Heimspiel
Ein langer Pfiff durchdringt den Lärm von hunderten Menschen. Abseits? Faul? Oder doch der erlösende Abpfiff? Weiß rote Silhouetten ziehen an meinem Auge vorbei, während der ICE jaulend Fahrt aufnimmt. In den getönten Scheiben spiegelt sich meine Fanausrüstung, in der ich nach der herben Niederlage lächerlich aussehe. Neben mir steht ein junger Mann, vielleicht Mitte 20 und blickt hastig und suchend in den immer schneller werdenden Zug. Erleichtert und gequält zugleich scheint er gefunden zu haben wonach er gesucht hat und starrt gebannt in die Fenster. Eine blonde Frau, ungefähr im gleichen Alter wie der Mann neben mir, rennt den Gang im Zug entlang, sodass sie stets auf Augenhöhe bleiben. Immer schneller muss sie rennen, Gepäckstücken und Fahrgästen ausweichend, bis der Blickkontakt und damit der hinausgezögerte Abschied abrupt durch das Bordbistro gestoppt werden und die Frau hinter Metall verschwindet. Ein Windzug peitscht mir ins Gesicht als „Reutlingen“ den Bahnhof verlässt und mich mit traurigen, roten Augen anstarrt, bis er um eine Biegung vollends verschwunden ist. Der Mann steht immer noch neben mir, Tränen laufen ihn die Wangen runter und der Wind aus Bier- und Kaffeeduft können sie nicht trocknen.
Die computergesteuerte Ansage des Bahnhofes kündigt meinen einfahrenden Zug an. Der Mann seufzt, dreht sich um und verlässt den Bahnsteig, als sich immer mehr Fans meines Vereins an die Nähe der Bahnsteinkante tummeln, um einen Sitzplatz zu ergattern. Ich halte mich dezent zurück. Quietschend kommt der Regionalexpress zum Stehen. Passagiere versuchen durch die Massen den Zug zu verlassen. Dann plötzlich schreie. Menschen rennen umher und fallen sich in den Arm, wieder Tränen, Koffer fallen um, dann lachen. Ich steige in den überfüllten Zug, ein Lächeln auf dem Gesicht. Freud und Leid liegen doch so dicht beieinander, sei es im Stadion oder am Bahnhof. Und steht man mal auf der Leidensseite, so gibt es immer ein Widersehen. Oder ein Rückspiel. Ein langer Pfiff durchdringt den Lärm. Ob Anstoß oder Abfahrt, wer weiß das schon.