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Großstadtnächte

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05.07.2015
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Großstadtnächte

Sie kommt nach Hause. Verschwitzt. Glücklich. Sie war tanzen. Die Bässe rauschen noch in ihren Ohren. Die dunkle Wohnung empfängt sie still und leise. Es ist weit nach Mitternacht, doch sie kann jetzt nicht schlafen. Noch nicht. Das Glück pulsiert noch zu wach in ihren Adern. Kurzentschlossen tritt sie auf den Balkon, stützt die Hände auf das Geländer und atmet den Nachthimmel tief in sich ein.

Sie ist schlank, aber nicht sonderlich groß. Sie findet ihre Waden zu dick und ihr Kinn zu kantig. Aber sie ist sehr stolz auf ihre Haare, die ihr lang den Rücken herunterfließen und sie umspielen wie ein eigens entworfenes Kleid. Das Kleid, das sie trägt ist sehr kurz und setzt ihre Beine ins richtige Licht. Die Füße schmerzen vom Tanzen. Sie streift die Schuhe ab und stellt sich auf die Holzfliesen des Balkons. Genießt die Kälte an den Füßen.

Die Nacht ist nicht richtig dunkel, sondern schimmert im erleuchteten Blau der Großstädte. Über ihr kreuzt ein blinkendes Flugzeug den Himmel. Für einen Augenblick verfolgt sie es mit den Augen, träumt sich hinauf in die Kabine und hinein in das Gefühl der Urlaubsvorfreude. Dann schaudert sie, die nächtliche Kälte dringt in ihr Bewusstsein. Es ist schon spät, sie sollte schlafen gehen, doch woher immer diese Vernunft? Sie ist jung. Andere sind auch noch wach, zum Beispiel jemand im Büro gegenüber.

Das künstliche Licht aus dem gegenüberliegenden Bürogebäude stört ihren Dialog mit der Nacht. Sie wünscht sich nach Hause, in ihr Elternhaus. In der Straße, in der sie aufgewachsen ist, wurden nachts die Straßenlampen ausgeschaltet. Die Dunkelheit war wie eine dichte Decke, die sie sich über den Kopf ziehen konnte. Wo sie jetzt ist, gibt es keine schützende Decke aus Dunkelheit. Alles ist Licht. Oft ist es grell und schmerzt in den Augen.

Sie lehnt sich etwas vor und blinzelt. Nein, sie täuscht sich nicht. Drüben ist jemand. Ein Mann ist in das Büro gekommen, hat sich an den Schreibtisch gesetzt. Er hat einen Aktenordner in der Hand, mehrere liegen vor ihm. Den Kopf in die linke Hand gestützt, blättert er konzentriert und gleichzeitig unendlich müde. Die Neigung seines Halses ist ihr vertraut.

Sie überlegt, was sie tun könnte, damit er aufblickt, möchte spontan ein Banner entrollen auf dem steht: GEH NACH HAUSE! GEH LEBEN! Es ist Freitagabend, Samstagmorgen, du solltest nicht arbeiten müssen, niemand sollte arbeiten müssen.

Sie möchte ein Feuerwerk abbrennen, damit er aufblickt, damit er mit ihr tanzt, doch sie weiß, dass er sie auf dem dunklen Balkon gar nicht sehen kann. Sie jedoch kann ihn sehr gut erkennen. Seine müden Augen, die kleinen Falten um den Mund. Wenn sie sich anstrengt, sieht sie sogar den Schatten des Dreitagebarts, den er so gerne trägt. Sein sonst stets adrettes Hemd ist verknittert, die Krawatte hat er locker um den Hals gebunden. Er blättert und blättert. Was kann er nur suchen, mitten in der Nacht? Sicherlich wünscht er sich auch nach Hause. Wünscht sich, das künstliche Licht gegen eine weiche Decke tauschen zu dürfen. Wünscht sich jemanden, der die Dunkelheit mit ihm teilt. Doch wer wird ihm erlauben zu gehen, wenn nicht er selbst?

Ihre Zehen sind inzwischen ganz kalt. Sie stellt die Füße übereinander, im Versuch sich zu wärmen, doch natürlich hilft es nicht. Sie sollte wirklich vernünftig sein. Vermutlich wird sie sich erkälten, wenn sie noch länger im Kleid und barfuß auf dem Balkon steht, doch es ist ihr egal. Notfalls muss sie eben ein heißes Bad nehmen. In der Hausordnung steht, dass duschen und baden nach 23 Uhr verboten ist. Sie lächelt bei dem Gedanken, gegen diese Ordnung zu verstoßen.

Der Mann von gegenüber seufzt über seinen Aktenordnern. Er scheint nicht weiter zu kommen, sieht auf die Uhr und schüttelt resigniert den Kopf. Sie beobachtet ihn. Sieht ihm zu, wie er drei weitere Seiten umblättert und schürzt nachdenklich die Lippen.

Plötzlich geht sie einem Entschluss folgend in die Küche, nimmt ein Tablett aus dem Schrank und stellt zwei Gläser darauf. Wo ist denn nur der Wein? Eigentlich trinkt sie keinen Wein, es war ein Geburtstagsgeschenk. „Für besondere Anlässe.“ Jetzt ist ein besonderer Anlass gekommen.

Sie öffnet die Kommodenschublade und sucht mit tastenden Fingern nach dem Schlüssel. Er liegt ganz hinten, doch er ist noch da. Sie schlüpft in bequeme Schuhe und balanciert das Tablett mit den Gläsern und der Flasche Wein vorsichtig aus der Wohnung und hinüber zu ihm. Der kurze Moment auf dem Bürgersteig bringt sie zum Frösteln. Die Nacht ist kälter geworden, seit sie die Party verlassen hat. Lautlos schlüpft sie ins Gebäude. Der Schlüssel passt noch und der Sicherheitsbeamte ist nicht da. Vielleicht hätte er sie aufgehalten.

Die Bürotür des Mannes ist nur angelehnt. Sie geht vorsichtig hinein und tritt hinter ihn. Er sieht nicht auf. Sie tritt so nah an ihn heran, bis sie sein Parfüm riechen kann und legt ihm zärtlich eine Hand in den Nacken. Das Tablett hat sie irgendwo abgestellt. Er seufzt, als er ihre Finger spürt. „Ich habe gehofft, dass du kommst, wenn ich nur lang genug hier sitze“, murmelt er leise in den Ordner. Sie schließt lächelnd die Augen. Er kann nicht ohne sie sein, wie will er die ganze Arbeit denn schaffen? Ordner um Ordner und kein System. Doch er muss sie fragen. Sie darf sich ihm nicht aufdrängen.

Er dreht sich auf seinem Bürostuhl um. „Hilfst du mir?“ Ihre Hand ruht noch immer in seinem Nacken, aber die sanfte Berührung ist nebensächlich geworden, so sehr freut sie sich, dass er sie um Hilfe bittet. Sie nickt stumm und hofft, dass er aus ihrem Schweigen erkennt, wie glücklich sie jetzt ist. Sie rückt einen Stuhl heran. Gemeinsam blättern sie in den Ordnern. Durchsteigen das Chaos, beseitigen es. Die Papierberge werden kleiner. Als es hell wird, blickt er sie an. „Nora“, flüstert er. Mehr nicht. Doch dieses Wort genügt, sie weiß, was er ihr sagen will. Es ist sein Art, Dankbarkeit auszudrücken. Sie schenkt Wein nach. Ihre Lippen sind blau, ihre Zähne ebenfalls. Doch sie schämt sich nicht, zu lächeln. In diesem Moment ist sie schön. In seinen Augen sieht sie ihre Schönheit. In seinen Augen weiß sie, warum sie da ist. Dass sie richtig ist. Jetzt hier. Mit ihm. Sie beugt sich leicht vor und dann geschieht es. Er kommt ihr entgegen. Ihre Lippen treffen sich. Es ist ein vorsichtiger Kuss. Ein Kuss unter Komplizen der Nacht, doch sie weiß, dass sie diesen Moment bis in den nächsten Tag retten kann, wenn sie nur jetzt die Augen geschlossen lässt. Er streicht ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Sie schmeckt den Wein und ihn und sich. Sie ist glücklich. „Komm“, flüstert er an ihrem Ohr. Er zieht sie mit sich, kennt den Weg zu ihr. War schon oft dort. Der Sicherheitsbeamte nickt grüßend. Er kümmert sich nicht um die Geschichten, er bewacht das Gebäude. Leichtfüßig laufen sie nach oben. Sie findet fast das Schlüsselloch nicht. Er lächelt geduldig und drückt ihre Hand. Dann endlich sind sie in ihrer Wohnung. Er schaut zum Büro hinüber. Die Fenster liegen nun im Dunkeln. Hinter dem Gebäude taucht die Morgenröte den Himmel in zauberhaftes Licht. Sie mag das Rot, das den neuen Tag ankündigt. Hoffnungsvolle 24 Stunden, die vor ihnen liegen. Der Sonnenaufgang spiegelt sich in seinen Augen. Wieder lächelt er sie an. Auch seine Lippen sind blau. Er zieht sanft an ihrem Arm und in einem anmutigen Tanz finden sie unter die weiche Decke.

Während vor den Fenstern der Tag beginnt, schläft sie, den Kopf auf seine Brust gebettet, lächelnd ein.

Die Klingel schrillt sie mittags aus dem Bett. Ihre Freundin steht vor der Tür. „Um Gottes Willen, wie siehst du denn aus? Hast du es gestern nicht mehr geschafft, dich abzuschminken?“ Sie schiebt sie beiseite und tritt in die Wohnung. „Hast du bist jetzt geschlafen? Wir sind doch zum Einkaufen verabredet.“ Sie muss nicht extra betonen, dass die Frage ein Vorwurf ist. Ihre Absätze hämmern über das Parkett. Das Holz ist recht weich. Noch ein Schritt und sie könnte Spuren hinterlassen. Sie stößt mit dem Fuß an die leere Weinflasche, sieht das Tablett mit den Gläsern auf dem Tisch. „Hast du etwa getrunken? Allein?“ Die hochgezogenen Augenbrauen sprechen Bände. „Du hast versprochen, dass du das nicht mehr machst.“

Nora fasst sich an den Kopf. Er ist schwer. Aber sie war nicht allein. „Ich habe mit dem Mann von gegenüber getrunken“, murmelt sie leise.

„Mit wem?“ Die Augenbrauen hüpfen voll Verwunderung über die Stirn.

„Er …“ Sie macht eine flatternde Geste Richtung Bürogebäude. Die Freundin wendet den Kopf und schaut in die falsche Richtung. Nora seufzt und hält sich die Stirn. Ihre Zunge ist so schwer. „Komm, ich zeig ihn dir.“ Sie zieht die Freundin auf den Balkon. „Da drüben hat er gegessen.“

„Wo? – Da? In diesem Büro?“

Sie nickt, doch weil es weh tut, hört sie schnell wieder auf. „Ja.“

„Gestern Abend?“

„Ja. Als ich nach Hause kam.“

„Von der Party?“

„Ja.“ Wohin führt dieses Gespräch?

„Heute Nacht. Da, in diesem Büro?“

Sie versteht das Erstaunen der Freundin nicht. „Ich habe ihm geholfen. Mit den Ordnern. Er kann das doch nicht allein. Er verliert so schnell den Überblick.“

„Nora“, die Freundin fasst sie fest an den Schultern, „das kann nicht sein. Mitten in der Nacht arbeitet dort niemand.“

Unwillig schüttelt sie die Hände ab. Was wusste die schon von den Arbeitszeiten? „Natürlich. Ich habe ihn gesehen. Wir haben Wein getrunken.“ Die Freundin dreht sich nach den Gläsern um. Es sind zwei. Sie kann nicht sagen, ob beide benutzt wurden.

Sie stehen eine Weile schweigend auf dem Balkon.

Dann fällt es Nora ein: „Er hat ja hier übernachtet. Mit mir.“

„Ein fremder Mann von gegenüber hat bei dir übernachtet?“

„Aber nein, was redest du denn? Ich kenne ihn natürlich.“ Sie merkt, dass ihr übel ist. Sie hätte nicht so viel Wein trinken sollen. Was will die Freundin von ihr? Darf sie nicht einmal tanzen und glücklich sein und sich heimlich mit dem Mann von gegenüber treffen? Seinen anmutig gebeugten Hals berühren, seine weinblauen Lippen küssen? Darf sie nie glücklich sein?

Dann sagt die Freundin: „Nora, wenn du es nicht aushalten kannst, gegenüber von deinem alten Büro zu wohnen – du kannst auch gerne zu mir kommen. Vielleicht bis du einen neuen Job gefunden hast. Du hast das Volontariat doch gut abgeschlossen. Du findest sicher bald was.“

Sie lehnt sich über das Geländer und schaut auf die Straße. Sie ist leer wie jeden Samstag. Die hektische Betriebsamkeit der Woche scheint sich mit den Menschen auszuruhen, nur um dann am Montag mit neuer Gewalt zurückzukommen. Die Stadt hat einen Rhythmus, an dem sie nicht mehr teilhaben darf. Wenn ihr Kopf doch nur nicht so schmerzen würde. „Komm, wir gehen rein“, sagt die Freundin, die plötzlich Angst hat. Doch sie löst die Hände nicht vom Balkongeländer. Das Licht blendet sie.

 

Hey kratzende feder

Ich finde das richtig gut! Ich habe mich mitgenommen gefühlt, du hast mich regelrecht in das Szenario hineingezogen.
Auch die Stimmung finde ich - erzählerisch, toll eingefangen. Die Figuren wirken echt. Besonders auch die Freundin am Ende: Mit einfachen Mitteln, hast du ihr Leben eingehaucht und sie nahbar gemacht.

„Ja.“ Wohin führt dieses Gespräch?
Das passt nicht so herein. Wolltest du, dass die Prot. das denkt? Das sieht komisch aus, fällt aus der Reihe und wirkt fehl am Platz. mMn

In der Hausordnung steht, dass duschen und baden nach 23 Uhr verboten ist.
Also, das hat jetzt nichts mit der Geschichte zu tun: Das ist doch typisch deutsch oder? Hatte mal eine Wohnung, da war das nach 22 Uhr nicht erlaubt und da hatte sich dann tatsächlich jemand - natürlich anonym, beim Mieter beschwert, als ich mal Mitternacht duschen war. Das ist mir nur gerade eingefallen. :D

Er streicht ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Sie schmeckt den Wein und ihn und sich.
Puh, das ist wirklich wunderschön!


Dieser kleine Twist am Ende fand ich gelungen. Zu erst dachte ich, dir geht jetzt erzählerisch zum Ende hin ein wenig die Puste aus, aber nein. Das Ende ist ein wundervoller Kontrast zum Beginn und stimmt so wunderbar nachdenklich, das es perfekt zur Prot. passt.
Zeigt auch schön die Illusion der Nacht, der man sich oft leicht in die Arme schmeißt, doch der Morgen kommt, und mit ihm die grausame Erkenntnis, das alles doch nur Wunschdenken - eines verirrten Geistes gewesen ist.

Die Stadt hat einen Rhythmus, an dem sie nicht mehr teilhaben darf.

Vielleicht werde ich später nochmal detaillierter auf manche Stelle eingehen. Doch für den Moment, hey ich fand das geil.

So, noch ein herzliches Willkommen und einen schönen Sonntag wünsche ich dir! :)

Lieben Gruß
Simba

 

Hallo kratzende feder,

mir hat deine Geschichte gut gefallen! Richtig schön geschrieben! Waren ein paar Sätze dabei, die ich echt cool fand, zB den hier

Sie überlegt, was sie tun könnte, damit er aufblickt, möchte spontan ein Banner entrollen auf dem steht: GEH NACH HAUSE! GEH LEBEN!

Die äußerliche Beschreibung der Prot. am Anfang (vor dem Satz
Die Füße schmerzen vom Tanzen
) stört mich ein bisschen, weil ich sie irgendwie überflüssig finde. Aber das ist nur eine Kleinigkeit.

Ich bin gerade etwas erschlagen von der Hitze, deswegen nur ein ganz kurzer Kommentar von mir. :)

Liebe Grüße
Tintenfisch

 

hallo kratzende feder und willkommen

Zu erst mal: Ich finde die Geschichte vom Szenario und der Idee her gut. Eine Frau, die den Verlust ihres ehemaligen Arbeitsplatzes so schlecht verarbeitet, dass sie sich ein Sexabenteuer mit einem Angestellten einbildet. Sehr schön.

Was mir weniger gut gefallen hat, war die Sprache. Da sind mir persönlich viel zu viele abstrakte Dinge drin, die nicht gezeigt wurden.

Den Kopf in die linke Hand gestützt, blättert er konzentriert und gleichzeitig unendlich müde.
Woran sieht die Protagonistin, dass er konzentriert und müde ist?
Das Kleid, das sie trägt ist sehr kurz und setzt ihre Beine ins richtige Licht.
Was ist das richtige Licht? Sehen sie dadurch länger aus? Oder dünner?
In diesem Moment ist sie schön.
Ob sie schön ist, oder nicht, solltest du in diesem Fall dem Leser überlassen. Wieso ist sie schön? Nur weil du es sagst? Was ist an ihr schön? Ihr Lächeln, ihre Augen, oder ... ?

Von diesen Stellen gibts noch einige mehr, die ich jetzt nicht alle heraussuchen möchte. Du wirst schon wissen was ich meine :thumbsup:.


Und noch was:

Ihre Zehen sind inzwischen ganz kalt. Sie stellt die Füße übereinander, im Versuch sich zu wärmen, doch natürlich hilft es nicht. Sie sollte wirklich vernünftig sein. Vermutlich wird sie sich erkälten, wenn sie noch länger im Kleid und barfuß auf dem Balkon steht, doch es ist ihr egal. Notfalls muss sie eben ein heißes Bad nehmen.
Solche kleinen Füllwörter scheinst du auch recht gerne zu haben. Die sind ziemlich überflüssig und bringen die Geschichte keinen Meter weiter. Ich würde die Finger davon lassen, es sei denn es geht überhaupt nicht anders, was fast nie der Fall ist.

Ansonsten, wie gesagt, nette Geschichte. Durchaus ausbaufähig, aber dafür, dass es deine erste ist, finde ich sie nicht schlecht.

Schönen Abend noch,
zash

 

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