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Satellit

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06.02.2002
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Satellit

Noch im Dunkeln packten sie zusammen; der anbrechende Tag war nicht mehr als ein schwaches Licht am kalten Horizont, als sie bereits unterwegs waren.
In den letzten Tagen hatte Routine eingesetzt, sie daran gewöhnt, stundenlang zu marschieren. Reine Notwendigkeit, durchgeführte Bewegung, gedankenlos, maschinengleich. Sie umgingen Hauptstraßen, Kreuzungen, Siedlungen; oder vielmehr: Menschen, über die sie nichts wussten.
Der Himmel war nahezu wolkenfrei, doch ein kühler Wind linderte die Hitze. Nach Mittag machten sie eine kurze Pause, kochten über einem kümmerlichen Feuer eine der letzten Konservensuppen, füllten ihre Flaschen an einem schlammigen Bachlauf und ruhten sogar für eine Weile aus, ohne viel Worte, den Horizont beobachtend. Später zogen einige Wolken auf, und am Nachmittag regnete es schwach für eine halbe Stunde.
Bei Dämmerung fanden sie ein verlassenes Haus, das abseits eines reglosen Dorfes stand; es schien lange nicht bewohnt zu sein. Durch die schmutzigen Fenster sahen sie Hausrat auf dem Fußboden liegen, doch obwohl die Tür aufgebrochen war, traten sie nicht ein, sondern legten ihre Schlafsäcke neben der Rückwand ins dürre Gras. Wenn er später daran zurückdachte, war er nicht sicher, aber erklärte es sich mit der Furcht vor dem Verlust zivilisatorischer Grundlagen - auch wenn er es nicht so ausgedrückt hätte. Dann wiederum war da eine unerklärbare Scheu. Und es kam ihm vor, als ob der erste Gedanke, das hohe Bild der Zivilisation, nur ein Schleier wäre für etwas, dass weit hinter den Worten in jedem läge.
Während der ersten Wache starrte er in die anbrechende Nacht. Er zog seine Jacke fester über die Schultern, als eine Brise ein Geräusch wie einen fernen Schrei herantrug. Aber er war sich nicht sicher, und egal wie angestrengt er lauschte, es blieb still. Das gleichmäßige Atmen seiner schlafenden Begleiter wirkte unverhältnismäßig laut. Ab und an spielte die Müdigkeit ihm einen Streich; er vernahm dann im Wind, der durch einen nahen Baum ging, das Geräusch eines Tieres oder eines sich anschleichenden, gesichtslosen Schreckens. Außer solchen kurzen Adrenalinschüben blieb er regungslos, kaum atmend, nahezu schlafend.
Die letzten Minuten bis elf zogen sich, doch er schaffte auch sie. Seine Glieder schmerzten, als er sich aufraffte, um Somar zu wecken. Nachdem er es endlich geschafft hatte und sicher war, dass Somar nicht sofort wieder einschlafen würde, fiel er schnell in einen tiefen Schlaf.
In seinem Traum war er Seemann auf einem rostigen Frachter voller Sand. Plötzlich verloren sie mitten auf See an Fahrt, und als sie sich über die Reling beugten, war das Meer um sie herum von einer Art Haut überzogen. Sie bewegte sich, als sei sie Teil eines großen Wesens, schüttelte das Schiff, als wolle es den Rumpf zerdrücken und sie in die Tiefe reißen. Der Gedanke versetzte ihn in Angst, als er plötzlich bemerkte, dass er nicht mehr schlief, aber das Schiff sich noch immer bewegte.
Er riss die Augen auf, sein Oberkörper schnellte hoch, aber da war kein Schiff mehr, nur der Mond, der alles mit schwachem Weiß beleuchtete, und ein leichtes Schaukeln. Jemand legte ihm die Hand auf die Schulter, es war Somar, er flüsterte: „Nur ein kleines Erdbeben. Keine Sorge“, doch während seine Stimme ruhig blieb, waren seine Augen ein großes Weiß.
Nach ein paar Sekunden war alles vorbei; die anderen waren nicht einmal aufgewacht. Eine Weile saß er noch da, beruhigte sich, spürte Hunger. Er lehnte sich zurück und sah, um sich abzulenken, zu den Sternen. Der Himmel war klar; trotz der Frische schwitzte er. Dann sah er eine schnelle Bewegung, wohl einen Satelliten, über sich, und dachte darüber nach, über die Einsamkeit von Satelliten. Darüber glitt er in einige wirre Traumszenen, in denen er verfolgt wurde. Er wachte wieder auf, es war noch vor Dämmerung, sah sich um und bemerkte, dass Somar verschwunden war.

 
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Ja, Paranova, dieser kurzen Geschichte ist es gelungen, jede Menge Bilder in meinem Kopf entstehen zu lassen. Und in Folge dieser Bilder auch jede Menge herzzusammenschnürende Gedanken. Auch wenn du nirgends erklärst, um was für Menschen es sich handelt, die sich da durch ein offenbar fremdes Land durchschlagen, wurde mir sehr schnell klar, dass du vermutlich von Flüchtlingen schreibst. Und das ist natürlich ein Thema, wo man schon ein verdammt seelenloser Dreckskerl sein muss, damit es einen nicht berührt. Insofern hast du nicht viel falsch gemacht, und mir gefällt besonders, dass du dieses dem Thema immanente Elend nirgends explizit erwähnst, es sozusagen nur zwischen den Zeilen anklingen, es nur durch die Stimmung, die du erzeugst, spürbar werden lässt
Ja, das ist schon ein sehr atmosphärischer Text, auch der Traum des Protagonisten passte da sehr gut rein.

Einzig der letzte Satz lässt mich etwas ratlos zurück:

und bemerkte, dass Somar verschwunden war.
Was ich daraus für Schlüsse ziehen soll, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Soll das irgendwie gleichnishaft dafür stehen, dass in Wahrheit jeder Mensch allein ist? Und ist der titelgebende Satellit, der da mutterseelenallein durchs All treibt, ebenso allegorisch zu verstehen?
Keine Ahnung.
Aber so oder so ist es in meinen Augen eine wirklich eindrückliche Geschichte.

Auch sprachlich fand ich sie überwiegend gut geschrieben. Aber eben nur überwiegend, leider nicht zur Gänze:

der heranbrechende [besser: anbrechende] Tag war nicht mehr als ein schwaches Licht am Ende eines kalten [Komma] schwarzen Horizonts,
Hm. Ist ein poetisches Bild irgendwie, aber darüber hinaus haut das für mich nicht recht hin. Ich nämlich verstehe unter Horizont eine quasi kreisförmige Linie um mich herum und die kann natürlich kein Ende haben. Keine Ahnung, was du damit meinst. Na ja, aber es klingt schon schön.

In den letzten Tagen hatte Routine eingesetzt, sie daran gewohnt, stundenlang zu marschieren.
gewöhnt

Der Himmel war nahezu wolkenfrei, doch ein kühler Wind linderte die Sonne.
Hm, auch nicht so toll. Vielleicht: … linderte die Hitze?

Später zogen einige Wolken auf, und am späten Nachmittag regnete es schwach für eine halbe Stunde.
Ohne dir konkrete Vorschläge machen zu können, rate ich dir zu einem Totalumbau dieses Satzes. Der klingt einfach nicht gut.

Bei Dämmerung fanden sie ein verlassenes Haus, das abseits eines reglosen Dorfes stand; es schien lange nicht bewohnt zu sein.
Bei Dämmerung? Klingt eigenartig.
Überhaupt gefiele mir der Satz so weit besser:
Als es dämmerte fanden sie ein verlassenes Haus, abseits eines reglosen Dorfes; es schien lange nicht bewohnt worden zu sein.

Wenn er später daran zurückdachte, war er nicht sicher, warum, aber erklärte es sich mit der Furcht vor dem Verlust zivilisatorischer Grundlagen –
warum klingt mir hier zu missverständlich. Es soll sich doch darauf beziehen, dass sie außerhalb des Hauses geschlafen haben, oder? Aber so, wie es jetzt dasteht, könnte es genauso gut heißen: ... er war sich nicht sicher, warum er daran zurückdachte.
So klänge es für mich eindeutiger:
Wenn er später daran zurückdachte, war er nicht sicher, warum sie das damals taten (bzw. getan hatten),

Dann wiederum war da eine unerklärbare Scheue.
Scheu

... nur ein Schleier wäre für etwas, was weit hinter den Worten in jedem läge.
etwas, das … liest sich einfach besser. (Weniger alliterativ :D)

Er zog gerade seine Jacke fester über die Schultern,
Wenn du hier schon ein Adverb verwenden willst, solltest du statt gerade das gleichbedeutende eben verwenden. Ich ertappte mich tatsächlich dabei, „die Jacke geradeziehen“ lesen zu wollen. (Ich persönlich würde die ganze Satzstellung ändern: Eben/ gerade als er die Jacke ... usw.)

Aber er war sich nicht sicher, und egal wie angestrengt er lauschte, blieb es still.
Auch da würde ich die Satzstellung ändern: … egal wie angestrengt er lauschte, es blieb still.

die Anderen waren nicht einmal aufgewacht.
anderen

Eine Weile saß er noch da, beruhigte sich, spürte Hunger aufsteigen.
Würde ich streichen.

Er wachte wieder auf, es war noch vor Dämmerung, sah sich um und bemerkte, dass Somar verschwunden war.
Schon wieder die artikellose Dämmerung. Also mir gefällt das nicht. Oder sagt man das bei euch (in Berlin) so?
Eventuell so: … noch dämmerte es nicht/noch hatte die Dämmerung nicht begonnen


Gute Geschichte, Paranova.


offshore

 

Salute offshore,

vielen Dank für Deine ebenso umfang- wie hilfreichen Anmerkungen. Insbesondere das "Ende des Horizonts" ist gut beobachtet - passt in Lyrik wohl besser als in Prosa.

Bei den meisten Anmerkungen habe ich mich im Zweifelsfall für Streichungen entschieden, lediglich die Angabe "bei Dämmerung" möchte ich in Schutz nehmen. Ähnlich, wie man sich bei Sonnenuntergang trifft, sollte dies eine verwendbare Formulierung sein, und zu meiner Beruhigung hat sich zumindest der Filmtitel "Einbruch bei Dämmerung" (BRD, 1988) gefunden, wo die Seite des Dudens nichts hergab. Und ein Vampirbuch, deren Autorin ein Faible für Quantenphysik haben soll... und den interessanten Begriff der "bürgerlichen Dämmerung" – laut Wikipedia vorhanden, solange das Lesen im Freien noch möglich ist. Aber ich schweife ab.

Solltest du etwas ratlos ob des Endes sein, ist die wohl eleganteste Lösung, dich an eine eng verwandte Geschichte namens "Horror vacui" zu verweisen - ob´s tatsächlich dem Verständnis dient (deine Anmerkungen zur Interpretation waren im Übrigen nicht von der Hand zu weisen) oder billige Werbung ist, musst du entscheiden. Obwohl jedoch mit ein paar Jahren Abstand geschrieben, sind sich beide Geschichten (ohne dass ich diese beabsichtigt hätte) mE sehr ähnlich.

...para

 

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