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Nur Nachbarn?

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26.06.2015
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Nur Nachbarn?

Nur Nachbarn?

"Das glaubt ihr doch nicht im Ernst, dass ich hier leben möchte", hörte ich durch mein geschlossenes Küchenfenster. Als ich aus dem Fenster sah, erblickte ich ein Auto. An der hinteren Seitentür gelehnt, stand ein junges Mädchen mit wütendem Gesichtsausdruck. In der linken Hand hielt sie ein Smart-Phone, mit dem sie pausenlos beschäftigt war neue Nachrichten einzugeben, während sie mit ihren Eltern sprach. " Nun lass uns das Haus und den Garten doch erstmal in Ruhe ansehen, bevor du hier so rumschreist, das hören ja sämtliche Nachbarn. Die bekommen ja gleich einen schönen Eindruck von uns". Ich trat unwillkürlich einen Schritt vom Fenster weg. Hatten die mich gesehen?

"Ich würde vorschlagen, wir gehen jetzt erstmal ins Haus, sehen uns schon mal das Haus von innen an. Die Maklerin wird bestimmt auch gleich kommen. Sie hatte zwei Uhr gesagt, das ist ja schon bald. So Steffen, komm mit, oder bist du nicht neugierig? Vielleicht wohnen wir ja bald hier".

Also wieder neue Interessenten. Ich konnte sie gar nicht mehr zählen. So viele waren es inzwischen. So viele unterschiedliche. Meine Gedanken gingen zurück zu der Zeit, wo wir das Nachbarhaus in Augenschein nahmen, um es eventuell zu kaufen. Hatte meine Nachbarin da auch am Fenster gestanden und geschaut, was da für Leute kamen ? Über Nachbarschaft hatten wir uns keine Gedanken gemacht, wir hatten uns in das Haus verliebt und welche Möglichkeiten es uns bot. Kinder hatten wir zu dem Zeitpunkt keine und waren auch nicht geplant.

"Micha? Das Haus ist ja ganz schön, aber ein wenig klein, finde ich". Nach einer ersten Besichtigung durch alle Räume konnte ich mir schon vorstellen hier zu leben, aber ... "Mensch Karin, hier kann man doch leicht noch ein Stück anbauen, bei der Größe des Grundstücks. So hatte ich mir unser Zuhause vorgestellt". Wir kauften das Haus und ich lernte meine Nachbarn kennen. Meine nächste Nachbarin hieß Else. Sie kam aus Ostpreußen, mit ihrem Mann war sie damals geflohen und hatten hier eine neue Heimat gefunden. Wir fanden nicht so schnell zu einander Kontakt, aber als wir dann Lars, unseren Sohn bekamen, ergaben sich viele Sachen wie von selbst. Für ihn war Else seine dritte Oma.

Wie selbstverständlich verkündete er abends " Ich gehe zu Oma Else, Pommes und Würstchen essen".
Wir ließen ihn gewähren und Oma Else wurde Bestandteil unserer Familie.

Ein Auto fuhr auf das Nachbargrundstück. Die Maklerin. Sie ging ins Haus und drehte sich nochmal um, bevor sie aus meinem Gesichtsfeld verschwand, denn ich stand wieder am Küchenfenster und beobachtete das ganze Geschehen.
Mein Herz klopfte. Ich wollte mich über einen Käufer freuen, damit wieder Leben einzog in das Haus von Else, aber fremde Menschen würden das Haus in Beschlag nehmen, es wäre nicht mehr Elses Haus. Soviele Jahre hatten wir nebeneinander gewohnt. In den Jahren wurden wir so vertraut miteinander. Wir halfen uns gegenseitig und sie hatte soviel zu erzählen, diese bescheidene alte Dame.
"Else ? Bist du da?" Ich hatte zweimal laut geklopft, bevor ich zur Haustür eintrat und nach ihr rief. "Bin in der Stube Karin. Hast du endlich Feierabend? Komm man schnell an den Ofen. Heute ist es ordentlich kalt draußen". Und da lag sie eingehüllt in einer Wolldecke auf dem Sofa zusammen mit ihrer Katze. Der Kachelofen strahlte eine kuschelige Wärme aus und in mir machte sich ein Wohlgefühl breit. Unvergesslich. Ihre braunen Augen strahlten mich an , sie freute sich immer mich zu sehen. Manchmal hatte ich das Gefühl, als wenn sie mich wie eine Tochter ansah und nicht als ihre Nachbarin. Ich setzte mich zu ihr und sie erzählte mir von früher. Das tat sie oft. Wie sie als junges Mädchen auf einem großen Gutshaus in der Küche als Küchenmagd arbeiten musste. Weit weg von zu Hause und ihr Heimweh war groß. "Was hab ich nur geweint und wenn ich endlich einen freien Tag hatte und heim zu meiner Mutter konnte, hat sie immer zu mir gesagt "Else, meine Else, was bist du bloß dünn, geben sie dir nicht genug zu essen?", und ich wäre am liebsten gar nicht wieder zurückgefahren. Aber ich musste ja. Heute ist das anders. Da braucht man sowas nicht. Aber damals. Und dann, das werde ich nie vergessen. Ich war ja nur die Küchenhilfe, aber dann kam der Gutsbesitzer eines Tages zu mir und sagte " Else, ab morgen bist du meine Köchin und damit du weißt, dass das mein Ernst ist, gebe ich dir schon mal den Schlüssel für die Vorratskammer. " Erst in ihrer Kammer fing sie an zu weinen und wäre am liebsten weggelaufen. Aber das konnte sie nicht. "Ach Karin, das war eine schwere Zeit. Was habe ich es doch nur gut jetzt." Ich stimmte ihr zu und war immer gerührt, wie bescheiden ihr Denken war. Sie sah mich dann mit traurigen Augen an, als wenn es erst gestern passiert war. Daneben erschienen mir meine Alltagsprobleme nicht wirklich wichtig zu sein, bei dem Gedanken, was Else in ihrem Leben aushalten musste. " Ich habe noch ein paar Apfelringe, die habe ich gestern erst gebacken und dazu koche ich uns einen schönen Kakao, " sagte Else und mit Schwung wurde die Wolldecke zur Seite geworfen und der kurze Moment zurück in Elses Vergangenheit beiseite geschoben. Sie wollte dann nicht weiter darüber reden und ich verstand es . Und doch hatte ich dann immer das Gefühl, dass ich ein Stück in ihre Seele schauen durfte. Einen Augenblick sehen durfte wie sie damals gefühlt hatte. Als sie dann aus der Küche kam , waren wir wieder in der Gegenwart angekommen.

Es schepperte und ich war wieder in der Wirklichkeit. Irgendetwas war zu Bruch gegangen. Ich konnte nicht sehen was, aber auf das Scheppern folgte ein lautstarker Dialog.

Und wieder kehrten meine Gedanken an die Zeit zurück mit Else. Es war ein heißer Sommer. Kein Windhauch regte sich und keiner unserer Nachbarn waren zu sehen, als ich mit Lars Mittags nach Feierabend auf unser Grundstück fuhr. Bis auf Else. Sie mähte ihren Rasen, in der Glutsonne. Die Rasenfläche war groß und wahrscheinlich hatte sie wie immer keine Zeit. Sie bekam gar nicht mit, dass wir nach Hause kamen, so vertieft war sie in ihre Tätigkeit. Wie immer trug sie einen Rock und ihre Bluse war vollständig aufgeknöpft. Der Rasenmäher hatte einiges auszuhalten, denn ihr Tempo war schon weltrekordverdächtig. Immer war sie schnell gewesen, denn mit vier Kindern und einem Mann, der versehrt aus dem Krieg zurückgekommen war, hatte man nicht viel Zeit.
Doch kurze Zeit später. Ich war gerade dabei unser Essen aufzuwärmen, als sie ins Haus stürmte. Einmal Klopfen und sie war drinnen. Unsere Hunde kannten ihre Schritte und schlugen nicht an, wenn sie auf einmal die Tür aufriss. " Stell dir vor Karin, gestern beim Bingo," und ihre Augen leuchteten, " ich habe richtig gut gewonnen. Die haben mich alle angesehen, als ich Bingo rufen konnte und ich habe mich so gefreut. So viel Geld, nun kann ich meinen achtzigsten Geburtstag doch in der Wirtschaft feiern. Was für eine Freude." Ich freute mich mit ihr und dachte bei mir, warum gönnst du dir nichts von dem Geld? Etwas, was nur für dich ist. Aber gesagt habe ich das nicht. Sie saß da und konnte es immer noch nicht fassen mit dem Bingo-Gewinn und ihre Hände griffen nach ihrem Taschentuch, um ihre Tränen wegzuwischen, die sich ihren Weg bahnten. Ich nahm sie in den Arm und zusammen machten wir dann die ersten Pläne für ihren Geburtstag.

Meine Gedanken machten einen Sprung in ein paar Jahre später. Mein Mann hatte mich von heute auf morgen verlassen. Ich war todunglücklich und wer war immer an meiner Seite ? Else. Sie sagte immer " Karin , deine Augen. Sie sehen so traurig aus. " Was sollte ich daraufhin sagen, ich war ja traurig. Jeden Tag kam sie rüber und wollte wissen, ob es etwas Neues zu berichten gibt. Als ich von einem Treffen zwischen meinem Mann und mir dann erzählte, welches am Abend wäre, gab sie mir den Tipp, ich sollte ihn in beim Bett locken. Ich glaubte, mich verhört zu haben. Meine alte Nachbarin und unterbreitete mir solche Vorschläge. Wenn wir nicht so ein vertrautes Verhältnis gehabt hätten, hätte sie das niemals gesagt. Sie war mir näher, als sonst jemand in der Zeit. Werde ich nie vergessen. Bei ihr konnte ich loslassen, einfach nur ich sein. Nicht die Starke, die alles schafft und alles wegsteckt, nur ich.
Schleichend kamen dann die Altersbeschwerden, sie wurde vergesslicher, das Geschirr wurde nicht mehr so sauber, das Rasen mähen fiel ihr schwerer und wir sprachen über den Tod. " Sterben ist nicht schlimm, Karin, dann bin ich wieder bei meiner Mutter. Ich möchte nur nicht leiden. " Mir kamen die Tränen dabei, aber Else tröstete mich. Sie erzählte mir, wie sie beerdigt werden wollte. "Ich möchte keine Grabstelle, die gepflegt werden muss, meine Kinder wohnen alle woanders und ich möchte nicht, dass jemand Arbeit davon hat. Nein, begrabt mich ohne Stein . Ich will das so." Else sagte mir das ohne Empfindung. Für sie eine ganz klare Sache, völlig emotionslos und sie meinte es so. Für Else gab es nie ein vielleicht, was wäre wenn, oder? " Und wenn du nicht mehr alleine leben kannst, Else ?", fragte ich sie. "Meine Tochter möchte, dass ich zu ihr ziehe, aber ich kenn da niemanden, was soll ich denn da?" Ich verstand sie gut, sie hatte fünfzig Jahre in ihrem kleine Haus gelebt und konnte sich nicht vorstellen, woanders zu leben.

Die Entscheidung, wo sie die letzten Lebensjahre verbringen wollte, wurde ihr abgenommen auf eine furchtbare Weise.
Es war ein Sonntag , ich hatte mich schon gewundert, dass bei Else in der Stube noch Licht brannte und sie nicht zum Bingo spielen gefahren war. Mir aber nichts dabei gedacht. Den nächsten Tag, als ich von der Arbeit nach Hause kam, erfuhr ich die ganze Geschichte von deren Tochter. Es war gegen zehn Uhr abends gewesen, als zwei Männer Else überfielen. Sie zerrten sie aus dem Haus, fesselten sie und ließen sie vor ihrem Haus liegen. Nach dem sie dann das ganze Haus auf der Suche nach Bargeld durchwühlten hatten, fuhren sie wieder weg. Else konnte sich befreien und verbarrikadierte sich in ihrem Schlafzimmer. Vorher hatte sie noch das Haus abgeschlossen und einen Besenstiel vor der Schlafzimmertür geklemmt. Danach hatte sie sich in eine Ecke gehockt . So wurde sie den nächsten Tag von ihrer Tochter gefunden. Völlig verängstigt, eingekotet und uriniert. Sie wurde direkt ins nächste Krankenhaus gebracht. Mir laufen noch die Tränen runter, bei dem Gedanken, was sie in der Nacht durchgemacht hat.
Ein lautes Hupen riss mich wieder aus meinen Tagträumen. Anscheinend war die Besichtigung zu Ende und die Familie und die Maklerin verließen das Grundstück wieder. Diese Begleitumstände, die zum Verkauf des Hauses führten , wurden natürlich nicht erzählt.

 

Hallo Feuerwanze,

freut mich, dass dir meine Geschichte gefallen hat. Bei meiner 1. Version kam die Kritik bezüglich
meiner Erzählperspektive, daraufhin habe ich sie komplett überarbeitet. Habe gehofft, dass es diesmal stimmt. Wenn man nicht viele Kommentare bekommt, ist man etwas unsicher ob das nun hinhaut oder nicht. Ich wünsche dir noch einen schönen Abend.


Karin von der dänischen Grenze

 

Hallo Karin,

ich habe die story gefunden, in der 'nur' Feuerwanze geantwortet hat ;)

Die grausamsten Geschichten schreibt wohl das Leben selbst.

ich sollte ihn in beim Bett locken
Die Stelle hat mir sehr gut gefallen, wie überhaupt die Erzählung von Else für mich sehr plastisch ist.

Den Aufhänger zum Erzählen der Geschichte, dass neue Nachbern einziehen, finde ich zu schwach und ablenkend, für die viel stärke Erzählung über Else und das grausige Ende.

Herzliche Grüße
Heiko, hinter dem Land der Windräder

 

Hallo Karin!

Du erzählst hier eine Geschichte über das harte, kriegsbedingte Schicksal einer Frau, die sich trotz allem eine pragmatische, sogar optimistische Sicht auf das Leben bewahrt hat. Das ist, ehrlich gesagt, nichts Neues, denn solche oder ähnliche Schicksale gab es nach dem Zusammenbruch Deutschlands viele.
Das dramatische Ende wirkt meines Erachtens etwas aufgesetzt, auch wenn es tatsächlich so passiert ist. Nach dem Motto: Nicht auch das noch!!
Du wählst eine verschachtelte Erzählweise, in der das Leben der Ich-Erzählerin mit dem in Rückblenden erzählten Leben der Else verquickt wird. Dabei berichtest du mehr als dass du erzählst. Das macht das Lesen und Verstehen etwas mühselig. Vielleicht solltest du klarer trennen zwischen dem, was die Ich-Erzählerin erlebt und dem, was Else erlebt hat, und dabei die Erlebnisse Elses in der subjektiven Erzählweise in der 3. Person mit vielen lebendigen Dialogen schildern.

Vielleicht kannst du mit meinen Anmerkungen etwas anfangen.

Liebe Grüße,
Konstantina

 

KrPetersen schreibt:

Nachtrag zu dieser wahren Geschichte
Else lebt seitdem in einem Pflegeheim, sie ist dement und ich besuche sie nicht. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie mich fragen würde" Kennen wir uns"?

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Überarbeitete Geschichte von Wurzeln und Himbeergelee. Hoffe, dass meine Erzählperspektive jetzt stimmt.


Derlei bitte in ein separates Posting.

 

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