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Mutters Erbe

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04.10.2015
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Mutters Erbe

Nie zuvor hatte Soon etwas gesehen, das so viel Lebendigkeit ausstrahlte und doch so todbringend war. Die Wiege des Lebens, der Ursprung allen Seins, die Mutter der Menschheit. Einst, vor langer Zeit, hatte diese mit angesehen, wie sich ihre Kinder gegenseitig das Leben genommen hatten. Die Gier nach ihrem Erbe hatte sie vergessen lassen, dass sie Brüder gewesen waren. Sie waren sich immer fremder geworden, die Fremde hatte Angst, die Angst hatte Hass geschürt und schließlich war vergiftende Verachtung an die Stelle der Menschlichkeit getreten. Am 25. Dezember 2043, um 00.52 Uhr asiatischer Zeit war die erste Bombe gefallen, unzählige weitere waren noch in derselben Nacht gefolgt. Innerhalb weniger Stunden waren aller Herren Länder in Flammen gestanden und der Mensch hatte zerstört, was zu errichten ihn Jahrtausende gekostet hatte.

Einige Wenige, darunter Soons Vorfahren, hatten sich retten können. Unterirdische Tunnelsysteme waren bereits zu Anfang der Jahrtausendwende angelegt worden, um den Wohlhabenden im Falle einer Katastrophe Schutz zu bieten. Tief unter der Erde hatten die besten Ingenieure Amerikas, Asiens und Europas eine Art Arche entworfen. Ein Raumschiff, welches genug Platz geboten hatte, um knapp die Hälfte aller Überlebenden zum Mars transportieren zu können. Unmittelbar vor dem Start war es zu blutigen Aufständen gekommen, denn die Überlebenden, die keinen Platz in dem Raumschiff gefunden hatten, waren zurückgelassen worden.
Von den Passagieren war das Schiff später auf den Namen „Nula“ getauft worden, was kroatisch war, Null bedeutete und so einen Neuanfang symbolisieren sollte. Zahlreiche Sprachen wie etwa Kroatisch wurden längst nicht mehr gesprochen, es waren nunmehr tote Sprachen. Zuhause, auf dem Mars sprach man eine vereinfachte Form des Mandarin-Chinesisch. Nur die Wenigsten beherrschten noch die Sprachen ihrer Ahnen und wenn, dann meist sehr bruchstückhaft. Einzelne Worte, selten ein Sprichwort oder ein Gebet. Die ersten Dekaden der Marskolonien waren schwere Zeiten für die überlebenden Siedler gewesen. Sie waren es gewohnt ihre Leben als Erdenmenschen zu führen. Sie hatten sich nach der Natur gesehnt. Nach Bäumen (Pflanzen, die bis zu 120m hoch sein konnten) in einer solchen Fülle, dass sie täglich Unmengen davon gefällt hatten, um Häuser (Behausungen, in denen oftmals eine einzige Familie wohnte) zu bauen, oder, was unglaublich für Soon war, um sie zu verbrennen, um so Wärme zu erzeugen. Sie hatten das Wasser vermisst, welches nicht knapp gewesen war, nicht erst durch Kondensierung und andere Aufbereitungsvorgänge wieder genießbar geworden war, sondern jeder Zeit, an nahezu jedem Ort, in einer solchen Menge vorhanden gewesen war, dass man es verschwendet hatte. Die Erdenmenschen hatten sich mehrmals täglich gewaschen, nicht nur sich, auch ihre Häuser und Autos, sogar ihre Tiere hatten sie gewaschen, hatten das Wasser verschüttet, hatten damit den Fußboden, die Fenster, einfach alles geputzt, denn sie hatten Meere davon besessen, große tiefblaue Meere, die sich über drei Viertel des Planeten erstreckt hatten. Es war sprichwörtlich vom Himmel gefallen, das Wasser. „Regen“ hatten sie das genannt. Die Ironie an der Sache mit dem Regen war, dass die Erdenmenschen ihn wohl gehasst hatten. Für Soon klangen diese Geschichten fantastisch, fast schon albern, doch mit Erzählungen wie diesen war sie groß geworden. Sie wurden von Generation zu Generation weitererzählt. Sie sollten Hoffnung geben und die Marsmenschen anspornen, nicht aufzugeben. Oft hatte ihr der Großvater, dessen Urgroßvater ein Erdensohn gewesen war, gesagt: „Kleine Soon, du musst durchhalten, du darfst niemals aufgeben und wenn du Glück hast, wirst du es erleben, wie wir die Heimat wieder betreten.“
Je älter sie wurde, desto klarer wurde ihr, dass sie es aller Wahrscheinlichkeit nach, niemals erleben könnte, wie das Kind Menschheit zurück in den Schoß seiner Mutter Erde fände. Erste Schätzungen über die Bestände der Strahlung in der Erdatmosphäre beliefen sich darauf, dass die Halbwertszeit Jahrtausende betrüge. Dennoch, Soon war fasziniert von der Vorstellung, ihren Teil zur Heimkehr beizutragen, ihr Leben der Erdenforschung zuzuschreiben und durch harte Arbeit und viel Glück einmal kleine Fortschritte erzielen zu können.

Nun war sie im Begriff dazu. Sie war unter vielen Hunderten Anwärtern ausgewählt worden, die Reise zur Erde anzutreten. Wie Soon in ihrem Shuttle um die Erdumlaufbahn rotierte, ihr Ziel aus nächster Nähe bestaunte, war sie verwundert, wie friedlich, wie ruhig die Erde wirkte. Fast so, als sei nichts geschehen, als sei alles gut. Der Anblick des blauen Planeten war überwältigend und ließ ihr die Farbe aus dem Gesicht entweichen, ließ sie trauern und hoffen zugleich. Sie selbst – die blassen Wangen, ihr langes, tiefschwarzes Haar und ihre weit aufgerissenen, dunkelblauen Irides – spiegelte sich in der Glasscheibe des Cockpits. Ihr eigenes Abbild legte sich so vor ihren Augen über die Mutter ihrer Ahnen, über ihre nahezu grenzenlosen Meere und Länder. Sie dachte an die Worte ihres Großvaters und dass, so Gott wollte, wieder zusammenfände, was zusammengehörte.
Es war ihr zur Aufgabe gemacht worden Proben einzusammeln. Erd-, Wasser-, Eis-, Luft- und Gesteinsproben, die in den Laboren der Marskolonien untersucht werden sollten. Die Wissenschaftler hatten Soon drei große Ziele vorgegeben. Am ersten Ziel, dem Nordpol, sollte sie Eis- und Wasserproben entnehmen. Anschließend sollte sie sich nach New York begeben, um dort Luft- und Gesteinsproben zu kollektivieren. Ihr drittes und letztes Ziel waren die tropischen Wälder des Amazonas, wo sie eine Erdprobe sammeln sollte. Oftmals bezeichneten die Marsmenschen diese Wälder als den Garten Eden der ersehnten Heimat, wie Soon jedoch recherchiert hatte, hatten die Erdenmenschen diese Urwälder keineswegs gewürdigt, sie hatten sie ausgebeutet. Viele Tier- und Pflanzenarten waren dort täglich ausgerottet worden, man hatte damals vom großen Waldsterben gesprochen.

Ihr Shuttle, die „Moth01“, war klein und unscheinbar, ausgelegt für eine Person, aber auch nicht unkomfortabler, als es ihre Räumlichkeit auf der Marskolonie war. Es verfügte über spezielle Bohr- und Greifarme, mithilfe derer Soon die jeweiligen Proben entnehmen konnte. Das Verlassen der „Moth“ war ihr dabei strengstens untersagt worden, da sie sich, so die Wissenschaftler, von den Folgen der Strahlung, für den Rest ihres Lebens nicht wieder erholen würde.
Was den Reiseproviant anging, hatten ihre Ausstatter keine Kosten gescheut. Echte Bohnen, Paprika, Kartoffeln und Kräuter in Mengen, dass ein fünfköpfiges Luftfilteranlagenreparaturteam davon satt geworden wäre, standen ihr zur Verfügung. Soon erinnerte sich an die Erzählungen des Großvaters vom Jagen, Schlachten und Massenhalten der Tiere auf Erden. Über den Hunger hinaus und aus purer Lust hatten die Menschen das Fleisch ihrer Tiere verzehrt. Muskelfasern, aber auch Herzen und Hirne, Zungen und Lungen der Tiere hatten sie sich einverleibt, ohne dabei den geringsten Ekel zu empfinden. Zuhause auf dem Mars hatte man weder die nötige Nahrungskapazität, ein Tier aufzuziehen, nur um es anschließend zu verspeisen, noch hatte man das Verlangen.
Bei dieser unvergleichlichen Aussicht war Zeit ohne Wert und Soon hätte noch stundenlang in Gedanken schwelgen können, doch sie war hier, um ihren Auftrag, ihre Mission zu erfüllen. Sie zückte ihre Kamera und fotografierte die Erde, ehe sie ihre Reise fortsetzte.

Beim Eintritt in die Erdatmosphäre schlug ihr Herz immer stärker – nicht schneller, es klopfte langsam und druckvoll – gegen ihren Brustkorb. Dieses Manöver hatte sie während ihres Trainingprogramms etliche Male erfolgreich simuliert, nur selten war sie gescheitert. Nun allerdings floss ihr der kalte Schweiß von der Stirn, jede Sekunde, jeder Handgriff entschied über Erfolg oder Niederlage, Leben oder Sterben. Diese Landung, wurde Soon bewusst, hatte mit der Simulation wenig gemein. Die äußere Verkleidung glühte, drohte zu brechen, der schrille Ton, der durch Reibung mit der dichter werdenden Atmosphäre entstand lähmte und Soon spürte, wie ihr Blut druckvoll, heiß bis in die Schläfen pulsierte. Im Augenwinkel sah sie, wie die Funkantenne von der rechten Tragfläche abbrach, kümmerte sich jedoch nicht darum, sondern klammerte sich an den Steuerknüppel, denn dieser war der seidene Faden, an dem ihr Leben nun hing.
Der Flug der „Moth“ stabilisierte sich endlich. Soon wusste, mit diesen Turbulenzen hatte sie vorerst den schwierigsten Teil ihrer Anreise hinter sich gebracht. Sie flog nun 45.000 Fuß über der Erdoberfläche. Die Welt lag ihr zu Füßen. Es fiel ihr schwer unter diesen Umständen, diesen Eindrücken des Privilegs, welches einzig und allein ihr zuteilgeworden war, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen; aber sie musste.
Soons Reise war die erste Unternehmung dieser Art und so setzten all die Marsmenschen ihre Hoffnung in ihr Gelingen, indes galten all deren Ängste einem Scheitern derselben. Es würde – so sagten ihr die Wissenschaftler – ein kleiner Schritt für sie, aber ein großer Schritt für die Menschheit.

Sogenannte Wolken (Ansammlungen feinster Wassertröpfchen) verwehrten Soon die Sicht aus dem kleinen Cockpit der „Moth“. Je weiter sie sich der Erdoberfläche näherte, desto dünner wurde das Weiß der Wolken. Konturen der Kontinente bildeten sich heraus, wurden klarer, bis sie sich in vollsten Farben – Grau-, Grün- und Brauntönen in jeglicher Variation – offenbarten. Ihr erster Eindruck, die Erde hätte sich schneller erholt, als die Wissenschaftler der Marskolonien erwartet hatten, bestätigte sich zunehmend.
Soon traute ihren Augen nicht. All das Lernmaterial, all die Videos und Abbildungen, all die von Generation zu Generation weitergereichten Sagen und Legenden über die Erde und ihre überwältigende Natur konnten diesem Anblick nicht im Geringsten irgendetwas vorweg genommen haben.
Der Himmel auf Erden erschien in strahlendem Blau, die Wolken leuchteten matt-golden, schien die Sonne durch sie hindurch und lediglich ein paar vereinzelte Lichtstrahlen bahnten sich hier und dort den Weg durch die kleinen Schlupflöcher der dichten Wolkenwände bis auf Grund und Boden dieser paradiesischen Welt. Auch das Meer, das scheinbar endlose Meer schien blau, reflektierte es doch den cyanfarbigen Himmel. In östlicher Ferne lagen Europas Küsten. Soon bestaunte sehnsüchtig die blassen Silhouetten der Berge und Hügel, doch es war ihr verwehrt, diese anzusteuern, denn die Energie der „Moth“ war begrenzt, ihre Ziele festgelegt.
Das erste von Menschenhand errichtete Bauwerk, auf das sie stieß, war eine Bohrinsel (Posten, die im Meer errichtet wurden, um Treibstoff aus den Erdschichten zu fördern). Die schäumenden Wellen trafen wieder und wieder, sanft, doch beständig, die vom Rost fast vollständig zerfressenen Stahlpfeiler. Soon drängte sich der sonderliche Gedanke auf, dass diese alten Pfeiler nicht mehr lange standhielten und dass, wenn sie brächen, ein Indiz weniger auf die einstigen Bewohner dieses Planeten hinwies. So, dachte sie, würde es wohl auch irgendwann mit dem letzten Stein, der je durch Menschenhand auf einen anderen gemörtelt wurde, geschehen und es würde sein, als hätte sich die Evolution nie mit der Krone ihrer Schöpfung gerühmt.

Das Farbenspiel des Horizontes, der goldenen Wolken und des blauen Himmels verlor allmählich an Pracht, wurde ärmer und grauer, denn während sich der Tag seinem Ende neigte, näherte sich Soon der kalten, nördlichen Hemisphäre.
Die „Moth“ war schnell, trug sie in Windeseile über tiefes Meer, weites Land und hohes Gebirge. Die ersten Gletscher leuchteten schwach in hellem Türkis und erstreckten sich über Weiten, welche das bloße Menschenauge nicht zu erfassen im Stande war. Als erste Vorboten des Nordpols ragten kantige Eisberge wie Türhüter aus dem Meer und streckten sich dem vollen, weißen Mond entgegen, so als beteten sie ihn an, so als hielten sie ihn für ihren fernen Vater.
Im blass-grauen Schein des Sternenhimmels verglich Soon ihre beiden Heimaten miteinander. Der Mars, dessen rote Farbe scheinbar Lebensfeindlichkeit signalisierte, auf dessen trockener Oberfläche sie und ihresgleichen schon seit über zwei Jahrhunderten verbissen um den bloßen Atem rangen und die Erde, so reich an vielfältigstem Leben, dass ihr kein Planet des Sonnensystems das Wasser hätte reichen können, waren sich hier, am Nordpol, in dieser Wüste aus Eis, gar nicht so uneins gewesen.
Soon aktivierte den Bohrer der „Moth“, um anschließend mit dem Greifarm ihre erste irdische Probe einzuholen. Die Eisprobe entnahm sie aus 50 Metern Tiefe. Alles verlief, wie erwartet problemlos denn auch diesen Vorgang hatte sie unzählige Male simuliert und mit Bravour abgeschlossen. Für die nächste Probe, die sie sammeln sollte, die Wasserprobe, begab sie sich über nächstgelegenes Meer und bediente, trotz der nächtlichen Dunkelheit, routiniert den mechanischen Greifarm.
Die nächtliche Stille am Ruhepol der Welt wurde plötzlich gebrochen, als die „Moth“ ruckartig ins Schwanken geriet. Soon wurde aus ihrem Sitz geschleudert, stieß sich die Stirn an den Armaturen und verlor das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kam, hatte sich das Shuttle längst wieder ausbalanciert und schwebte ruhig über den nordischen Gewässern. Zögernd wagte Soon einen Blick aus dem Cockpit.
In dieser Nacht, der Nacht des 7. Oktobers 2286, am Nordpol der Erde wurde Soon, die Hoffnungsträgerin tausender Marsmenschen, Zeugin eines wahrhaftigen Wunders. Ein Dutzend Blauwale (mit einer Länge von bis zu 35m die größten Tiere, die je auf Erden lebten), darunter Riesige, wohl Ausgewachsene und auch Jungtiere, ließen sich in aller Ruhe an der Oberfläche des tiefschwarzen Meeres treiben und pressten heiße Luftfontänen aus ihren Blaslöchern, von denen die „Moth“ wohl kurz zuvor aus dem Gleichgewicht gebracht worden war. Diese einst gefährdete Art schien sich durch nichts in der Welt gestört zu fühlen. Selbst den Antrieb und die hellen Scheinwerfer der „Moth“ fürchteten diese Kolosse nicht. Allem Anschein nach hatten sie die Katastrophe im Schutz der Tiefen überlebt und beherrschten nun rechtmäßig die Ozeane. Soon dokumentierte diese Entdeckung mit ihrer Kamera und lauschte, nachdem sie die Wasserprobe entnommen hatte, noch Stunden den Liedern, die ihr die Wale in hohen Tönen und dem Rampenlicht des Mondes vortrugen.

Am nächsten Morgen manövrierte Soon das kleine Shuttle entlang der Küsten des Festlandes – Grönlands und Kanadas – dem zweiten Ziel ihrer Reise entgegen, – New York City. Als einstige Metropole und Herz der Welt hatten sie die Erdenmenschen „Die Stadt, die niemals schläft“ genannt. Soon hatte gelesen, dass ihre Bewohner, die New Yorker, stolz auf ihre Herkunft gewesen waren. Für die Menschen auf der ganzen Welt war New York ein Ort gewesen, den man einmal im Leben gesehen haben sollte.
Soons Vorfreude auf diesen Ort war, wie sie enttäuscht zur Kenntnis nehmen musste, keinesfalls berechtigt gewesen. Die hohen Betonbauten, welche die Menschen im Größenwahn als „Wolkenkratzer“ bezeichnet hatten, waren nur noch in die Brüche gegangene Relikte längst vergangener, besserer Zeiten. Viele, darunter auch das „One World Trade Center“ (2013-2043 New Yorks höchstes Gebäude), lagen eingestürzt in Schutt und Asche. Die meisten dieser, von Menschenhand errichteten Bauten, hielten sich nur noch auf ihren puren Stahlträgerkonstruktionen und erinnerten Soon hier und da verkleidet mit Bruchstücken der Außenwände, an erbärmliche Skelette Hungertoter. Sie hatte schon in der Schule gelernt, dass die Städte, die Orte mit dichten Bevölkerungsraten, im Letzten Weltkrieg Primärziele der Bomben gewesen waren, nun sah sie mit eigenen Augen, was dies bedeutete.
Während Soon Luft- und Gesteinsproben sammelte, wirkte sich der Eindruck dieses zu dunklen Ruinen gewordenen Ortes immer bedrückender auf ihr Gemüt aus. In der Ferne glaubte sie einen einsamen, weißen Vogel zu erkennen. Er rastete auf einem rostigen Pfeiler, der schräg in die Luft ragte und warf seinen starren Blick auf die Moth, in die tief blauen Augen Soons. Er bannte Soon und gerade als sie sich fragte, ob auch der Vogel so etwas wie Neugierde empfand, flog er davon. Der weiße Vogel war der alleinige Erbe, ihm allein gehörten nun diese brüchigen Verweise auf die einstige Hochkultur. Gefühle von Trauer, von Wehmut, Reue und Verachtung taten sich in ihr auf. Dieser einst von Menschenhand errichtete Ort barg für Soon nichts Natürliches, nichts Menschliches in sich. Ihr erschien es so, als hätten sich die Erdenmenschen hier ihre Hochburgen errichtet, als hätten sie ihre Behausungen weit in den Himmel ragend erbaut, um diesem, gleich Halbgöttern, ein Stückchen näher zu sein. In Soons Augen hatten sich die Menschen in dieser Weltstadt zusammengefunden wie Krebszellen, die sich zu einem Geschwür, einem tödlichen Tumor vereinten und zehrten und zehrten. Nun schienen selbst die Kakerlaken diesen toten Ort zu meiden und nur der stolze weiße Vogel zog hier noch seine Kreise. Die Stadt, die niemals geschlafen hatte, war nun eine betongraue Begräbnisstätte und ihr einstiger Glanz war verblasst, sodass nur noch ein Schatten ihrer selbst geblieben war. Soon gedachte einer rätselhaften Metapher, welche ihr Großvater oftmals vorzutragen gepflegt hatte. Jedes Mal hatte er auf dieselbe Weise begonnen: „Lass mich dir erzählen, was mein Großvater mir und der seine zuvor ihm erzählte, lass mich dir erzählen, kleine Soon, von Schatten und Licht.“ Was darauf dann gefolgt war, hatte Soon nie so recht verstanden, doch wie es der Großvater vorausgesagt hatte, war nun der Zeitpunkt gekommen, da sie begriff.

Sie beschloss, einen Umweg zu fliegen, um ihr finales Ziel – die tropischen Urwälder des Amazonas – zu erreichen. Sie flog quer über den amerikanischen Kontinent. Von New York nach Detroit, von Detroit über Chicago nach Salt Lake City und schließlich zur westlichen Küste nach San Francisco. Von all den Großstädten, vielleicht weltweit, war nichts übrig, bis auf warnende Trümmer, die durchzogen waren von tödlicher Luft. Soon ging ein unbeschreiblicher Ekel, ein statischer Schock in Mark und Knochen. Die Zivilisation war Staub geworden, hatte sich selbst ausgelöscht, so, als war ihre Zeit zu gehen gekommen. Beim Anblick dieser verseuchten, farblosen Großstädte fragte sie sich, ob es noch in der Natur des Menschen läge, die Natur zu knechten, um alles in der Welt, alles in der Welt auszubeuten und Profit daraus zu schlagen, kostete es was es wollte.
Soons Mission war ein großer Schritt, ein Wagnis für die Menschheit, doch vielleicht war dieser Schritt ein zu großer für Soon selbst.

Weiter im Süden, über Mexiko, bemerkte Soon, wie die Krater seltener wurden und die weitflächigen Zerstörungen kaum noch Eindruck hinterlassen hatten. Die grauen, dem Erdboden gleichenden Schlachtfelder, die einst Städte gewesen waren, wurden nun mehr und mehr abgelöst von ländlichen Gebieten, verwilderten Dörfern und Feldern. Mexikos Wiesen, seine Wüsten, Flüsse und Wälder wirkten prachtvoller, je weiter sie sich dem Äquator näherte. Die Scheiben der „Moth“ wurden immer schneller, immer stärker benetzt von Wasserperlen, denn die Luftfeuchtigkeit stieg.
Die unberührte Natur zeichnete Soon ein Bild von mannigfaltigen Grüntönen, zwischen denen sich die in der Sonne glänzenden Ströme des Amazonas unbeirrt ihren wilden Weg bahnten, wie sie es schon immer getan hatten, und als innerhalb kürzester Zeit schwarze Wetterwolken aufzogen, verdunkelten diese Himmel und Erde zugleich. Soon zuckte wieder und wieder zusammen, als ohrenbetäubender Donner auf blendende Blitze folgte. Dieses respekteinflößende Schauspiel der irdischen Natur endete, so schnell es begann und als der Himmel in Strömen weinte, sich die Wolken auflösten und die Sonne wieder warmes Licht warf, auf den liebsten ihrer Planeten, tat sich ein Regenbogen (atmosphärisch-optisches Phänomen, das dem Betrachter als weit entfernter, farbiger Streifen am Horizont erscheint) auf, dessen Enden in den weit entfernten Kronen der Bäume zu münden schienen, wie himmlische Säulen. Wie zum krönenden Abschluss schwärmten unzählige Vögel aus den dichten Wäldern, Soon ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Sie beneidete diese Tiere, konnten sie doch ein Leben lang ebendiesen Anblick aus der Perspektive genießen, wie es auch ihr gestattet war, an jenem Tag.
Soon erkannte die Gegensätzlichkeit dieses Ortes, verglichen mit den toten Städten und sie erkannte, dass diese Gegensätzlichkeit größer nicht hätte sein können. Eines Tages, wenn erst die Menschen wieder auf der Erde lebten und verächtliche Habgier ihren geläuterten Menschenverstand aufs Neue infizierte, würde es von höchster Wichtigkeit sein, diese Wälder zu schützen und zu ehren.

Merkwürdig erschien es Soon, dass dieses grüne Paradies, knapp 243 Jahre nach der atomaren Katastrophe so lebensfreundlich blühte und gedieh. Die Strahlung in der Atmosphäre musste sich auf eine, für sie unverständliche Art schneller abgebaut haben, als die Wissenschaftler es berechnet hatten. Es war, als wäre die eigentliche Ursache der Erkrankung behoben worden.
Da diese Wälder von den verschiedensten Pflanzenarten so dicht bewachsen waren, kostete es Soon ein wenig Zeit, eine freie Ebene zu finden, die es ihr erlaubte, mit der „Moth“ so tief über dem Boden zu schweben, dass sie eine Erdprobe entnehmen konnte.
Auf dem Mars war das Element Erde, was für die Erdenmenschen Gold gewesen war. Nichts war dort seltener und folglich kostbarer als Erde. Ihr Großvater hatte ihr einmal erklärt, dass Erde auf dem gleichnamigen Planeten nicht mehr als Dreck und Schmutz für die Menschen gewesen war. Soon kam der Gedanke, dass man wohl dann erst den Wert einer Sache begriff, wenn man ihrer nicht mehr habhaft war, wenn man seine Toten im stillen, schwarzen Weltall beisetzte, während man davon träumte sie zu beerdigen.

Soons Mission war erfüllt, sie hatte getan, weshalb sie gekommen war und alle Proben lagerten sicher an Bord der „Moth“. Sie hatte Nachricht von höchster Wichtigkeit für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind auf dem Mars zu überbringen und sie wusste, dass aufgrund der frühzeitigen Erholung des Planeten eine baldige Wiederbesiedlung sehr wahrscheinlich war. Wenn Wale die Meere beherrschten und Vögel in Scharen flogen, wäre auch menschliches Leben auf der Erde möglich. Sie, die Enkelin ihres Großvaters, würde als Heldin, als Retterin der Menschheit gefeiert und geehrt werden, bis sie eines Tages, betrauert von Tausenden, vielleicht Millionen, im Zuge einer festlichen Zeremonie begraben würde. Aber wollte sie das alles für sich, wollte sie das für die Menschen, für die Erde?
Gerade als sie die Instruktionen für die Heimreise eingab, erklang ein dumpfes Geräusch, von dem sich Soon allerdings nicht stören ließ. Kurz darauf erklang das Geräusch nun etwas heftiger noch einmal und noch einmal. Verwundert hielt sie Ausschau und erblickte dann, versteckt hinter Zweigen und Gräsern, zwei Lebewesen, die mit Steinchen nach dem kleinen Shuttle warfen, wohl um sich bemerkbar zu machen. Hastig tastete sie, die Augen noch immer starr auf die Wesen gerichtet, vergebens nach ihrer Kamera. Auf den ersten Blick hätten es Affen sein können, bei genauerem Betrachten aber war sie sich beinahe sicher, dass es leibhaftige Menschen waren. Kinder, schmutzige, verwilderte Menschenkinder, deren zerfetzte Kleidung nicht schäbiger und zerrissener hätte sein können. Gerade als Soon die Kamera ergriffen hatte, wechselten die beiden Gestalten einen kurzen Blick und rannten, mit ihren dreckigen Händen winkend, los. Sie liefen schnell und waren unter den dichten Baumkronen nahezu unsichtbar für Soon, der es von der „Moth“ aus schwerfiel, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Bald machten die Kinder scheinbar willkürlich und abrupt Halt. Eines winkte Soon beständig zu, während das andere wild umher lief und Laute von sich gab, die sie noch nie zuvor vernommen hatte. Sie konnte nicht ausmachen, ob es sich um sinnloses Gebrüll, wie es etwa ein Tier ausstieß, oder womöglich um eine primitive Sprache handelte. Und jetzt erkannte Soon, dass sie über dutzenden von kleinen Hütten aus Ästen, Lehm und Palmenblättern schwebte, die ihr vorher nicht aufgefallen waren. Neugierig streckten die Bewohner des kleinen Dorfes ungläubig blickend die dreckigen Hälse aus den ärmlichen Behausungen, kamen dann sofort heraus geeilt und sammelten sich nach und nach zu Hunderten um die beiden Kinder, direkt unter der schwebenden „Moth“. Soon zitterte nun am ganzen Körper, sie war fassungslos. Sie hätte diesen Augenblick festgehalten, wäre ihr nicht die Kamera aus der schwachgewordenen Hand geglitten, und als sich diese Menschen, diese Bewohner des Garten Edens ehrfürchtig, doch sichtlich erwartungsvoll vor dem schwebenden Shuttle auf den Erdboden warfen und beteten, begriff Soon, dass dieses Volk, dieser Stamm augenscheinlich um ein vielfaches verwirrter war ihr zu begegnen, als sie selbst es war, Überlebende der Katastrophe, wahre Erdenmenschen anzutreffen. Diese einfachen Leute hatten wohl auf sie gewartet, hatten wohl den Glauben nie verloren und nun mussten sie Soon für den wiedergekehrten Messias halten oder gar für eine Außerirdische, für einen Marsmenschen.

In den Marskolonien wartete man vergebens auf die Rückkehr Soons, ehe man die Hoffnung aufgab. Man erzählte sich Geschichten über die erste Frau, die sich aufgemacht hatte, die Erde zu erkunden. Einige glaubten, sie hätte nie existiert und die Regierung spielte ihnen einen Streich, um sie bei Laune zu halten, um ihnen trügerischen Mut zu machen. Andere waren überzeugt, Soons Shuttle wäre auf der Heimreise zum Mars die Energie ausgegangen, so dass sie im schwere- und geräuschlosen All qualvoll und allein verendete. Xian, einem strebsamen Jungen, der einmal Astronaut werden wollte, gefiel die Vorstellung, Soon sei auf dem blauen Planeten geblieben, atmete in vollen Zügen die salzige Meeresluft, tanzte im Sommerregen und küsste die heilige Erde.

 

Hallo Arvid!

Möchtest du nicht vielleicht auch mal anderen Kommentare zu ihren Geschichten zukommen lassen, statt hier Geschichte hinter Geschichte zu posten? Geben und nehmen und so?

Fragt sich,
Chris

 

Hallo Chris,

doch sehr gerne. Ich bin hier durchaus schon am Stöbern.
Entschuldige meine Beitragsfrequenz, ich werde Sie dir zuliebe etwas senken.

Schade, dass ich von dir keinen Kommentar erhalten habe ;)

Viele Grüße,
Arvid

 

Hallo Arvid!

Du hättest lieber einen Kommentar? Natürlich. Genauso wie alle anderen, die hier Geschichten posten. (Und wenn hier jeder vier Geschichten pro Woche posten würde ...)
Kommentare kosten Zeit. Ich, wie viele andere hier im Forum, widme meine Kommentierzeit am liebsten Geschichten von Autoren, die a) ebenfalls Kommentare zu Texten anderer schreiben und b) an ihren Geschichten arbeiten wollen. Willst du an diesem Text arbeiten? Unter einem anderen deiner Texte habe ich gelesen, dass du den Text schon vor Jahren verfasst hast. Diesen auch? Und wenn ja, wäre es nicht interessanter, dein jetztiges Schreiben hier zu präsentieren?

Aber okay, ich habe gerade etwas Zeit übrig. Daher werde ich dir nun meine Meinung zum Text mitteilen.
Was ist für dich eine Geschichte? Kennst du den Grundsatz: Show, don't tell? Tell ist berichtsartiger Stil, Show ist Handlung, Akteure tun etwas, der Leser kann dabei sein und miterleben, mitfiebern.
Dein Text (immerhin fast 4.000 Wörter) ist reiner (fiktiver) Bericht. Ich finde es ermüdend zu lesen, langweilig, uninteressant.
=> Wenn du an diesem Text arbeiten möchtest, dann versuche doch, eine Geschichte mit handelnden Akteuren daraus zu entwickeln. Dann würde ich nochmal reinlesen.

Grüße,
Chris

 
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Hallo Chris,

Vorweg: Ich bin das gar nicht gewohnt, auf so eine Feindseligkeit zu treffen - das Internet ist ein hartes Pflaster... Also, zunächst möchte ich gerne erwähnen, dass ich bereits mehr Kommentare verfasst, als Geschichten hochgeladen habe, wenn nicht eben so viele. Ich wollte eigentlich auch niemanden nötigen, meine Sachen zu lesen, ich dachte, man könnte Sie einfach wohlwollend ignorieren, wenn sie einen nicht ansprechen würden.

Als nächstes Danke ich dir für deinen Kommentar und werde deine Kritik selbstverständlich überdenken und im Hinterköpfchen speichern. Ich verstehe gar nicht, was das damit zu tun haben soll, dass die Geschichte schon älter ist. Ich lerne ja nicht weniger aus einem Fehler, weil er alt ist und so wie ich das (offensichtlich falsch) verstanden habe, handelt es sich hier ja nicht um eine "Zwangsschreibwerkstatt". Rein gar nichts hindert mich daran, gut gemeinte Kritik von dir, bei meinem nächsten Schreibversuch umzusetzen. Allerdings muss ich deiner Kritik entgegenhalten, dass Grundsätze wie "show, dont tell" etc. ja keine Regelinstrumente sind, sondern vielmehr allgemein gültige Tipps.

Jedenfalls noch einmal vielen Dank für deine Zeit und Kritik.

Viele Grüße,
Arvid

 

Muss mich mal kurz einklinken.

Es spielt schon eine Rolle, ob Du einen älteren oder einen ganz frischen Text einstellst.
Es geht hier sicher nicht darum, zwanghaft zu schreiben und klar kannst Du auch aus alten Fehlen lernen, aber die Möglichkeit zu einer Entwicklung hast Du doch eher mit einer Arbeit, die Du nicht schon vor Jahren getätigt hast.

Wie Chris schon sagt, das würde vor allem für Dich selbst viel interessanter sein.

Ich fand ihren Kommentar jetzt übrigens nicht feindselig. Sie begründet, warum sie Deine Texte so wie sie jetzt sind nicht interessant findet, erklärt, unter welchen Umständen das der Fall sein könnte und wäre sogar bereit, dann nochmal was von Dir zu lesen.

Bin schon wieder weg ...

 

Dann werde ich mit Freuden - wenn Sie erlauben, meine Herrschaften - als nächstes etwas jüngeres uploaden.

Beste Grüße,
Arvid

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Arvid,

Die Kommentare über die Geschwindigkeit, mit der du neue Texte einstellst, sind nicht böse gemeint. Ich kann mir vorstellen wie das ist, wenn man neu ins Forum kommt und einen ganzen Katalog älterer Texte hat, zu denen man gern Feedback haben möchte. Klar juckt es einen da in den Finger, noch einen und noch einen zu posten.

Aber innerhalb von einer Woche gleich fünf Texte einzustellen, ist wirklich keine gute Idee. Es gibt hier nur relativ wenige Leute, die ausführliche, detaillierte Kommentare schreiben, und deren Aufmerksamkeit verteilt sich auf wahnsinnig viele Geschichten, zu denen täglich neue hinzu kommen. Ein "richtiger" Kommentar, also einer, der mehr ist als nur ein paar Sätze mit der Quintessenz "gefällt" oder "gefällt nicht", braucht sehr viel Zeit - mehr, als du dir wahrscheinlich vorstellen kannst, denn du selbst neigst eher dazu, ziemlich knappe Kommentare abzugeben. Mehr als einen ausführlichen Kommentar am Tag - vielleicht zwei, wenn man grade Urlaub hat und super motiviert ist - schafft keiner von uns, das zieht sich nämlich gerne mal über ein paar Stunden hin.

Wenn man sich diese Mühe macht und soviel Zeit investiert, dann erwartet man, dass der Autor das auch zu würdigen weiß und das Feedback wirklich für sich nutzt - also Schwachstellen in der Geschichte verbessert, oder sich zumindest noch mal wirklich Gedanken über den Text macht. Nicht, dass er sofort dazu übergeht, den nächsten Text einzustellen.

Bei dir bin ich mir nicht so sicher, ob du das Forum als Schreibwerkstatt siehst, oder nur als Plattform zur Veröffentlichung. Als letzteres ist es nicht gedacht. Wenn du eine Geschichte postest, dann gehen wir davon aus, dass du daran noch arbeiten willst.

Tja, und obwohl ich nun weiß, dass dieser Text zu deinen älteren Werken gehört und ich mir nicht sicher bin, ob du bereit bist, daran noch etwas zu tun, werde ich jetzt die Zeit investieren, um ihn ausführlich zu kommentieren - weil ich mir beim Lesen einige Gedanken gemacht habe und die jetzt los werden will. Ich hoffe aber darauf, dass du dann mit dem Kommentar auch wirklich etwas anfängst - sonst werde ich mich bei deinen anderen Texten tendenziell zurückhalten.

Inhaltlich spricht mich die Geschichte definitiv an. Es gibt ein Sachbuch mit dem Titel "Die Welt ohne uns", das sich damit beschäftigt, was passieren würde, wenn die Menschheit mit einem Schlag von der Erde verschwände. Das fand ich sehr spannend, und teilweise auch echt überraschend, wie schnell viele unserer Hinterlassenschaften verschwinden und von der Natur zurückerobert werden könnten. Und der kritische Blick auf den verschwenderischen Umgang unserer Zivilisation mit Ressourcen, die einem unendlich wertvoll vorkämen, wenn man auf einem Planeten leben müsste, der nicht so hervorragende Lebensbedingungen bietet wie die Erde, ist auch eine schöne Sache, die einer Science Fiction-Geschichte gut zu Gesicht steht.

Aber gut umgesetzt ist das alles meiner Meinung nach leider nicht. Es ist zu offensichtlich, dass es dir hier nicht in erster Linie darum ging, eine Geschichte zu erzählen, sondern darum, gewisse Botschaften an den Leser zu bringen. Die ganze Vorgeschichte wird unheimlich trocken und handlungsarm serviert. Viele Details sind nicht durchdacht. Die Protagonistin hat keine nennenswerte Persönlichkeit und bekommt in der Geschichte auch kaum eine Möglichkeit, aktiv zu sein und den Verlauf der Handlung zu beeinflussen. Sie ist nicht viel mehr als ein Infodump-Instrument.

Um das klar zu stellen, ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn Geschichten eine Botschaft vermitteln, das ist eine Absicht, die mir gar nicht fremd ist - aber die Hierarchie muss klar sein. Eine gute Geschichte zu erzählen ist die oberste Priorität, die Botschaft hat sich hinten anzustellen.

Deine Geschichte kann eine ganz tolle Moral haben - wenn sie nicht gut geschrieben ist, nützt das überhaupt nichts. Dann kommt die Botschaft nämlich auch nicht so an, wie du wolltest, sondern geht dem Leser schlicht und einfach auf die Nerven. Für "seid nicht so achtlos, verschwenderisch und gewaltbereit" sind sicher viele Menschen empfänglich - aber wenn einem das durch eine langweilige Moralpredigt eingetrichtert werden soll, anstatt zum Beispiel durch eine spannende, gut aufgebaute Science Fiction-Story, dann sperrt man sich in der Regel dagegen.

Gut, genug Vorrede, ich will mal etwas ins Detail gehen, um dir zu zeigen, was ich meine - und bei Gelegenheit auch gleich ein paar Fehler aufsammeln. Mit der Kommasetzung befasse ich mich aber nicht, das ist mir heute abend zu mühsam. Ein Hinweis, dass es da noch einiges zu tun gibt, muss reichen. Den solltest du aber auch ernst nehmen und deine Zeichensetzung wirklich noch mal durchgehen - es stört beim Lesen enorm, wenn die Kommas nicht dort auftauchen, wo sie hingehören.

Die Gier nach ihrem Erbe hatte sie vergessen lassen, dass sie Brüder gewesen waren.
Der Satz funktioniert nicht gut, weil man bei jedem "sie" und "ihrem" erst überlegen muss, ob es auf die Erde oder die Menschen bezogen ist. Den Satz habe ich jetzt herausgegriffen, weil er den Lesefluss stört, aber insgesamt würde ich bei dem ganzen Anfangsteil empfehlen, stark zu kürzen und das Pathos deutlich zurückzuschrauben.

Sie waren sich immer fremder geworden, die Fremde hatte Angst, die Angst hatte Hass geschürt und schließlich war vergiftende Verachtung an die Stelle der Menschlichkeit getreten.
Es gibt da so einen Prozess namens Globalisierung, der viele ambivalente und einige negative Folgen hat, aber eine der Auswirkungen besteht darin, dass die Menschheit als Ganzes sich heute wahrscheinlich weniger fremd ist als jemals zuvor in der Geschichte. Hass gibt es natürlich immer noch, aber Fremdheit ist nicht unbedingt die Ursache davon. Ich finde den ganzen Anfang wie gesagt zu pathetisch, und an dieser Stelle im Besonderen höre ich so ein Echo von "fear leads to anger, anger leads to hate, hate leads to suffering" ... und ich kann das nicht wirklich für voll nehmen.

Am 25. Dezember 2043, um 00.52 Uhr asiatischer Zeit war die erste Bombe gefallen
Asien ist sehr groß. Das hat mehr als eine Zeitzone.

Innerhalb weniger Stunden waren aller Herren Länder in Flammen gestanden
hatten

Einige Wenige, darunter Soons Vorfahren, hatten sich retten können.
klein

Tief unter der Erde hatten die besten Ingenieure Amerikas, Asiens und Europas eine Art Arche entworfen.
Also erst gibt es einen Weltkrieg, der alles in Schutt und Asche legt, und dann arbeiten alle friedlich zusammen an einem Rettungsraumschiff? Das ist ziemlich unglaubwürdig - es sei denn, dein Szenario geht davon aus, dass Afrika und Australien die Übeltäter waren, die alle anderen Kontinente bombardiert haben? :confused:

Von den Passagieren war das Schiff später auf den Namen „Nula“ getauft worden, was kroatisch war, Null bedeutete und so einen Neuanfang symbolisieren sollte.
Kroatisch. Ja, logisch - bestimmt haben Kroaten einen signifikanten Anteil der Raumschiffinsassen ausgemacht. Die haben immerhin mindestens soviele Einwohner wie ein durchschnittliches deutsches Bundesland? :confused:

Erste Schätzungen über die Bestände der Strahlung in der Erdatmosphäre beliefen sich darauf, dass die Halbwertszeit Jahrtausende betrüge.
"Bestände" beschreibt zählbare Mengen. Es gibt zum Beispiel Fischbestände, aber definitiv keine Strahlungsbestände. Strahlung hat eine Intensität, ein Level, so was in der Art. Und "erste Schätzungen" klingt ziemlich seltsam, wenn die Leute schon seit Generationen auf dem Mars leben. Schätzungen, wann die Erde wieder besiedelt werden kann (vielleicht eher Messungen, denn die Technologie, um Shuttles - also warum nicht auch auch unbemannte Sonden? - zur Erde zu schicken, haben sie ja zur Verfügung) gibt es sicher seit sie auf dem Mars gelandet sind. Es sollten also eher die jüngsten, aktuellen Schätzungen sein, um die es hier geht.

Dennoch, Soon war fasziniert von der Vorstellung, ihren Teil zur Heimkehr beizutragen, ihr Leben der Erdenforschung zuzuschreiben
zu verschreiben oder zu widmen

Anschließend sollte sie sich nach New York begeben, um dort Luft- und Gesteinsproben zu kollektivieren.
Sie soll die Proben aus privatem in staatlichen Besitz überführen? :hmm:
Fremdworte kann man benutzen, wenn man genau weiß was sie bedeuten (oder es nachgeschlagen hat), und wenn sie etwas ausdrücken, was man mit einem gebräuchlicheren Wort nicht so präzise ausdrücken könnte. Ansonsten: Finger weg, du handelst dir nur Ärger ein - und ab und zu unfreiwillige Komik.

Ihr drittes und letztes Ziel waren die tropischen Wälder des Amazonas, wo sie eine Erdprobe sammeln sollte.
Wissenschaftlicher wäre es, von einer Bodenprobe zu sprechen.

Ihr Shuttle, die „Moth01“, war klein und unscheinbar,
Die Marssprache ist also ein vereinfachtes Mandarin, aber das Shuttle bekommt einen englischen Namen? Tja, warum auch nicht, ist auch nicht unlogischer als kroatisch. :p

Echte Bohnen, Paprika, Kartoffeln und Kräuter in Mengen, dass ein fünfköpfiges Luftfilteranlagenreparaturteam davon satt geworden wäre, standen ihr zur Verfügung
All das kann ihr nur in getrocknetem oder püriertem und irgendwie haltbar gemachtem Zustand zur Verfügung stehen, sonst würde es verderben, bevor sie die Erde erreicht hat.

Soon drängte sich der sonderliche Gedanke auf, dass diese alten Pfeiler nicht mehr lange standhielten und dass, wenn sie brächen, ein Indiz weniger auf die einstigen Bewohner dieses Planeten hinwies.
Es gibt sonderbar und absonderlich, wenn man etwas als seltsam beschreiben will. "Sonderlich" ist wenig gebräuchlich, und bedeutet etwas anderes, das ist ein Synonym von "insbesondere". Wenn du dir bei einem Wort nicht sicher bist - der Duden ist dein Freund. Abgesehen vom Ausdruck: Ich glaube nicht, dass Ölbohrplattformen so lange überleben würden. Der Urgroßvater von Soons Großvater kam von der Erde, also sie ist schon die sechste Generation nach der Umsiedlung. Da wäre das Teil lange im Meer versunken.

es würde sein, als hätte sich die Evolution nie mit der Krone ihrer Schöpfung gerühmt.
Das ist keine gelungene Metapher. Evolution und Schöpfung werden in der Regel als Gegensätze gesehen, zwei konkurrierende Erklärungsmodelle für dasselbe Phänomen, von denen eines die Realität extrem gut erklärt und eines ein religiöses Bild aus einer Zeit ist, als die Menschen wesentlich weniger über die Natur wussten. "Schöpfung" für sich genommen wird zwar auch manchmal als allgemeiner Ausdruck für die Gesamtheit der Natur verwendet, aber "Krone der Schöpfung" stammt ganz eindeutig aus einem religiösen Kontext - und zwar einem, der in einer stark asiatisch geprägten Kultur nicht unbedingt zuhause zu sein scheint. Sprich: Das passt einfach nicht.

Soon wurde aus ihrem Sitz geschleudert, stieß sich die Stirn an den Armaturen und verlor das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kam, hatte sich das Shuttle längst wieder ausbalanciert und schwebte ruhig über den nordischen Gewässern.
Das wäre eine Gelegenheit, Spannung aufzubauen, dem Leser ein bisschen Sorge um das Schicksal der Protagonistin empfinden zu lassen. Leider hast du die ganze Geschichte über immer den gleichen emotionslos berichtenden Stil - nur bei den Landschaftsbeschreibungen wird es ab und zu lebendiger. Die sind aber für die meisten Leser nicht so faszinierend. Was die Protagonistin fühlt und denkt, wären interessantere Fragen als die Farben der Gletscher und Wolken.

Soon dokumentierte diese Entdeckung mit ihrer Kamera und lauschte, nachdem sie die Wasserprobe entnommen hatte, noch Stunden den Liedern, die ihr die Wale in hohen Tönen und dem Rampenlicht des Mondes vortrugen.
Ich bin ziemlich sicher, dass Walgesänge nur unter Wasser zu hören sind. Auftauchen tun sie zum Atmen, nicht um zu kommunizieren.

Die Zivilisation war Staub geworden, hatte sich selbst ausgelöscht, so, als war ihre Zeit zu gehen gekommen.
sei

Auf dem Mars war das Element Erde, was für die Erdenmenschen Gold gewesen war.
Erde ist kein Element. Das ist eine raumfahrende Zivilisation, die arbeitet sicher mit dem Periodensystem und nicht mit dem vier-Elemente-Modell der alten Griechen. Und wie gesagt, "Boden" wäre ein besseres Wort als "Erde".

Soon kam der Gedanke, dass man wohl dann erst den Wert einer Sache begriff, wenn man ihrer nicht mehr habhaft war, wenn man seine Toten im stillen, schwarzen Weltall beisetzte, während man davon träumte sie zu beerdigen.
Auf dem Mars wäre das Wort "beerdigen" vielleicht nicht ganz passend, aber einbuddeln kann man Tote sicher auch dort. Das organische Material wiederzugewinnen als Dünger wäre sicher eine vernünftigere Lösung, als Treibstoff zu verschwenden, um Leichen ins Weltall zu schießen. Deine Geschichte handelt doch davon, dass die Menschen auf dem Mars einen vernünftigeren Umgang mit Ressourcen gelernt haben, weil Überleben anders nicht möglich war ... ? So was meine ich mit nicht durchdacht.

Fazit: Gute Ideen und gute Absichten, aber leider noch keine gute Geschichte. Aber wenn du es mit dem Posten neuer Texte ruhiger angehen lässt und dich erst mal mit dem Überarbeiten beschäftigst, kann das durchaus noch werden. :)

Grüße von Perdita

Edit
Ach so, was ich noch sagen wollte: Ich verstehe nicht, warum die Geschichte mit "Märchen" und "Fantasy" getaggt ist. Märchen sind eine literarische Gattung, für die bestimmte Kriterien gelten, von denen ich hier keins erfüllt sehe, und Fantasy enthält in der Regel übernatürliche Elemente, die hier auch nicht vorkommen. Also meiner Meinung nach ist das reine Science Fiction, und wenn du keinen guten Grund hast für die anderen Tags, würde ich die entfernen.

 
Zuletzt bearbeitet:

Guten Morgen Perdita,

ich danke dir vielmals für deine ausführliche Kritik und kann dich in jedem Punkt nachvollziehen. Bei diesem Text handelt es sich in der Tat um einen meiner ersten. Er ist ca. sechs Jahre alt und genau genommen, ist es mein dritter Versuch einer Kurzgeschichte. Was ich in der Folge (etwa bei Thomas Mann) gelernt habe - dass Recherche natürlich sehr wichtig ist - hast du mir hier nochmals auf`s deutlichste vorgeführt.

Auch was die Frequenz meiner Uploads betrifft, kann ich gar nicht anders, als zu verstehen, was du bei einer solch umfänglichen Kritik meinst. Zu meiner Verteidigung will ich sagen, dass deine Kritik, die erste derart detaillierte war, die ich hier gelesen habe und ich mir in Zukunft ein Beispiel an der Genauigkeit deiner Arbeit nehmen werde, denn für den Bewerteten ist es Gold wert!

Ich werde "Mutters Erbe", sobald ich meine derzeitigen Sachen beendet habe, mithilfe deiner Kritikpunkte nochmals durcharbeiten und dabei natürlich auch die Interpunktion korrigieren...

Dann noch zur Gattung: Märchen - Ziel war es, das ganze schon ein wenig Märchenhaft darzustellen. Deshalb auch die ausschweifenden und blumigen Beschreibungen der Natur. Obwohl es in der Zukunft spielt, soll die Erzählung den Eindruck machen, als sei Sie längst niedergeschrieben. Gerade das Ende soll das verdeutlichen. Soon wurde mit den Jahren zum Mythos.

Fantasy habe ich wohl einfach gewählt, weil in der Angabe steht, es können/sollen drei Genres gewählt werden - ist dann künftig wohl überflüssig.

Perdita, vielen Dank für deine Mühe. Ich fühle mich geehrt, dass du dir soviel Zeit genommen hast und werde deine wertvollen Tipps gerne umsetzen!

Die besten Grüße,
Arivd

 

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