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Endstation

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04.10.2015
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Endstation

Seit Stunden starrte Gabriel aus dem Fenster des Zuges in die seelenleere Nacht hinaus. Während seine Blicke auf die vorbeiziehenden Laternenlichter gerichtet waren, galten seine Gedanken längst Vergangenem. Seinem Auszug von Zuhause und dem letzten eskalierten Gespräch mit seinem Vater, den er seit damals nicht mehr gesehen hatte. Der Vater hatte ihn vor die Wahl gestellt, ihm den Rücken zu kehren – er sollte sich dann Zeit seines Lebens nie wieder anmaßen, ihm unter die Augen zu treten – oder aber, zu gehorchen und den Familienbetrieb, eine kleine Bücherei, in vierter Generation, weiter zu führen. Es war Gabriels sehnlicher Wunsch gewesen Astronomie zu studieren und so riss ihn der Sog des Unbekannten aus den Fußstapfen des Vaters, hinaus in die Welt.
Die anderen Passagiere dürften es ihm – einem unscheinbaren Mann in den späten Vierzigern, gekleidet in dunkelgrauem Mantel, der Hut farblich passend – nicht angesehen haben, sie werden eigene Probleme beschäftigen, dachte er, aber Gabriel marterten Zweifel. Sollte er beim nächsten Halt umsteigen, den erstbesten Zug in die entgegengesetzte Richtung, zurück zu Frau und Kind nehmen oder sollte er endlich Abschied nehmen vom Vater, der ihm selten als solcher erschienen war, der ihm Steine in den Weg gelegt hatte, seit er lebte, und Schuld auf seine Kinderschultern geladen hatte, so als hätte er sie tragen können? Er wünschte sich, das Leben würde, nur heute Nacht, nur für die Tragweite dieser Entscheidung, auf Gleisen fahren, unbeirrt einer Richtung folgend, wie dieser Zug es tat.
Das sanfte Rütteln der Schaffnerin weckte ihn. „Habe ich geschlafen, junge Dame?“, fragte Gabriel noch benommen, worauf sie ihm lächelnd antwortete: „Ja mein Herr, aber wer würde das nicht, um diese Uhrzeit? Wir sind in Offenburg, hier ist Endstation für heute Nacht.“
Offenburg, das war sein Geburtsort, hier hatte er seine Jugend verbracht und hier war er nun, um Abschied zu nehmen, bevor er endgültig fort ging. „Endstation!“, flüsterte er sich selbst beim Aussteigen nochmals zu.
Während des kurzen Fußmarsches zu seinem Elternhaus dachte er darüber nach, dass die Ironie wie ein Pinsel ist, mit dem das Schicksal feine Linien zeichnet, scheinbar fehlerhafte, komische Linien, die – wie man erst im Alter bemerkt, wenn man es mit etwas Abstand betrachtet – im ganzen Werk aber unverzichtbar mitwirken. Trotzdem er nicht erwartet hätte, jemals wieder auf diesen Straßen zu gehen, war er unberührt von all dem, was ihn umgab, gestand dem Städtchen weder Augenblick noch Atemzug bewusst zu und so nahm er gar nicht wahr, dass jemand, dass etwas ihn beobachtete, von oben. Erst vor dem Haus des Vaters machte er halt. Die Bücherei im Erdgeschoss stand leer, ausgeräumt, und alles, was die großen Fenster noch zierte, war ein Schild mit der Aufschrift „Räumlichkeit zu vermieten“. Es brauchte etwas Zeit, etwas Überwindung, diese Barriere aus Empfindungen – Schuld, Schamgefühl, schlichtem Hass und Sehnsucht – zu durchbrechen, um an der Tür zu läuten. Helene, seine Schwester, die er ebenfalls jahrelang nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte, öffnete ihm sehr bald. Das Wiedersehen war so gar nicht, wie sie es sich beide oft vorgestellt hatten. Er sah in ihren glasigen Augen, was sie daraufhin aussprach: „Gabriel, du kommst zu spät.“

 

Hallo Arvid Schwarz,

herzlich willkommen bei den Wortkriegern.

die seelenleere Nacht
Was meinst Du mit seelenleer? Der nächste Absatz beginnt:
Die anderen Passagiere
- haben die keine Seelen?

sollte er endlich Abschied nehmen vom Vater
Eine Entscheidung, die sehr schwer fällt, wenn sich Eltern und Kinder so auseinanderleben, dass sie nicht miteinander auskommen können.

Eine Geschichte, die in mir - wieder einmal - die Frage aufwirft: Soll ich versuchen, auf Menschen mit denen ich mich auseinandergelebt habe, wieder zuzugehen? Oder komme ich zu spät, weil die Zeit für eine Versöhnung lange vorbei ist?

Lebe Grüße

Jobär

 

Hallo Jobär,

vielen Dank für deinen Kommentar. Da Gabriel "in die seelenleere Nacht hinaus" blickt, richtet der Erzähler seinen Blick mit ihm und sieht hier von den Passagieren im Inneren des Zuges ab. Ihnen widmet er seine Aufmerksamkeit dann erst im nächsten Abschnitt.

Viele Grüße

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Arvid Schwarz,

deinen Text habe ich schon vor einigen Tagen gelesen und mir ein paar Gedanken dazu notiert. Die möchte ich dir hier gerne vermitteln.
Deine Geschichte enthält eine kurze und in sich eigentlich klare Handlung: Gabriel fährt zurück in seine Heimatstadt, um den todkranken Vater noch einmal zu sehen. Er kommt zu spät. Der Vater ist schon tot. Auf der Reise gehen seine Gedanken zurück in die Vergangenheit, die von seiner Beziehung zu seinem Vater geprägt ist.
Das ist als Ansatz eine gute Idee für eine Kurzgeschichte.

Was es mir aber sehr schwer macht, deinen kleinen Text gerne zu lesen, sind zuerst deine Satzungeheuer. Du bemühst dich, in deine Sätze möglichst alle Informationen zu packen, die dir zum Zusammenhang einfallen. Und dann kommt da so etwas heraus:

Der Vater hatte ihn vor die Wahl gestellt, ihm den Rücken zu kehren – er sollte sich dann Zeit seines Lebens nie wieder anmaßen, ihm unter die Augen zu treten – oder aber, zu gehorchen und den Familienbetrieb, eine kleine Bücherei, in vierter Generation, weiter zu führen (weiterzuführen).

Dieser Satz enthält allein vier Prädikate. Und ähnlich überladen sind viele deiner Sätze. Es besteht mE keine Notwendigkeit, so viele Informationen in jeweils einen Satz zu packen. Sie werden inhaltlich unübersichtlich und führen leicht zu Fehlern in Syntax, Grammatik und Interpunktion.

Zweitens ‚schwurbelst’ du für mein Empfinden zu sehr. Was ich damit meine, möchte ich dir an einigen Beispielen verdeutlichen:

seelenleere Nacht
Bei mir entsteht kein Bild? Was meinst du? menschenleer?

… riss ihn der Sog des Unbekannten aus den Fußstapfen des Vaters(,) hinaus in die Welt.
Er weiß doch genau, was er will, nämlich Astronomie studieren. Und befand er sich damals wirklich schon in den Fußstapfen des Vaters?

Die anderen Passagiere dürften es ihm … nicht angesehen haben,
Das ist eine Phrase. Wie sollten sie?

… sie werden eigene Probleme beschäftigen, dachte er, aber Gabriel marterten Zweifel.
Natürlich. Auch das empfinde ich als Phrase. Und woran und warum martern ihn Zweifel? Auch ist der Wechsel von 'er' zu 'Gabriel' verwirrend, warum schreibst du nicht 'ihn'?

… der ihm Steine in den Weg gelegt hatte, seit er lebte, und Schuld auf seine Kinderschultern geladen hatte, so als hätte er sie tragen können?
Welche Schuld? Gabriel war doch schon erwachsen, als er sich entscheiden musste.
Er wünschte sich, das Leben würde, nur heute Nacht, nur für die Tragweite dieser Entscheidung, auf Gleisen fahren, unbeirrt einer Richtung folgend, wie dieser Zug es tat.
Welche Entscheidung? Meinst du seine Überlegung, ob er aussteigen oder sitzen bleiben soll?

... bevor er endgültig fort ging (fortging).
Aber er ist doch schon fortgegangen, hat doch Frau und Kinder.

… dachte er darüber nach, dass die Ironie wie ein Pinsel ist, mit dem das Schicksal feine Linien zeichnet, scheinbar fehlerhafte, komische Linien, die – wie man erst im Alter bemerkt, wenn man es mit etwas Abstand betrachtet – im ganzen Werk aber unverzichtbar mitwirken.
Welche Ironie? Wieso fehlerhaft und komisch zugleich? Und warum unverzichtbar?

... gestand dem Städtchen weder Augenblick noch Atemzug bewusst zu und so nahm er gar nicht wahr, dass jemand, dass etwas ihn beobachtete, von oben.
???

Es brauchte etwas Zeit, etwas Überwindung, diese Barriere aus Empfindungen – Schuld, Schamgefühl, schlichtem Hass und Sehnsucht – zu durchbrechen, um an der Tür zu läuten.
Schuld? Schamgefühl? Hass? Sehnsucht? Habe ich etwas überlesen?

Lieber Arvid, die Idee deiner Geschichte finde ich gut. Der Ausführung steht mMn deine Freude an großen Worten im Wege. Sie bleiben aber für mich leere Hüllen, die ich mit dem, was du mir erzählst, nicht füllen kann. Schade. Ich denke, dass sich die Befindlichkeit des Protagonisten, seine Gedanken während der Zugfahrt, seine Begegnung mit seiner Heimatstadt und seiner Schwester doch durchaus in einer schlichteren (und damit u.U. eindringlicheren) Sprache darstellen ließe. Um große Gefühle auszudrücken, bedarf es nicht unbedingt großer Worte.

Liebe Grüße
barnhelm


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