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Der Rabenvater
Seltsam, welche Momente sich einfach in ein Leben fressen, sich einen bequemen Platz aussuchen und nie wieder fortziehen. Dass sich ein solcher in einem meiner etlichen Spaziergänge mit Emily verbarg, hätte ich nicht erwartet.
Das Wetter zeigte sich von seiner Schokoladenseite. Luftig leichte weisse Schokolade mit Blaubeeren. Als ich die bucklige, alte Frau entdeckte, musste ich grinsen. Bei jedem ihrer Schritte schaukelte sie wie ein Stehaufmännchen und zog einen fetten Appenzeller Bless hinter sich her.
„Schau mal, die Raben.“ Emily zeigte mit dem Finger auf den Hund. „Schau mal wie sie dem Hund folgen.“
Erst jetzt bemerkte ich sie. In leichtem Abstand hinter dem Hund hüpfte eine Bande Raben umher. Es waren wohl sechs oder sieben. Ohne den Abstand zu verringern, folgten sie der Frau und pickten immer wieder etwas vom Boden auf. Die Frau schien das nicht zu kümmern. Sie schaukelte weiter.
Es ging nicht lange, bis wir sie eingeholt hatten.
„Ihr Hund hat aber ein paar lustige Freunde.“ Diesen Blick mochte ich schon immer an Emily. Sie zog die linke Augenbraue neckisch hoch und strahlte über das ganze Gesicht, als hätte sie den Schalk persönlich geschluckt.
Die Alte erschrak kurz, blieb stehen und drehte sich etwas ächzend um. „Was meinen Sie?“
Der Hund setzte sich hin und hechelte.
„Die Raben. Das ist ein herrliches Bild. Wie sie Ihnen und Ihrem Hund nachtrotten. Das sieht man nicht alle Tage.“
„Ah das. Ja, das ist immer so. Die sind immer da, wenn ich Gassi gehe. Wissen Sie …“, die Frau fing an der Vordertasche ihrer blumigen Küchenschürze herumzutasten und hielt uns kurz darauf einen kleinen Plastikbeutel entgegen. „Wissen Sie, ohne Leckerli bringe ich den Bärli nicht mehr aus dem Haus. Der ist zu dick, geht nicht mehr gerne raus. Und deshalb muss ich ihn mit den Leckerli etwas locken.“
„Klingt logisch“, sagte ich und dachte Klar, weil er zu fett zum Gehen ist, muss man ihn ja füttern.
Emily trat mich ins Schienbein. Mit einem Blick.
Bärli wuffte kurz und streckte seine Zunge noch weiter hinaus.
„Ja, ja, Bärli. Hier ist noch eins, du.“
Emily hakte nach. „Aber die Raben. Warum die Raben?“
„Ah ja, die Raben. Bärli sieht eben nicht mehr so gut, und deswegen findet er nicht mehr alle Leckerli, die ich ihm hinwerfe. Irgendwann haben die Raben das bemerkt, und seither begleiten sie uns.“ Die Alte erzählte das in einem Ton, als sei das ja nichts Besonderes, aber es war nicht zu übersehen, dass sie ein wenig stolz darauf war.
„So, Bärli, weiter jetzt.“ Die Alte zog beherrscht an der Leine. Bärli japste kurz. Mir schien, als habe er leise geknirscht, als er sich in Bewegung setzte.
„Alles Gute mit ihrem Kleinzoo.“ Wir überholten die Dame und Emily winkte nach. Sie warf mir nochmals diesen Blick zu. Der Blick, als wäre sie gerade mit der ganzen Welt im Einklang. Sie sah dann immer so furchtbar hübsch aus.
Das war vor zehneinhalb Jahren. Hätte ich vor sechs Jahren das mit dem Messer nicht gemacht, würde ich vielleicht heute noch mit Emily spazieren. Und mit Flo und Mia. Lass dich behandeln, sagte sie. Tu’s wenigstens für die Kinder. Sie versteht das nicht. Als Mann darfst du vielleicht ein Burnout haben, ja. Ein Burnout vielleicht, aber keine Depression. Ein Burnout kriegst du, wenn du zuviel geleistet hast. Eine Depression nur, wenn du ein Versager bist. Red mit mir. Wie willst du reden, wenn in dir alle Buchstaben einen dunklen, zähflüssigen, klebrigen Klumpen bilden. Ich greife in meine lederne Umhängetasche und krame eine Tüte Katzenfutter hervor. Das Futter habe ich von Sven. Der hat mir einfach eine Kiste voll Katzen- und Hundefutter vor die Türe gestellt, obwohl ich kein Haustier habe. Er meint es ja gut. Über mir kreist ein Rabe. Ich lege eine halbe Handvoll Futter auf die rote Bank neben mir und geh ein paar Schritte, bevor ich mich umsehe. Der Rabe landet auf dem dicken Ast der alten Eiche. Irgendwann wird er kommen und später auch seine Freunde mitnehmen. Ich bin einfach nur ausgerastet an diesem Abend. Es wäre mir auch lieber gewesen, ich hätte in diesem Moment nur einen nassen Teller in der Hand gehabt. Aber es war eben ein Messer. Die Gesichter der Kinder quälen mich. Ich blutete und mein halber Zeigefinger hing nur noch am Faden. Und Emily. Ich säe eine Handvoll Futter auf dem Weg hinter mir. Heute ist der Hügel dort so warm und goldig. Kaum zu ertragen. Soll ich sie einfach besuchen gehen? Flo ist vierzehn. Mia elf. Sie wollen mich nicht sehen. Emily auch nicht. Da ist wieder dieser Kerl mit seinem Fahrrad. Der dreht immer seine unsinnigen Runden hier. Warum wohl. Wann kommt man aus der Schule? Mit sechzehn, siebzehn? Jetzt ist er auf der Bank. Bring deine Freunde mit, du Vieh. Ich denke an Poe. Vielleicht liege ich irgendwann auf diesem Weg hier, mit ausgehöhlten Augen und einem breiten Lächeln im Gesicht.