würde nur nicht im Titel deine Idee vorwegnehmen, Märchen mit dem Leben nach der Apokalypse zu vermengen.
Bis denn
Novak

 

Hallo JuJu

Ich mag Märchen, und ich finde, dass du in der Geschichte den richtigen Tonfall für ein Märchen triffst. Ich möchte auch ganz zu Anfang sagen, dass ich den Text gern gelesen habe und ihn über weite Teile auch für gelungen halte. Es gibt aber auch ein paar Dinge, die mich gestört haben.

Insgesamt fehlt mir der rote Faden in der Geschichte. Da sind viele schöne Ideen und gute Stellen drin, aber am Ende gibt es keinen runden Text für mich. Beispiel Schmetterlingsfrau: Sie umgibt etwas Mystisches, Geheimnisvolles, aber für mich ist die Figur nicht richtig greifbar. Zwar verkörpert sie einen Wunsch des Jungen - allerdings nicht seinen Größten -, aber was hat es mit dem Tanzen in den Träumen der Menschen auf sich? Ist sie eine Art Hoffnungsschimmer in der postapokalyptischen Welt? Aber müsste es dann nicht noch mehr Menschen geben?

„Du träumst nicht“, sagte sie. „Allerdings muss eine Verwechslung vorliegen. Ich bin nicht der Schmetterling aus deinem Traum.“
[...]
Sie schüttelte den Kopf. „Ich tanze nur für die, die mich kennen. Von den Träumen fremder Menschen halte ich mich grundsätzlich fern, schon mein Leben lang.“

Das ist ein schöner Dialog, und mir gefällt auch die Idee, ihn zu wiederholen. Aber impliziert das nicht, dass es noch weitere Menschen gibt auf der Welt? Ich dachte, am Ende kommt noch etwas, das mehr Licht auf die Schmetterlingsfrau wirft, aber sie müsste weder ein "Schmetterling" sein noch tanzen - das gibt dem Text nicht unbedingt einen Mehrwert, abgesehen davon, dass es natürlich schöner klingt. Oder ich hab es nicht gesehen.

Mir hat der Flug über Europa gefallen. Ich mag postapokalyptische Szenarien, und ich war auch gespannt, mehr von deinem Setting zu sehen. Allerdings verstehe ich nicht, warum er den Flug über den Atlantik antritt.

Und doch zog es in diesem Moment so stark in die Ferne wie nie zuvor. Er blickte in den Horizont und sah die Unendlichkeit. Laut einer Anzeige am Steuerbord war der Tank immer noch fast voll. Er konnte es schaffen. Sechs Stunden bloß, mehr nicht, dann würde er einen neuen Kontinenten zu Gesicht bekommen.

Das überzeugt mich nicht. Er hat ja noch seine Schmetterlingsfrau, und jetzt ist er ja in der Luft, warum schickst du ihn nach New York? Ich habe dann einige Parallelen zu "I am legend" gesehen - New York, letzter Mensch, der Hund. Und war da am Ende nicht auch was mit einem Schmetterling, mit der Vision von seiner Frau? Hm. Ist lange her dass ich den Film gesehen habe (Buch hab ich nicht gelesen), aber hattest du das beim Schreiben irgendwie im Hinterkopf? Habe nur noch auf die lichtscheuen Zombies gewartet :)

In New York finde ich, dass sich der Text etwas zieht. Mir gefällt das Bild mit dem Seil, welches sich immer mehr dehnt, und die Intention des Jungen kommt auch glaubhaft rüber - aber eben, umso mehr frage ich mich, warum hat er überhaupt diese Reise angetreten? Den Mann in New York finde ich weniger interessant, vielleicht fühlt sich deshalb der Teil auch für mich länger an als der Teil in Stockholm. Oder er passt nicht so in das Setting - wir haben den Falken, den Schmetterling und ... ja, wen eigentlich? Den letzten Mann auf Erden. Er hat mich am wenigsten interessiert, aber seine Funktion wird ja auch erst am Ende deutlich.

Ich mochte das böse Ende. Aber wie Novak auch ist mir nicht richtig klar geworden, warum er den Jungen tötet. Das einzige Motiv ist ja, er will die Schmetterlingsfrau für sich, weil er so einsam ist. Aber ich hatte auch das Gefühl, dass er den Falken echt mochte. Ich weiß nicht. Vielleicht finde ich das Motiv auch etwas banal.

Sehr schön wiederum fand ich den Dialog zum Schluss:

„Du kommst mir sehr bekannt vor“, sagte sie. „Mein Leben lang habe ich von einem fremden Mann geträumt, der mich fängt und in einen Käfig steckt. Bist du etwa dieser fremde Mann?“
„Ich ziehe es vor, mich aus fremden Träumen rauszuhalten. Du musst also von einem anderen Fremden geträumt haben. Gestatte mir dennoch die Frage, schöne Schmetterlingsfrau, bloß aus Interesse, was passiert, nachdem der fremde Mensch dich gefangen und in den Käfig gesteckt hat?“
„Ich bringe ihn dazu, ebenfalls in den Käfig kommen. Und dann schließe ich die Tür.“
„Und nachdem du die Tür zugemacht hast – tanzt du immer noch so schön?“
„Ich tanze weiter, so gut ich eben kann.“

Das mochte ich wieder.

Insgesamt, JuJu, wie gesagt, ich mochte den Text. Schön, dass du so etwas versucht hast, auch wenn es noch nicht ganz rund ist. Vielleicht sind die Kritikpunkte, die ich habe, auch etwas zu verkopft - also beim Lesen war ich voll im Text drin, aber anschließend hab ich begonnen, darüber nachzudenken - wer ist die Schmetterlingsfrau, warum tötet der Mann den Falken - natürlich darf man in einem Märchen nicht alles hinterfragen, aber es gibt solche Fragen und solche. Man fragt nicht, warum es eine Hexe gibt, die in einem Wald in einem Haus aus Lebkuchen lebt - das nimmt man ungefragt hin - aber man fragt, warum sie Kinder in Käfige sperrt. Das muss erklärt werden. So ähnlich ist es hier auch. Vielleicht darf ich nicht fragen, warum es diese Schmetterlingsfrau gibt und was ihre genaue Aufgabe ist (vor allem, weil der Text die letzte Frage eigentlich beantwortet, aber ich mit der Antwort nicht so ganz zufrieden bin) - aber ich darf fragen, warum der Falke nach New York fliegt, und da schwächelt der Text. Wenn es um die Motivation der Figuren geht. Dazu kommt die eine oder andere Länge, aber das ist subjektiv - für Perdita war es der Flug über Europa, für mich die Sequenz in New York, da darfst du jetzt entscheiden, wo du kürzt :)

Es ist ein schöner Text, JuJu, und wenn du drüber gegangen bist, werde ich ihn nochmal lesen.

Bis dahin, viele Grüße,
Schwups

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Perdita,

Der Junge kennt nicht nur die Namen sämtlicher Städte die er besucht, sondern sogar ihre Sehenswürdigkeiten und ihre Geschichte - und die Sehenswürdigkeiten scheinen auch alle noch da zu sein abgesehen vom Eifelturm. Gut, du erwähnst die Bibliothek, die es offenbar auch noch gibt, er könnte die Informationen aus Büchern gelernt haben. Aber trotzdem - eine zusammengebrochene Zivilisation stelle ich mir anders vor. Und wie gesagt - die ganze Europatour ist mir ohnehin zu viel.

Ich find das interessant, das merk ich immer wieder, irgendwie hat jeder so sein eigenes Bild der Postapokalypse bereits im Kopf. In einer Märchen-Kg kann ich dieses Bild auch nicht so schnell ändern es funktionieren halt keine Flugzeuge mehr und in den Städten ist niemand und so weiter.
Also für mich ... ich finds logisch, dass die Leute, wenn es noch Leute gibt, irgendwie wissen, was Paris und Berlin sind. Ich hab das jetzt eh alles gestrichen, weil es glaub wirklich zu lang ist, aber nur vom Prinzip her -die müssen sich ja bloß ne Landkarte anschauen. Warum sollte es keine Karten mehr geben? Warum keine Bücher? Warum sollten jemand so was vergessen? Also klar ... hier gibt es kein Zeitangabe in dem Text, aber es hat bestimmt auch keiner so schnell vergessen, dass Rom mal ein sehr wichtiger Ort war. Das ist glaub echt tief im Bewusstsein drin. "Berlin" und "Paris" und "New York" und so ... das sind wie die Mythen unserer Zeit, wie die Götter fast, da schwingt bei jedem so viel mit, egal ob man schon mal da war oder nicht.
Aber Märchen können aus meiner Sicht nur dann richtig gut funktionieren, wenn sie relativ kurz sind

Ja, da hast du glaub Recht. Ich hab jetzt auch echt viel gekürzt, der Europaflug und hier und da überall. So spontan finde ich auch, dass es jetzt viel besser funktioniert.

Ja, also mach dich mal an die Arbeit. Das lohnt sich für den Text, der hat einen guten Kern, es ist nur zuviel drumherum gepackt. Wenn du die überflüssigen Teile streichst, hätte die Geschichte auch eine schöne Symmetrie, mit diesem Hin und Her über den Atlantik, und den drei Begegnungen Junge/Mädchen, Junge/Letzer Mensch und Mädchen/Letzter Mensch, die sie jeweils schon in einem Traum vorhergesehen haben. Das ist auch so ein typisches Märchenelement, das gefiel mir ganz gut.

Ja, das freut mich. Das ist auch der eigentliche Kern der Geschichte und das richtige Märchenelement, das stimmt auf jeden Fall.

Echt nochmal vielen Dank!

Hallo Novak,


Ich find das zwar eine sehr sehr schöne Idee, eine nachapokalyptische Welt mit einem Märchen zu kreuzen, aber ich hab mich auch gefragt, woher der Junge das alles weiß

Ja, echt interessant. Also wie gesagt, für mich ist das logisch. Ich gehe vielleicht zu sehr ins Detail mit "Hudson" und so ... okay. Ist auch weg jetzt, aber so im Prinzip, mein postapokalyptischer Mensch ist irgendwie nicht so dumm. Das kann ein primitiver Märchenmensch ohne Bildung sein, aber halt trotzdem, theoretisch, mit unserem Wissenstand. Weil das Wissen ja noch "da" ist. Sogar, wenn man nicht direkt über sie verfügt, ist sie noch "da". So ist das doch auch mit unserem Wissen ein bisschen. Was weiß ich schon über China oder Quantenphysik? So wirklich? Kann ich etwas Detailliertes oder Richtiges darüber sagen? Und trotzdem habe ich irgendwie "Wissen" von China im Kopf. Irgendwie.


Und da kommt auch der dritte Punkt, weshalb die Geschichte für mich noch nicht richtig run ist: Ich hab mich gewundert, warum der letzte Mensch (okay, er heißt so, aber warum muss er dann immer gleich dafür sorgen?) den Jungen umbringt. Hab ich was überlesen? Offshore und Perdita scheint es klar zu sein. Mir nicht. Ich mein, bei dem Hund war das klar, dass und warum der Mann seinen Hund getötet hat. Aber warum den Jungen? Ich verstehe es wirklich nicht.

Ich will jetzt nicht selbst zu interpretieren anfangen, ich hab mir da auch Verschiedenes überlegt, aber die einfache Antwort, die einfach auf der Hand liegt, ist wohl: Weil er dann das Mädchen kriegt, das er haben will, und so glücklich bis ans Ende seiner Tage leben kann. Und vielleicht auch wegen seiner Vorgeschcihte.

Kann aber auch verstehen, wenn einen das im ersten Moment nicht einleuchten will. Irgendwie hängt das fast mit dem Menschenbild zusammen, das man so hat. Für mich ist das irgendwie auch so ein postapokalyptischer Moment. Im Grunde genommen, glaube ich, verschwindet "die Moral" viel schneller als das Wissen nach der Apokalypse.


. Nichtsdestotrotz hab ich sie gerne gelesen.
Ich würde nur nicht im Titel deine Idee vorwegnehmen, Märchen mit dem Leben nach der Apokalypse zu vermengen.

Das freut mich. Mit dem Titel war ich auch nicht so megazufrieden, aber ich wollte halt schnell "Postapokalypse" sagen, damit man nicht gleich verloren ist mit dem Setting.


Vielen Dank!


Hallo Schwups,

Ich mag Märchen, und ich finde, dass du in der Geschichte den richtigen Tonfall für ein Märchen triffst. Ich möchte auch ganz zu Anfang sagen, dass ich den Text gern gelesen habe und ihn über weite Teile auch für gelungen halte.

Freut mich sehr!


Aber impliziert das nicht, dass es noch weitere Menschen gibt auf der Welt?

Am Anfang gleich redet er auch gleich von seinem Dorf und den Leuten dort, die ihm sagen, dass er nicht fliegen kann. Also das war nicht so gedacht, dass der Junge und das Mädchen wie Adam und Eva sind. Es gibt auch andere, vielleicht ist das dann verwirrend mit dem "letzten Mensch", der sich so nennt und wohl der lezte in New York ist. Das ist natürlich auch eine Anspielung auf I am Legend mit dem Hund und so, ja.

Beispiel Schmetterlingsfrau: Sie umgibt etwas Mystisches, Geheimnisvolles, aber für mich ist die Figur nicht richtig greifbar. Zwar verkörpert sie einen Wunsch des Jungen - allerdings nicht seinen Größten -, aber was hat es mit dem Tanzen in den Träumen der Menschen auf sich?

Ja, du denkst jetzt sehr konkret. Also im Prinzip ist sie ein halt schönes Mädchen, das ihn "im Traum besucht", in seiner Fantasie, so wie das hübsche Mädchen eben tun, auch gerne tun. Sie ist ein Schmetterling, der irgendwie gefangen werden will und gleichzeitig Angst davor hat, so wie er halt ein Falke ist, der fliegen will.

Dass die Träume gleichzeitig auf fatalistische Weise irgendwie bindend sind und so - das ist ... ja, was Fataliistisches, war Märchenmäßiges, ohne irgendwie interpretieren zu wollen.

Das überzeugt mich nicht. Er hat ja noch seine Schmetterlingsfrau, und jetzt ist er ja in der Luft, warum schickst du ihn nach New York?

Kann ich auch verstehen, den Einwand, das ist irgendwie pathetisch ausgedrückt: "Er blickte in den Horizont und sah die Unendlichkeit", logisch ist das nicht, das stimmt, jetzt hat er alles erreicht, warum muss er jetzt auch noch nach New York? Aber ist das nicht was ganz Menschliches? Gehts nicht jedem Zocker irgendwann so, Wer Wird Millionär zieht seine ganze Spannung daraus, das steckt doch in jedem von uns drin, irgendwie will der Mensch immer mehr, immer weiter. Kaum hat man etwas erreicht, will man noch mehr. Klar könnte er jetzt einfach glücklich nach Hause fliegen, aber er will nach New York, er will ins Zentrum, er ist ein Falke. Ich verstehe deinen Einwand, aber mir leuchtet das schon ein, dass der Junge das wollen muss. Dass er irgendwie zu weit geht. Das ist keine echte Logik vielleicht, aber so Menschenlogik und Märchenlogik.

Super vielen Dank für die Kritik! Hatte kurz Angst, ich leb jetzt total in meiner eigenen Welt und drehe hier völlig Am Rad, aber wenn ihr ein bisschen was damit anfangen könnt, freut mich das sehr. Hab jetzt viel überarbeitet und sehr viel gekürzt, deine Europareise musste auch dran glauben, aber ich meine, es funktioniert besser so.

Vielen Dank!

MfG,

JuJu

 

„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein
tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüßte alle
Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so daß ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. … Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. … Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. …“, heißt es schon 1. Korinther, 13, und

hallo JuJu,
jetzt kommt auch noch Pfarrer Sommerauer mit dem Pfingstwort, der sich hierorts immer als irreligiöser Zwerg aufführt! Aber Liebe kann es nicht sein, die sich in einen Käfig sperren lässt!
Liebe hat nix mit Eigentum und Besitz zu tun, lässt dem Falken seine Freiheit wie dem Schmetterling.

Aber in diesem Versuch zu einem Märchen stolper ich gleich förmlich hinein und frag mich dann durchgängig, ob Du auf der Flucht seiest, denn so flüchtig hab ich Dich noch nie erlebt:

Es war einmal Junge, der ein Falke sein wollte
und behaupte, da fehle ein Wort (bevorzugt: ein unbestimmter Artikel).

Und hier schnappt die Fälle-Falle zu

Der Gedanke, sie könnten fliegen, sprengte jede Vorstellungskraft.
Außer die des Jungen.
„Außer“ verlangt nach dem Dativ … "außer der 'Vorstellungskraft' des ..."

Hier setztu nun versehentlich die Pluralendung

…, und der Jungen wusste, …

Und wieder fehlt ein Wort
Er drückte eine Brille mit großen, dunklen Gläsern auf die Nase, schlug den Kragen seiner Pilotenjacke hoch und gab Vollgas
Denn wem oder was drückt er die Brille auf die Nase? SICH!

Nun folgt, was sicherlich von andern schon entdeckt wurde

Er flog direkt über seinen Dorf, …
Dativ!

Er blickte in den Horizont und sah die Unendlichkeit.
Der Horizont ist genaugenommen die Linie, wo Himmel und Erde sich treffen. Kann man „in“ eine Linie sehen? Vielleicht erblickte er im Horizont die Unendlichkeit

In den nächsten Stunden, während der atlantische Ozean sich in all ihrer Eintönigkeit unter ihm ausbreitete, wurde der Junge immer wieder von Wellen der Melancholie ergriffen.
Geschlechtertausch des Ozeans, besser "in all seiner ..."
Im Landeanflug kamen die Reifen nicht heraus.
Sicherlich ist das Fahrwerk bereift, aber sind es nicht vollständige Räder?

Er schnallte sich an, zog eine Schwimmweste über und setzte auf den Fluss auf.
Zog er nicht bevor er sich anschnallte die Weste über?

…, viereckige Klotze, …
Klötze

Ihre Scheiben waren dreckig, und nirgends brannte Licht.
Das Komma wird ganz manierlich von der Konjunktion vertreten. Gelegentlich passiert Dir das auch zwischen Hauptsätzen. Nun gut, die sollen dann hervorgehoben werden. Aber alle?

… Schmetterlingsfrau, von ihrem rotem Haar und ihrem leichtem Gang, …
s. o.

…, wenn der Gesp[r]ächstoff alle war, …
„alle sein“ klingt sehr kindlich (okay, to be all gone gibt’s auch, dem käm aber hier näher, dass der Gesprächsstoff ausgegangen sei …) Ähnlich weiter unten
…, als unsere Essensvorräte alle waren, …

Gott! Was habe ich nicht gelitten in den letzten Jahren? Endlich ist es vorbei, und ich kann sie wieder in den Arm nehmen!“
Die Frage nach dem Leiden der letzten Jahre tut bei uns nur so, als wäre sie eine. In Wirklichkeit ist es ein Ausruf an eben den Gott, der da angerufen wird.

Gott hatte mich zu Einsamkeit verdammt und nun ließ er mich dahinsiechen. Ich flehte Ihn an, mich endlich zu töten.
Warum wird das erste „er“ klein, um dann mit dem Anflehen in der Höflichkeitsform zu enden?

Und zum Schluss kommentarlos

Zu lange hatte sie auf den Rückkehr ihres Falken gewartet.
Vllt. wird man durch die große Güte des unendlich WeltWeitengeWerbes betriebsblind beim Schreiben ...

Die Idee, darzustellen, dass die Liebe, wie sie schon die Alten definierten, mit der Begrenzung – und sei’s ein Käfig, in dem der Falke auf jeden Fall zugrunde gehen würde, oder der Ehe, die nix anderes als ein Vertrag ist, durch den Liebe garantiert nicht bewahrt wird, aber Besitzansprüche gewahrt bleiben sollen – keine Liebe mehr sei, ist an sich eine gute …

Gleichwohl ein schönes Restpfingsten vom

Friedel

 

Hallo Friedel,

Vielen Dank für die Kritik und die Fehlerliste, hab alles verbessert.

Die Idee, darzustellen, dass die Liebe, wie sie schon die Alten definierten, mit der Begrenzung – und sei’s ein Käfig, in dem der Falke auf jeden Fall zugrunde gehen würde, oder der Ehe, die nix anderes als ein Vertrag ist, durch den Liebe garantiert nicht bewahrt wird, aber Besitzansprüche gewahrt bleiben sollen – keine Liebe mehr sei, ist an sich eine gute …

Ich weiß gar nicht, ob das meine Intention war, interessant.

MfG,

JuJu

 

Keine Panik,

dear JuJu,

aber lass Dear das von einem Freund des ollen Samuel L. Clemens, der himself noch me and my monkeye gekannt hat, sagen: Je weniger eine eigene Intention getroffen wird, desto besser der Text!

It's oanlie Rocknroll, und wir leik it mehr oder weniger. Das Glühwürmchen hat nix mit seinem Leuchten zu tun

denk ich mal in aller Naivitäterätätä ...

friedel

 

Hallo Juju,

ich hab mir die gekürzte Version noch mal angesehen, und bin ganz stolz darauf, dass ich mit meiner ersten Kritik so recht hatte. :D

Also jetzt finde ich es richtig rund als Märchen. Und gleichzeitig ist es eine Art Märchen-Dekonstruktion. In einem präapokalyptischen, also einem normalen Märchen, müsste das ganze natürlich mit der Wiedervereinigung des Jungen mit seinem Schmetterlingsmädchen enden. Die Wagemutigen, die Visionäre, die ihren Träumen folgen und sich nicht davon beeinflussen lassen, was andere denken, haben in Märchen eigentlich immer recht.

Aber in postapokalyptischen Geschichten gelten andere Gesetze. Da gewinnen oft diejenigen, die ihre Menschlichkeit opfern, um überleben zu können. Diejenigen, die ihre langsameren Freunde zurücklassen, um die Zombies abzulenken ... oder halt ihren Hund aufessen.

Deshalb war das Ende für mich auch ganz logisch. Der letzte Mensch ist halt so einer, dem alle Skrupel abhanden gekommen sind. In New York hat er den Jungen gebraucht, wenn er nicht völlig allein sein wollte. Aber in Europa hätte er lieber das Mädchen, das heißt der Junge ist im Weg.

Die neue Version gefällt mir wirklich gut. :)

 

Hallo Perdita,


es freut mich echt, dass die Story dir gefällt und du dir solche Gedanken machst. Ich mein auch, dass sie so besser funktioniert, deine Kritik hat auf jeden Fall geholfen.

Vielen Dank nochmal!

MfG,

JuJu

 
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„Ich zôch mir einen valken mêre danne ein jâr.
dô ich in gezamete, als ich in wolte hân,
und ich im sîn gevidere mit golde wol bewant,
er huop sich ûf vil hôhe und floug in anderiu lant.

Sît sach ich den valken schône fliegen:
er fuorte an sînem fuoze sîdîne riemen,
und was im sîn gevidere alrôt guldîn.
got sende si zesamene, die geliep wellen gerne sîn!“
Des von Kürenberg*​


Was will der denn schon wieder hier, wirstu vielleicht denken,

JuJu,

und dann noch mit seinem vertrackten Mittelhochdeutsch! Dem sind aber die Namen Merlin und Freja sehr nahe, selbst wenn Dein Kunstmärchen ein umgekehrtes, negatives Neutopia ist.

Unter den 15 erhaltenen Liedern des Kürenbergers, des ältesten bekannten mhd. Minnesängers im 12. Jh., finden sich Verstöße gegen alle damals geltenden Regeln. Dass er derjenige ist, der als erster in der Strophe dichtet, die nach dem bekanntesten Liede, das in dem Ton niedergeschrieben wurde, dem Nibelungenlied, in seinem ersten Teil eine tragische Dreiecksgeschichte ist, muss uns hier weniger interessieren, als der Rollenwechsel, den der von Kürenberg gegen alle Standesregeln vollzieht: Er legt das Falkenlied einer Frau in den Mund und die Vortragende wird zur Werbenden. Was hat das Falkenlied nun mit Deinem Kunstmärchen zu tun: Der Falke des Kürenberger sucht, wie Dein Junge, die Freiheit (unter den fahrenden Rittern sicherlich keine Seltenheit, die sich an Ruhm, Beute und Ehre festmachen lässt). Aber die Freiheit, die sie suchen, ist keine, legen ihre Verantwortung gegen die Daheimgebliebenen ab für zweifelhaften Ruhm. Da klickst's bei mir zu Beginn der Geschichte im „größten Wunsch“,

[seinem größten] Wunsch …, auf die Welt hinabzuschauen …
Kurz: Er wünscht sich "on top of the world".

Nun gut, die Gedanken sind frei, aber selbst der begeisterte Flieger Reinhard Mey traute sich nur zu vermuten, dass die Freiheit über den Wolken grenzenlos sei. Denn was bedeutet es „auf die Welt hinab“ zu blicken? Die Scheidung oben und unten, wobei mir eine Strophe aus Lennon’s Working Class Hero einfällt

“There´s room at the top they´re telling you still
but first you must learn how to smile as you kill
if you want to be like the folks on the hill.”​

Und Der ein Falke sein wollte träumt von einer Schmetterlingsfrau, hat sich verliebt in dieser an sich öden/verödeten Welt.

Aber was unterscheidet die Frauenstimme des Kürenberger von der der Schmetterlingsfrau? Sie träumt, eingefangen zu werden und in einem – hoffentlich goldenen – Käfig zu kommen, um zu tanzen.

„Mein Leben lang habe ich von einem fremden Mann geträumt, der mich fängt und in einen Käfig steckt. …“
„Ich ziehe es vor, mich aus fremden Träumen rauszuhalten. Du musst also von einem anderen Fremden geträumt haben. Gestatte mir dennoch die Frage, schöne Schmetterlingsfrau, bloß aus Interesse, was passiert, nachdem der fremde Mensch dich gefangen und in den Käfig gesteckt hat?“
„Ich bringe ihn dazu, ebenfalls in den Käfig kommen. Und dann schließe ich die Tür.“
„Und nachdem du die Tür zugemacht hast – tanzt du immer noch so schön?“
„Ich tanze weiter, so gut ich eben kann.“
„Nun“, sagte Mann. „So schlimm hört sich das doch gar nicht an.“
„Könnte wohl schlimmer sein.“
„Oh ja“, sagte er, „das könnte es.“

Für mich ist es eine moderne Ode (ohne ö!) auf den gleichgeschalteten, modernen Menschen, der zur Belohnung fürs Wohlverhalten im scheinbar güldenen Käfig des Wohlstandes mit den Segnungen aus dem Stechpalmenwald und des Silizium Tales gesegnet wird und im Gleichschritt zum Shoppen unter seinesgleichen antritt. Vermüllt und ruiniert wird derweil ein fremder, ferner Kontinent. Bei Dir das selbsternannte Land der Freien, für uns die Wiege aller Homo sapiens.

Gruß

Friedel,
der sicherlich noch mal vorbeischaut, hat er doch beim jetzigen Durchgang vergessen, noch vorhandene Flusen vom Gewebe zu heben … Und - natürlich die Szenerie mit dem letzten Menschen noch bedenken muss.

* Übrigens hat Gottfried Keller die Strophen wider allen damaligen Zeitgeist in modernes Deutsch übertragen:


„Ich zog mir einen Falken
länger als ein Jahr,
Und da ich ihn gezähmet,
wie ich ihn wollte gar,
Und ich ihm sein Gefieder
mit Golde wohl umwand
Stieg hoch er in die Lüfte,
flog in ein anderes Land.

Seither sah ich den Falken
so schön und herrlich fliegen,
Auf goldrotem Gefieder
sah ich ihn sich wiegen,
Er führt’ an seinem Fuße
seidne Riemen fein:
Gott sende sie zusammen
die gerne treu sich möchten sein!“ –
Gottfried Keller​

 
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Hallo JuJu,

dieses Märchen hat mich schon beim ersten Lesen sehr beeindruckt - und traurig gemacht. Jetzt aber ist es wirklich rund, man fühlt sich mit sicherer Hand, ohne Umwege, durch die Ereignisse geführt. Die Figuren haben etwas Vertrautes und etwas Fremdes zugleich. Ich wünschte, ich könnte besser ausdrücken, woran das liegt, aber ich glaube, das ist es, was dem Märchen Tiefe gibt.

Eine einzige Stelle hat mich noch irritiert.

„Mein Mädchen …“
„Dein Mädchen hast du seit Jahren nicht mehr gesehen. Du hast sie verlassen, weil du fliegen wolltest. Damit musst du jetzt leben.

Ist er nicht gerade im Begriff ihn zu erschießen? :confused:

Ich glaube, dir ist da etwas ganz Besonderes gelungen.

Liebe Grüße, Chutney

 
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Es war einmal ein Junge, der ein Falke sein wollte. Sein größter Wunsch war es, auf die Welt hinabzuschauen, mit Wind unter den Flügeln und Freiheit im Sinn.

Wieder stolper ich über den ersten Satz, wie beim ersten Beitrag, aber nicht, weil was zu korrigieren wäre, sondern weil ich da eine Frage hab.

Was mag dieses unpersönliche Personalpronomen „es“ bedeuten, denn ich mag nicht glauben, dass Du es unbewusst (also infolge einer Institution, die der Dr. Freud benannt hat) eingesetzt hast,

JuJu,

ein unpersönliches Personalpronomen, das in der Genesis ein erstes Subjekt ist im „es werde …“ und es ward. Führt „es“ im ersten Satz (geradezu märchenhaft standardmäßig im „es war einmal“) die wichtigste Person ein (den Jungen), rückt es im zwoten aber an die Stelle des vermeintlichen „Objekts“ – vllt., weil Du nicht zwei Sätze mit dem gleichen Pronomen beginnen willst? – denn tatsächlich verlöre der Satz ohne „es“ nichts an seiner Aussage

Es war einmal ein Junge, der ein Falke sein wollte. Sein größter Wunsch war […], auf die Welt hinabzuschauen, mit Wind unter den Flügeln und Freiheit im Sinn.

Gleichwohl kann ich mir nicht vorstellen, dass Du ein an sich entbehrliches, noch so winziges Wort verwendest, um auf die vorherbezeichnete Person – den Jungen – zurückzuweisen (das erledigt ja schon das andere Pronomen).

Ich frag, weil hierorts allein in der Niederschrift, jedem Wort, jedem (Ab-)Satz, kurz: dem Text sich unser Bewusstsein ausdrückt, das natürlich auch vom eigenen Es beeinflusst wird.

Keine bange, jetzt wird nicht jedes Wort gewogen!, garantiert der

Friedel

Kaum eingestellt, kommt ein anderer Gedanke, denn es ist eigentlich eine "verkappte" Genitiv-Konstruktion, weil sich auch folgendes anböte

Es war einmal ein Junge, der ein Falke sein wollte. [Dessen] größter Wunsch war (es), auf die Welt hinabzuschauen, mit Wind unter den Flügeln und Freiheit im Sinn.

So, jetzt ist aber genug für heute, meint der

Friedel

 
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Okay, shame on me, es tut mir leid, Friedel und Chutney, irgendwie bin ich abgetaucht, als ihr kommentiert habt. Das mit der Genitiv-Konstruktion ist echt spannend, Friedel, dieses "es" im ersten Satz, ich glaub, das kommt aus dem Engischen bei mir, wobei das passt auch nicht so 100% passt, also ich weiß es nicht, aber dir fällt so was ja immer auf.

ür mich ist es eine moderne Ode (ohne ö!) auf den gleichgeschalteten, modernen Menschen, der zur Belohnung fürs Wohlverhalten im scheinbar güldenen Käfig des Wohlstandes mit den Segnungen aus dem Stechpalmenwald und des Silizium Tales gesegnet wird und im Gleichschritt zum Shoppen unter seinesgleichen antritt. Vermüllt und ruiniert wird derweil ein fremder, ferner Kontinent. Bei Dir das selbsternannte Land der Freien, für uns die Wiege aller Homo sapiens.

Das ist ne sehr interessante Interpretation.


Das Gedicht von Keller find ich auch cool. Vielen Dank Friedel!


Hallo Chutney,

Echt cool, dass die Geschichte für dich funktoniert! War ja bisschen was Neues für mich, freut mich echt! Vielen Dank.

MfG,

JuJu

 

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