Die Fremden
Die Fremden
Ein holperndes Herz mit hastigen Händen öffnete ihm die Tür zu ihrer Wohnung. Entgegen der drückenden Schwere, die ihren Brustkorb zu sprengen drohte schien sich die störrische Tür an diesem Tag mit schwungvoller Leichtigkeit aus dem Schloss heben zu lassen. Ganz, als belächelte sie, dass ihrer schwachen Gestalt dies sonst nur unter mühsamen Aufwand aller Kräfte gelang.
„Du bist es.“, begrüßte sie ihn, als wäre er nicht nur einer bewussten Verabredung gefolgt. Als seien sie sich reinem Zufall wegen nach einem einsamen Jahr wieder begegnet. Die Zeit war so schnell vergangen, wie sie immer verging. Eine leere Zeit, die sie beide in verschiedene Richtungen verformt und verbogen hatte, dass ihre Handlungen, Gesten und Gedanken an diesem Tag schattenhaft aneinander vorbei huschten.
Mit geschickten schnellen Bewegungen nahm er ihr noch in der Diele den Boden unter den Füßen. Erst in dem kühlen Raum mit den kahlen hohen Wänden, in dem sie zu schlafen gewohnt war, ließ er sie zurück auf das staubige Holz finden. Still blies der Wind dort durch die offenen Fenster. Sicher wollte er die beiden nicht stören, wie sie sich da im Bett unbeholfen wiederfanden, ohne sich zu finden. Die dünnen Vorhänge blähten sich auf und tränkten den Raum zaghaft mit milder Morgensonne.
Ihre Blicke trafen sich. Unsicher blieben sie aneinander haften. Unbeholfen verschränkten sie sich ineinander, ohne dabei aufgelöst in ihre Einzelteile ganz Eins zu werden. Für sie fühlten sich diese wenigen Sekunden unendlich endlich an. Kostbar und vergänglich.
Kurz zuvor hatten ihre scheuen Augen nur vorsichtig und zögernd seinen nackten Körper ertastet – seine breiten Schultern, seine schützenden Arme, seine starke Brust. Fehlte da nicht etwas? Hatte sich etwas verändert? Verbarg seine allzu darbietende körperliche Nacktheit nicht die Scham seiner Seele? Krampfhaft zuckend drängten ihre Augen danach hinter das Blau seiner Iris zu gelangen. Dort hatte sie früher seine Seele berühren können, wenn sie lachend einander festhielten oder er behutsam ihre Stirn küsste.
Sah sie diesmal nicht mehr in ein milchiges Grau? Undurchlässiger als die gläserne Farbe, die vor ihr nie etwas verborgen hätte? Nackte Angst ließ sie plötzlich verzweifeln. Sie fürchtete er würde ihr diesmal Vertrauen und Wahrheit vorenthalten.
Doch trägt nicht ein jeder, wie er an diesem Tag, täglich mit größter Sorgfalt das Wahre hinter seiner Maske versteckt? Schließlich kann sie ein treuer Freund sein - schützend vor den Gefahren, die gierig in der Liebe lauern. Versiegelt schlummert die Empfindsamkeit dahinter. Sie ruht eingesperrt und gekleidet in undurchdringlich lachenden Mienen, während ihr Inneres zu zerspringen, zu zerschmelzen, zu vergehen droht – vor Leidenschaft oder Kummer…
Der kahle Raum war jetzt von schwachem Licht erfüllt, das sorgsam die kalten Körper der beiden streichelte. Nackt saßen sie sich gegenüber, während sie lautlos zu fragen begann wer er war. War das wirklich er? Und warum wartete er neben ihr auf einen Moment, der sie sowieso im Stich lassen würde? War er sich dessen bewusst?
Gern hätte sie seine Seele mit ihren fordernden Blicken entblößt, so wie zuvor ihre dünnen Finger zitternd seine nackte Haut. Was wollte er? Was wollte sie?
„Einfach die Zeit zurückdrehen.“, denkt sie später, „Wir hätten zeitreisen können - wie wir da auf meinem knarrenden Bett verwundet warteten, dass sich unsere Seelen heilsam berührten, die doch so sehr einander glichen.“.
Stattdessen holte die Gegenwart das Vergangene ein und sorgte dafür, dass das Ungesagte ungesagt, die Körper starr und eisig blieben. Statisch formten ihre Zungen falsche Schläge. Falsche Laute verließen allzu bedacht die feuchten Lippen der beiden Fremden, als sie sich ohne Liebe liebten.