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Unterwegs

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28.11.2014
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Unterwegs

Bahnhöfe können prachtvoll und beeindruckend sein: monumentale Denkmale eines aufstrebenden Europas. Unter ihnen die imposanten Pariser Bahnhöfe und der fast gleichzeitig erbaute Keleti, Ungarns Tor nach Osten. Dort war Alia im August.

Jetzt, fast vier Monate später, steht sie mit mir, ihrer alten Freundin, an einem ganz anderen Bahnhof: Empel-Rees. Hier gibt es nur zwei Gleise. Vom Bahnsteig des ersten führt eine Treppe hinab in eine dunkel-feuchte Unterführung, aus der man auf der gegenüberliegenden Seite wieder ans Tageslicht gelangt. Alles ist grau, alles ist Beton. Nur die Latten der einsam dastehenden Bank sind aus Holz. Doch auch sie werden getragen von gegossenen Betonstützen. Ein trostloser, ein verwaister Ort - zumindest, solange sich nicht die zwei oder drei Menschen eingefunden haben, die von einem der ankommenden Züge weggebracht werden möchten.

Während Alia eifrig mit dem Automaten diskutiert, um ihm das günstigste Ticket für unseren Trip nach Düsseldorf zu entlocken, stehe ich fröstelnd hinter ihr. Eine Mütze wäre gut. Mir ist kalt am Kopf. Außerdem verweht dieser feuchte Windzug meine sorgfältig in Form gebrachten Haare. Früher, als mein Haar noch voll und lang war, konnte ich es hochstecken. Das lassen meine kurzen und dünneren Haare jetzt nicht mehr zu und bei Wind wirke ich immer leicht gerupft. Ja, eine Mütze – daran hätte ich denken sollen. Alia ist da besser dran. Ihr türkisfarbenes Kopftuch schützt ihren Kopf vor dieser nasskalten Niederungsluft. Der lange schwarze Tuchmantel weniger. Es ist dringend nötig, dass sie sich einen Wintermantel kauft, denke ich. Vielleicht finden wir ja heute einen.

Der Automat rattert und spuckt zwei Tickets aus.
Alia dreht sich um und reicht mir meins. Türkis steht ihr gut, denke ich. Irgendwie unterstreicht es ihre Augen, die auch mit Mitte Fünfzig noch groß und ausdrucksvoll sind. Amüsiert stelle ich fest, dass sie mit einem feinen türkisfarbenen Lidstrich nachgeholfen hat.

„Ist dir nicht kalt?“, frage ich sie.
„Schon, etwas. Zum Glück habe ich an einen dicken Pullover gedacht. Und außerdem sitzen wir gleich im warmen Abteil. Noch sechs Minuten.“

Sie hat es kaum ausgesprochen, da beginnt der schwarze Kasten über uns lebendig zu werden. Eine Schnarrstimme teilt uns mit, dass unser Zug ausfällt. Es tue ihnen leid, ein Ersatzzug komme in zwanzig Minuten.

„Scheiße!“, tönt es von der Holzbank. Eine junge Frau steht auf und kommt zu uns.
„Habe ich das richtig verstanden? Wir müssen noch 20 Minuten warten?“
„Ja, das scheint so.“
„Typisch Bahn. Damit hat sich das dann auch mit meinem Anschluss erledigt.“
Sie stellt sich vor uns und schaut hoch zum schwarzen Kasten, so als hoffe sie, dass es sich die schnarrende Stimme noch einmal überlege. Doch auch das schwarz-gelbe Spruchband bestätigt jetzt die Verspätung.

Resigniert dreht sie sich um. Sie ist kleiner als wir, kompakt und stämmig. Unter ihrer schwarzen Kapuze lugt eine Frisur hervor, wie ich sie bisher nur bei pubertierenden Jungen gesehen habe: kurze schwarze Haare, spitz nach oben gestylt. Die kleinen Piercingringe an Lippen und Nase empfinde ich als merkwürdigen Widerspruch zu ihrer gesunden Hautfarbe und den rosig durchbluteten Wangen. Und auch ihre lebhaften blauen Augen scheinen mir nicht zu den Tätowierungen zu passen, die am Ende der Ärmel sichtbar werden und fast bis zu den Händen reichen. Wieder diese stumpfen Rot-, Blau- und Grüntöne, denke ich. Gibt es eigentlich keine frischeren Farben für Tattoos oder funktioniert das dann nicht?

„Haben Sie kein Problem mit der Verspätung?“, wendet sich die junge Frau an mich.
„Ach, eigentlich nicht. Ist schon blöd, aber das wird sich ja hoffentlich bald ändern.“
„Und ihre … Freundin?“ Sie betrachtet Alias schwarzen Stoffmantel. „Ist sie nicht zu dünn angezogen für hier?“
Ich nicke und drehe mich zu Alia: „Was denkst du? Sollten wir in Düsseldorf mal nach einem Wintermantel schauen?“
„Hm, ja. Ist wohl nötig. Hab ganz vergessen, wie ungemütlich der Winter bei euch sein kann.“
Die junge Frau betrachtet Alia neugierig.
„Entschuldigung. Ich habe gedacht, Sie sprechen kein Deutsch.“ Sie mustert Alias Gesicht und ihr Kopftuch. „Woher kommen Sie? Aus Syrien?“ Ihre blauen Augen blicken Alia offen und interessiert an.
„Ja. Genau.“
Die Kleine freut sich, dass sie richtig gelegen hat. „Und wie lange sind Sie schon hier?“
„Erst ein paar Monate.“
„Und dann sprechen Sie schon so gut Deutsch?“
Alia lächelt und schaut mich an.
„Ja, ich hatte eine gute Lehrerin.“ Sie schmunzelt. „Aber das ist schon viele Jahre her. Da war ich schon einmal hier.“
Die gepiercten Lippen verziehen sich zu einem verschmitzten Lächeln. Sie sieht mich an: „Soll ich raten? Sie sind die Lehrerin.“
Alia und ich lächeln.
„Und dann haben Sie sich nach so vielen Jahren wieder getroffen?“
„Ja, Alia kannte ja meine Schule und es war nicht schwer, mich zu finden.“
„Ist ja irre.“ Die Kleine findet Gefallen an unserem Gespräch.
„Ich bin übrigens auch nur eine halbe Deutsche, müssen Sie wissen. Soll man nicht denken, bei meinen Augen. Aber wirklich: Meine Mutter ist Türkin. Sie ist als junges Mädchen mit ihren Eltern hierher gekommen. Ihr Deutsch ist super, klingt aber immer noch irgendwie komisch.“

Der Damm ist gebrochen. Innerhalb weniger Minuten erfahren wir einiges. Die junge Frau ist Friseuse, heißt Bircan und fährt an diesem ersten Dezember-Wochenende zu ihrer Großmutter nach Dortmund. In Syrien sei sie natürlich noch nicht gewesen, aber in der Türkei. Als kleines Mädchen habe ihr Großvater sie zu einem Wettkampf nach Istanbul mitgenommen. Sie erinnere sich noch ganz genau an diesen Sultanspalast und die große Moschee.
Was sie dann im Bazar erlebt hat, erfahren wir nicht mehr, denn endlich kommt der Zug.

Er ist noch fast leer und Alia und ich finden recht schnell unsere Plätze. Wir mögen es beide, in Fahrtrichtung zu sitzen. Das Handy unserer neuen Freundin klingelt und sie setzt sich in die Bank an der anderen Seite des Ganges. Ich weiß nicht, was Alia denkt, aber ich bin nicht traurig, dass der Redefluss der Kleinen unterbrochen worden ist.
Wir sitzen ruhig nebeneinander, betrachten die an uns vorüberziehende trüb-graue Gegend mit ihren Wiesen und blattlosen Baumgruppen.
Alia ist ganz heiß darauf, einen großen deutschen Weihnachtsmarkt zu sehen. Vor dreißig Jahren, als sie zum ersten Mal in Deutschland war, gab es nur wenige dieser Märkte.
Außerdem tut uns so ein Frauen-Wochenende mal wieder gut. In der Woche helfen wir beide einer Flüchtlingsinitiative: Ich gebe ein paar Stunden Deutsch und sie kümmert sich um gesundheitliche Probleme der Flüchtlinge. Als Hautärztin darf sie noch nicht praktizieren.

Allmählich füllt sich unser Abteil. Bircan ist immer noch mit ihrem Handy beschäftigt, tippt und wischt. Ihr gegenüber sitzt jetzt eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter.

Auch die beiden Plätze vor uns werden besetzt. Wir ziehen unsere Knie zurück. Ungepflegte Typen, denke ich. Beide scheinen sich noch mit Bier versorgt zu haben. Der Kleinere öffnet die Dose, nimmt einen Zug und vertieft sich in das Display seines Handys. Auch der größere, der Alia gegenübersitzt, hat sein Bier geöffnet und trinkt. Unter seinem rechten Auge hat er ein längliches Feuermal. Ich kenne so etwas. Einer meiner Neffen wurde mit einem ähnlich roten Flecken geboren. Er ließ ihn später weglasern. Ich überlege, ob dieser junge Mann auch darunter leidet. Er indes scheint seine Umgebung nicht wahrzunehmen, leer sehen seine etwas wässrigen Augen nach vorne. Dann ändert sich sein Blick.
Er fixiert Alia:
„Was glotzt du so?“
Ich habe nicht bemerkt, dass auch Alia den Jungen angeschaut hat. Wahrscheinlich ist ihr fachliches Interesse geweckt worden.
„Entschuldigung, das wollte ich nicht. … Es tut mir leid.“ Ich spüre Alias Betroffenheit.
„Entschuldigung, Entschuldigung. Hab ich dich etwa angeglotzt? Du mit deinem komischen Turban?“
Er trinkt einen Schluck.
„Was wollt ihr hier eigentlich? … Kommt einfach alle rüber und nehmt uns die Arbeit weg.“
„Also bitte!“, schalte ich mich ein, „Sie haben die Entschuldigung gehört. Damit sollte es jetzt gut sein.“
„Gut sein? Gut sein? Nichts ist gut! Ich kriege keine Arbeit. Und die da kommen und bekommen gleich alles.“
Alia schaut auf ihre Hände.
Seine Stimme wird lauter: „Ja, guck nur weg. Euch habe ich das alles zu verdanken. Kein Geld, keine Arbeit. Nichts.“
Nebenan entsteht Unruhe. Die Mutter erhebt sich, fasst ihr Kind an der Hand und geht zur Abteiltür.
„Nur euch.“ Er stupst Alia mit dem Zeigefinger auf ihren inzwischen gesenkten Kopf. „He, guck mich an. Das hilft jetzt auch nichts, dass du runterguckst.“
„Komm, Alia, wir suchen einen anderen Platz.“
Ich erhebe mich, aber gleichzeitig schnellen die Beine des Jungen nach vorne und verstellen uns den Weg.
„Ihr bleibt hier und hört euch mal an, wie es mir geht.“ Er beugt sich zu Alia und wartet darauf, dass sie den Kopf hebt. Sein Gesicht befindet sich nun ganz nahe an ihrem Kopftuch. Das rote Mal erscheint mir plötzlich greller, seine Konturen schärfer.
Er schnauft, eine Pause entsteht.
Nebenan steckt Bircan ihr Handy in die Tasche. Wahrscheinlich macht sie sich jetzt auch davon, denke ich. Langsam erhebt sie sich und tritt in den Gang, ihre Tasche auf der Bank lassend.
Der Atem des Jungen geht schwer. Wir sitzen starr und warten darauf, dass er fortfährt.
Da tritt Bircan neben ihn und tippt ihm auf die Schulter: „Könntest du die Damen mal in Ruhe lassen.“
Irritiert hebt er seinen Kopf und schaut zur Seite: „Was willst du denn, du Zwerg? … Setzt dich hin und kümmre dich um deinen Kram.“
„Ich möchte, dass du dich entschuldigst und dich dann vom Acker machst.“
Der Junge schaut Bircan gespielt fragend an: “Kannst du das noch mal sagen? Ich glaube, ich habe dich nicht verstanden.“
„Ich möchte, dass du dich entschuldigst.“
„Spinnst du. Was mischst du dich hier eigentlich ein? Hau ab!“
„Nein.“
Dem Jungen reicht es. Er steht auf, streckt seine Hand nach vorne und will Bircan zurückschieben.
Plötzlich geht alles sehr schnell. Ein Ruck, eine kurze, heftige Bewegung und der große Kerl liegt auf dem Boden. Alia und ich verfolgen das Geschehen fassungslos. Erst jetzt bemerke ich, dass meine Hände feucht und kalt sind.
Der Gesichtausdruck des Jungen ist eine Mischung aus Überraschung und Schmerz. Bircan hat sich über ihn gebeugt. Ihre Hand hält seinen Arm und hat ihn so nach hinten gewinkelt, dass es ihm nicht gelingt, sich aus ihrem Griff zu befreien. Er ruckt, kann sich aber nicht erheben. Der Ärmel ihrer schwarzen Jacke ist etwas hochgerutscht und gibt einen Vogel mit grünen, roten und blauen Federn frei.
„Hör auf …“, bittet der Junge.
„Sag, dass es dir leid tut und du kannst gehen.“
„Verdammt, lass mich los. … Ja, okay, … es tut mir leid. Und jetzt mach Schluss.“
Bircan hat mit ihrem Fuß auch den anderen Arm des Jungen blockiert und die Bierdose ist ihm aus der Hand gefallen. Ein dünnes hellbraunes Rinnsal bewegt sich auf den Schuh seines Kumpels zu. Auch der ist starr.
Langsam öffnet Bircan ihre Hand und lässt den Jungen frei. Umständlich, beinahe torkelnd, erhebt er sich. Sein Fuß stößt gegen die Bierdose, die rollend unter der Bank verschwindet. Auch sein Freund steht nun auf und geht zum Gang. Wortlos schieben sie sich an der abwartend stehenden Bircan vorbei.

Ich schaue den Jungen hinterher. Beklommen verweilt mein Blick auf dem Rücken des Größeren. Ich atme tief durch und langsam löst sich meine innere Anspannung.

Nebenan beugt sich Bircan über ihre Tasche und zieht den Reißverschluss zu.
Alia steht auf. Sie ist die erste von uns beiden, die die Sprache wiederfindet: „Ich danke Ihnen sehr. Das war sehr sehr mutig von Ihnen.“
Bircan wendet sich lächelnd um. Sie schaut Alia an und dann an ihr vorbei zur geschlossenen Abteiltür. Ihre Miene wird ernster: „Echt ne arme Socke.“

Ich habe mich gefangen. Doch mich lässt das soeben Erlebte noch nicht los: „Wie haben Sie das bloß gemacht? Ist das Judo oder Karate? Wie macht man denn so was?“

„Ach ja, richtig. Das wollte ich vorhin noch erzählen.“ Bircan reißt sich los und verfällt wieder in den uns bekannten Plauderton: „Wir waren ja in Istanbul zu diesem Wettkampf. Mein Großvater konnte alles: Karate, Jiu Jitsu, alle diese Sachen. Ja, und er hat mir schon ganz früh das Wichtigste beigebracht. Irgendwie hatte er immer Angst, dass ich zu klein bin und jeder mit mir machen würde, was er wollte. Ich war noch keine vierzehn, da konnte ich schon alles.“ Sie denkt kurz nach. „Eigentlich ist alles nur Technik. Man muss den Hebel kennen und den anderen überraschen, dann klappt das schon.“

Sie nimmt ihre Tasche.
„Jetzt kommt Duisburg. Hier muss ich umsteigen. Wahrscheinlich sitze ich noch eine Dreiviertelstunde in der Kälte, bis der Zug nach Dortmund kommt. Scheiß Bahn.“
Sie schaut Alia an: „Sie müssen sich unbedingt einen wärmeren Mantel kaufen. Das ist ganz wichtig. Der Winter kann hier wirklich kalt werden.“ Ein wenig unschlüssig steht sie im Gang. „Ach ja. Hätte ich beinahe vergessen. Schon jetzt: Schöne Weihnachten.“
Wir erwidern ihren Wunsch und schauen ihr nach, wie sie unseren Blicken hinter der sich schließenden Abteiltür entschwindet.

 

Hallo barnhelm,

monumentale Denkmale eines Europas, das einer wohlhabenden Zukunft entgegensah.
Oha, war wohl nichts mit der wohlhabenden Zukunft, geht mir durch den Kopf. Was jetzt wohl kommt.

Dort war Alia im August
Also die Zielrichtung der Geschichte dürfte schon deutlich sein - Syrien - Flüchtlinge - Muslime ...

Und doch, langsam fast behäbig, die Verspätung auskostend bewegt sich die Geschichte voran. Dann eskaliert die Situation.

Wahrscheinlich macht sie sich jetzt auch davon, denke ich.
Und ich denke: Wenn sie das wirklich tut, mag die Geschichte realistisch sein, aber nur für die Tonne geeignet.

Und dann muss ich zu wiederholten Male feststellen, dass auch Nebensächlichkeiten wie der Wettkampf eine Bedeutung haben können. Eine schöne Geschichte über Solidarität und Freundschaft.

Ihre Miene wird ernster: „Echt ne arme Socke.“
Das Problem "Fremdenfeindlichkeit" bleibt bestehen, aber die Ablehnung ist nicht gegenseitig. Es besteht noch Hoffnung.

An zwei Stellen habe ich gestockt:

Die Kleine findet Gefallen an unserem Gespräch.
Dann folgt eine neue Zeile, so dass es so aussieht, als ob jetzt jemand anders redet. Ich hatte erst einmal auf die Ich-Erzählerin getippt.

Sie erinnere sich noch ganz genau an diesen Sultanspalast
Welchen? Ist da ein bestimmter/berühmter Palast gemeint? Oder hat er was mit dem Wettkampf zu tun?

Gerne gelesen.

Liebe Grüße

Jobär

 

Lieber jobär,

danke fürs Lesen meiner kleinen Geschichte.

Bei meinem letzten Besuch in Deutschland habe ich auf eben dem beschriebenen Bahnhof diese junge Frau kennengelernt. Wir mussten bei nasskaltem Wetter auf den Ersatzzug warten und kamen ins Gespräch. Dabei hatte ich das Gefühl, ein Vexierbild vor mir zu haben: Die junge Frau, die zuerst wie ein Punk auf mich wirkte, entpuppte sich als eine sehr sensible und menschliche Person mit vielen Facetten, die ich hier noch nicht einmal alle ausgebreitet habe, es hätte wohl übertrieben gewirkt. Aber sie hat auf mich einen so starken Eindruck gemacht, dass ich sie einfach in eine Geschichte packen musste. Schön, dass sie (die Geschichte) dir gefallen hat.

Zum Sultanspalast: Ich glaube, so wie sie es sagt, kann es bleiben. Sie war damals ein Kind und kann sich eben nur an diesen Palast erinnern, egal, ob das nun der Topkapi oder ein anderer war. Deshalb ist das so allgemein formuliert.

Jobär, ich wünsche dir weiterhin einen schönen Advent.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Liebe barnhelm,

manchmal seh ich den Palast vor lauter Worten nicht. Klar, wenn sie es in diesem Sinne sagt, "diesen Sultanspalast, weiß nicht mehr, wie er heißt ..." dann stimmt das dieses genau.

Liebe Menschen und packende Geschichten wünsche ich*Dir zur Adventszeit.

Jobär

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Barnhelm,

Deine Geschichte gefällt mir sehr gut, auch wenn ich an der einen oder anderen Stelle etwas auszusetzen habe. Mich regt sie zum Nachdenken an, vielleicht auch, weil ich die eskalierende Situation in der Bahn auf verschiedene Arten interpretieren könnte. Aber der Reihe nach:

Bahnhöfe können prachtvoll und beeindruckend sein: monumentale Denkmale eines Europas, das einer wohlhabenden Zukunft entgegensah. Unter ihnen die imposanten Pariser Bahnhöfe und der fast gleichzeitig erbaute Keleti, Ungarns Tor nach Osten. Dort war Alia im August.

Der erste Satz, er muss hart sein wie Stahl. Man arbeitet ihn heraus, schleift und bürstet, schneidet und feilt ..., sagt Tomas Espedal.

Ich glaube, es ist besonders wichtig, am Anfang eines Textes ganz genau zu arbeiten und jede Irritation des Lesers zu vermeiden. Ich kam bei Deinem Start ins Stocken, erstens weil bereits im ersten Satz ein Wechsel von der Gegenwart (Bahnhöfe können prachtvoll sein) zur Vergangenheit (Europa sah einer wohlhabenden Zukunft entgegen) stattfindet und zweitens, weil die Zukunft nicht wohlhabend sein kann. Das ist eine fehlerhafte Adjektivkonstruktion, meine ich. Zumindest klingt es höchst suspekt. Ich würde das ändern.

Dieser eigenartige Anfang ist deshalb erstaunlich, weil die Geschichte im weiteren Verlauf sehr schön geschrieben und für mein Empfinden stilistisch nahezu fehlerfrei ist. Besonders gut gefällt mir die präzise, schlichte und gleichzeitig fließende Art Deines Erzählens.

„Scheiße!“, tönt es von der Holzbank. Eine junge Frau steht auf und kommt zu uns.

Das fand ich eigenartig, denn die Bank wurde ja vorher schon erwähnt, und ich stellte sie mir vor, auch weil Du sie so gut beschrieben hast. Jetzt stellt sich heraus, dass das Mädchen auf der Bank saß, und das führt rückwirkend zu einer Irritation, den nun muss ich das vorher entstandene Bild wieder korrigieren. Ich denke, das ist handwerklich problematisch. Besser ist es, das im Kopf des Lesers entstandene Bild entweder so zu belassen oder es nach und nach dort zu ergänzen, wo sich das neue Material problemlos integrieren lässt. Dass auf einer zuvor scheinbar leeren Bank (auch wenn das nicht explizit geäußert wurde) jetzt ein Mädchen sitzt, ist ein heftiger Sprung.

„Habe ich das richtig verstanden? Wir müssen noch 20 Minuten warten?“
„Ja, das scheint so.“
„Typisch Bahn. Damit hat sich das dann auch mit meinem Anschluss erledigt.“

Hier hast Du die Möglichkeit, den mündlichen Dialog zu betonen, in dem Du ein bisschen reduzierst:

„Ja, scheint so.“
„Typisch Bahn. Damit hat sich mein Anschluss erledigt.“

Oder so ähnlich. In gesprochenen Dialogen nutzen wir grundsätzlich eher kürzere Varianten, sprechen kein Schriftdeutsch.

„Haben Sie kein Problem mit der Verspätung?“, wendet sich die junge Frau an mich.
„Ach, eigentlich nicht. Es ist natürlich blöd, hier in diesem nasskalten Luftzug zu stehen, aber das wird sich ja hoffentlich bald ändern.“
„Und ihre … Freundin?“ Sie betrachtet Alias schwarzen Stoffmantel. „Ist sie nicht zu dünn angezogen für hier?“
Ich nicke und drehe mich zu Alia: „Was denkst du? Sollten wir in Düsseldorf mal nach einem Wintermantel schauen?“
„Hm, ja. Ist wohl nötig. Ich hatte ganz vergessen, wie ungemütlich diese Wintermonate bei euch sein können.“

Auch bei diesem Dialog denke ich mir, dass es nur sehr wenige Leute gibt, die so formal-korrekt und ausschweifend reden. Besonders diese Sätze klingen formal:

Es ist natürlich blöd, hier in diesem nasskalten Luftzug zu stehen.

Ich hatte ganz vergessen, wie ungemütlich diese Wintermonate bei euch sein können.

Vor dreißig Jahren, als sie zum ersten Mal in Deutschland war, gab es nur wenige dieser Märkte.
Außerdem tut uns so ein Frauen-Wochenende mal wieder gut.

Das ist ein Fragezeichen. Einerseits ist die Formulierung etwas eigenartig: Außerdem tut uns so ein Frauen-Wochenende mal wieder gut – da würde man denken, das letzte Frauen-Wochenende läge ein paar Wochen (oder von mir aus zwei, drei Monate) zurück, aber nein – scheinbar ist das viele Jahre her. Und außerdem: Wenn die Beiden befreundet wären, dann wüsste Alia sicher die Wohn-Adresse der Erzählerin und müsste sich nicht über ihre Schul-Adresse an sie wenden. All diese Dinge gehen in die Richtung, dass die Beziehung der beiden Frauen ein wenig widersprüchlich beschrieben wird.

Sind sie gute Freundinnen? Sie sind sie ehemals Schülerin und Lehrerin? Das würde die Frage nach dem Altersunterschied aufwerfen: Wenn Alia jetzt über fünfzig ist, wäre die Erzählerin dann nicht schon im Rentenalter? Wie kann es dann aber sein, dass sie noch in der Schule arbeitet und Flüchtlingen Deutsch-Unterricht gibt. Usw. usf.

Ich denke, auf all diese Fragen lassen sich mit einiger Kreativität plausible Antworten geben, aber so funktioniert das Geschichtenerzählen nicht. Das sind ja letztlich unerhebliche Details, und man will als Autor nicht, dass sich der Leser über solche Nebensächlichkeiten den Kopf zerbricht. Deshalb baut man da eine einfache Randgeschichte, die keine Fragen aufwirft. Würde ich jedenfalls so machen oder zumindest versuchen.

Ich habe nicht bemerkt, dass auch Alia den Jungen angeschaut hat. Wahrscheinlich ist ihr fachliches Interesse geweckt worden.

Ich finde das gut gelöst. Das Fachinteresse von Alia ist Ausgangspunkt für die eskalierende Situation in der Bahn. Ich finde es auch gut, dass jetzt der zuvor erwähnte Wettkampf des türkischen Mädchens eine neue Bedeutung erhält. Besonders in der "Spannungsliteratur" wird dieses Mittel häufig eingesetzt, um die Konsistenz einer Geschichte zu verstärken: Der Leser gewinnt den Eindruck, dass hier alles mit allem zusammengehört, dass jede Information, so belanglos sie anfänglich wirken mag, eine weiterreichende Bedeutung besitzt. Wir empfinden das beim Lesen als sinnstiftend, und das befriedigt uns.

Tja, und nun die Sache mit unserer kleinen Kämpferin. Ich sage erst mal was zum Realitätsaspekt der Schilderung:

„Ach ja, richtig. Das wollte ich vorhin noch erzählen.“ Bircan reißt sich los und verfällt wieder in den uns bekannten Plauderton: „Wir waren ja in Istanbul zu diesem Wettkampf. Mein Großvater konnte alles: Karate, Jiu Jitsu, alle diese Sachen. Ja, und er hat mir schon ganz früh das Wichtigste beigebracht. Irgendwie hatte er immer Angst, dass ich zu klein bin und jeder mit mir machen würde, was er wollte. Ich war noch keine vierzehn, da konnte ich schon alles.“ Sie denkt kurz nach. „Eigentlich ist alles nur Technik. Man muss den Hebel kennen und den anderen überraschen, dann klappt das schon.“

Da die Äußerungen zur Kampfkunst ja von Bircan selbst gemacht werden, kann man das durchaus so stehen lassen, weil der Leser sich dann seinen Teil dazu denken mag. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es nicht Leser geben könnte, die das, was Bircan da sagt, fälschlicherweise für bare Münze halten könnten.

Erstens: Einen Mann, der "alles kann", der Karate, Jiu Jitsu und "all diese Sachen" beherrscht, gibt es nicht. Zweitens: Eine Vierzehnjährige, "die alles kann", gibt es noch viel weniger. Und drittens: „Eigentlich ist alles nur Technik. Man muss den Hebel kennen und den anderen überraschen, dann klappt das schon.“ – Das stimmt überhaupt nicht.

Das Schwierigste in einer solchen Situation – und das betonen sowohl zivile Selbstverteidigungstrainer, als auch Militärausbilder - besteht darin, die (Angst-) Hemmung vor dem Kampf zu überwinden. Es gibt etliche Fälle, in denen baumstarke Männer und auch Kampfsportler auf der Straße von Hänflingen zu Klump geprügelt wurden, weil sie nicht die Hemmungslosigkeit bzw. den Mut (wenn man es so bezeichnen will) ihrer Gegner besessen haben. Wichtiger als jede Technik ist der Wille zum Kampf. Aber wie gesagt: Da Bircan dieses Statement macht, kann man akzeptieren, dass das eben ihre persönliche Sicht der Dinge ist, die sich eben nicht mit den Tatsachen deckt.

Schwieriger ist aber die Interpretation dieser kleinen Auseinandersetzung. Zweifellos ist der Typ im Zug, der Alia mit seinen dumpfen Parolen vollschwallt, ein Ärgernis. Man kann auch sagen, dass das Verstellen des Weges juristisch betrachtet etwas mit Nötigung zu hat. Bircan interveniert, und der Junge will sie zurück- oder wegschieben. Dass, was Bircan dann macht, ist vom juristischen Standpunkt her (nur nebenbei erwähnt) problematisch. Jemanden, der mich wegschieben will, mit einem ruckartigen und schmerzhaften Griff zu Boden zu schleudern, ist sicher nicht durch den Notwehrparagraphen abgedeckt. Aber sei es drum.

Interessanter scheint mir die Frage, ob das die Verfahrensweise ist, die die Autorin zum Umgang mit Figuren dieser Art vorschlägt: Stoppen, zu Entschuldigung und Reue zwingen, und wenn sie nicht Folge leisten, zu Boden werfen. Einerseits kann ich diesen sehnsuchtsvollen Blick in Richtung vermeintlicher Gerechtigkeit nachvollziehen. Andererseits habe ich entscheidende Zweifel, dass sich durch derartiges Verhalten etwas in die Richtung ändert, die wir uns alle wahrscheinlich wünschen: mehr Toleranz, mehr Solidarität, mehr Miteinander.

Es ist völlig klar: Wenn man durch persönliches Training kämpferische Fähigkeiten erlangt hat, wenn man in der Lage ist, einem Mann mit einem Griff den Arm auszurenken, sieht man die Welt mit anderen Augen. Man fragt sich automatisch, wie viel blödes Gequatsche man sich eigentlich bieten lassen muss. Aber genau an diesem Punkt könnte man auch sagen, dass es jetzt lohnt, weiter zu gehen. Wenn ich mich nicht so leicht angegriffen fühlen muss, dann darf ich mir auch die Zeit nehmen, einen Konflikt auf andere Weise zu lösen. Ich finde, in dieser Geschichte wird zwar Zivilcourage demonstriert, aber es wird auch eine Chance für echten Dialog verpasst.

Ich glaube, die Situation hätte sich anders lösen lassen, auch wenn Du natürlich eine plausible Ereigniskette beschreibst. Besonders aufschlussreich ist dabei die persönliche Beziehung der drei Frauen, die sich durch das Gespräch auf dem Bahnhof entwickelt hat und jetzt ein entscheidender Grund für das Eingreifen von Bircan ist. Wir neigen dazu, eher die zu verteidigen, die wir kennen, also solche, die uns fremd sind.

Gerade vor diesem Hintergrund des eskalierenden Streits finde ich das eine spannende Geschichte, die Du gut in Szene gesetzt hast. Über den ausbrechenden Konflikt lässt sich gut streiten. Sehr gern gelesen, Barnhelm.

Beste Grüße
Achillus

 

Lieber Achillus,

ich danke dir dafür, dass du meine kleine Geschichte noch einmal aus der Versenkung geholt hast und natürlich freue ich mich auch darüber, dass sie dir gefallen hat.

Zum Anfang: Ihn habe ich ein wenig verändert, möglicherweise nehme ich ihn ganz weg. Ich war ein bisschen verliebt in diesen Gegensatz der Bahnhöfe.

Zu Alia:
Ich habe im August einen Blog ‚Hoffnung Europa’ eingestellt, der auch zu meiner Freude sehr häufig angeklickt worden ist. Ein Text in diesem Block handelt von meiner alten syrischen Freundin Alia und er ist, was die Vorgeschichte angeht, autobiographisch.
Bei meinem jetzigen Text hat es mich gereizt, gedanklich mal so zu tun, als wäre Alia nun wirklich nach Deutschland gekommen. Ich wollte mich aber nicht mit einer konkreten Flüchtlingssituation auseinandersetzen, weil ich da zu wenig Informationen habe. Ich bin in der letzten Zeit relativ selten in Deutschland und bekomme alles nur durch die Medien mit.
Ein wenig spiele ich mit dem Gedanken, die beiden Texte aufeinander zu beziehen und vielleicht eine kleine Serie daraus zu machen.

Der zweite Anlass meines Textes war die Begegnung mit dieser jungen Frau (Bircan) , die ich gerne verarbeiten wollte. Und ihre Beschreibung ist fast authentisch, eigentlich war sie noch facettenreicher, als ich sie hier beschrieben habe. Ob alles, was sie mir erzählte, so stimmte, kann ich natürlich nicht sagen. Das mit ihren Selbstverteidigungsfähigkeiten wurde von ihr zumindest so behauptet. So kam mir die Idee dieser Auseinandersetzung. Und ich war wirklich gespannt auf die Reaktion derjenigen, die etwas mehr als ich von der Sache verstehen.

Eine rein verbale Auseinandersetzung ist mir so pointiert leider nicht eingefallen. Aber ich verstehe deinen Gedankengang.

Interessanter scheint mir die Frage, ob das die Verfahrensweise ist, die die Autorin zum Umgang mit Figuren dieser Art vorschlägt: Stoppen, zu Entschuldigung und Reue zwingen, und wenn sie nicht Folge leisten, zu Boden werfen. Einerseits kann ich diesen sehnsuchtsvollen Blick in Richtung vermeintlicher Gerechtigkeit nachvollziehen. Andererseits habe ich entscheidende Zweifel, dass sich durch derartiges Verhalten etwas in die Richtung ändert, die wir uns alle wahrscheinlich wünschen: mehr Toleranz, mehr Solidarität, mehr Miteinander.
Achillus, das liegt mir natürlich fern. Im Grund wollte ich durch die Darstellung dieses armen Jungen beim Leser eher so etwas wie Empathie hervorrufen. Der ist eh schon mies dran und bekommt jetzt auch noch zusätzlich einen drauf. Ganz verrückt war, dass mir beim Schreiben dieser Junge immer näher kam und mir richtig leid tat. Für mich eine interessante Erfahrung, wie sich eine von mir ausgedachte Person verselbständigt und bei mir sogar Mitleid auslöst.

Zu den Dialogen: Da hast du völlig Recht. Da muss ich noch mal ran. Verkürzen ist ein guter Tipp. Werde ich mich heute mal dransetzen. Deine weiteren Gedanken werde ich mir durch den Kopf gehen lassen. Es ist so wie bei der Paris-Geschichte: Ich warte noch auf einen Motivationsschub, um mich noch mal dranzumachen. Im Moment hat mich auch das TdM-Fieber erwischt und ich bastle an einer kleinen Geschichte. Du gehst die Sache mit dem Schreiben ja viel professioneller an als ich. Für mich ist das immer noch ein kleines Hobby neben anderen. Aber eines, was mir sehr viel Spaß macht.

Achillus, ich wünsche dir eine schöne Woche.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Hallo barnhelm!

Ich setzte mein Fazit gleich an den Anfang, dann haben wir es hinter uns: Für mich funktioniert die Geschichte (als Geschichte) nicht. Mir fehlt da der Fokus, das Konzentrieren auf das eine Thema der Geschichte. Was soll dieses Thema sein (für dich)? Für mich liest es sich wie: ein bisschen Hiervon, ein bisschen Davon. Nichts Halbes und nichts Ganzes halt.

Leider habe ich noch mehr Kritikpunkte. Sorry.

Also, deine Figuren kommen bei mir als wandelnde Klischees an.

Bircan hier: „Entschuldigung. Ich habe gedacht, Sie sprechen kein Deutsch.“
=> Wie zum Teufel kommt sie denn da drauf? Bloß, weil Alia ein Kopftuch trägt? (Und das von einer Frau, die selbst Migrationshintergrund hat?) Und ohnehin, hat sie Alia und die Ich-Erzählerin denn nicht reden hören? Die hören im Gegenzug doch auch, dass sie "Scheiße" sagt.

Der fremdenfeindliche Junge ebenfalls: "Was wollt ihr hier eigentlich? … Kommt einfach alle rüber und nehmt uns die Arbeit weg." Das ist doch aus der Fremdenfeindlichkeits-Klischee-Rangliste, erster Platz, oder?
=> Besonders bei diesem Jungen habe ich das Gefühl, dass du es nicht schaffst, dich in ihn hineinzudenken. Menschlich ist das schön, man muss sich ja nun nicht wirklich in jeden Idioten reindenken können, aber schriftstellerisch ist das ein Problem. Antagonisten müssen genauso gut, genauso glaubwürdig gezeichnet sein wie die Protagonisten.

Letzter Punkt: Das gewalttätige Ende. Damit habe ich ebenso ein Problem wie Achillus. Er hat sich zu dem Punkt ja recht ausführlich geäußert, ich stimme ihm zu.
Beim Lesen sind bei mir allerdings auch noch immer Gedankenblitze aufgeflammt: Bist du blöd, Bircan? Gleich liegst du tot da! Es gab doch mehrere Fälle, die in den letzten Jahren Schlagzeilen gemacht hatten.
=> Dass dieser Junge sich so von einer Frau fertigmachen lässt (und auch nicht später zu einem Rachefeldzug startet) und sein Kumpel einfach nichts tut - betrunken und aggressiv ist was anderes.

=> Ich finde die Figurenzeichnung nicht stimmig, barnhelm. Da solltest du nachlegen.

So, das war's. Entschuldige die klaren Worte, aber das Honig-um-Kritik-schmieren liegt mir einfach nicht.

Grüße,
Chris

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe Chris Stone,

danke für deinen ehrlichen Kommentar. Das mag ich an deinen Kommentaren, sie drücken aus, was du wirklich meinst.

Für mich liest es sich wie: ein bisschen Hiervon, ein bisschen Davon. Nichts Halbes und nichts Ganzes halt.

Ja, die beiden Figuren. Natürlich zeige ich im Wesentlichen ihre Oberfläche. Aber wenn du einmal genau hinschaust, habe ich versucht, doch ein bisschen zu differenzieren. Dieser Junge ist ja nicht wirklich bösartig, er ist nur einfach ein vom Schicksal Gebeutelter, der endlich mal die Möglichkeit sieht, jemanden sein Schicksal zu präsentieren. Inwieweit er selber Schuld daran trägt, diese Frage stelle ich nicht, ist hier auch nicht mein Thema. Aber er hat dieses Bedürfnis, jemanden zu finden, dem er sich mal erklären kann.

„Ihr bleibt hier und hört euch mal an, wie es mir geht.“

Ein bisschen betrunken, wie er ist, verhakt er sich in diesem Ansinnen und wirkt in seinem Verhalten aggressiv. Und auch, als es ihm endlich mit Brican reicht, wirkt er bedrohlich, was zu Bircans Reaktion führt. Für mich sollte sich eins aus dem anderen ergeben. Inwieweit mir das gelungen ist, kann ich nicht sagen.

Also, deine Figuren kommen bei mir als wandelnde Klischees an.

Genau das Gegenteil wollte ich eigentlich erreichen. Ich wollte eben nicht den brutalen und bösen Arbeitslosen zeigen, sondern einen Jungen, der verzweifelt ist, der endlich mal über seine Situation reden, am liebsten seine Misere der ganzen Welt mitteilen möchte. Und sich dann, als er merkt, dass dies wieder nicht gelingt, aggressiv verhält. Natürlich hat er die Stammtisch- oder ‚Pegida’-Begründungen in seinem Kopf und nimmt sie als Erklärung für sein eigenes Schicksal.

Auch Bircan wollte ich eigentlich nicht eindimensional zeichnen. Sie empfindet so etwas wie Solidarität mit den beiden Frauen, aber sie empfindet letztendlich auch Mitleid mit dem Jungen.

Es ging mir in meiner Geschichte nicht so sehr darum, einen Standpunkt zu irgendetwas zu vertreten. Ich bewerte bewusst nicht die Personen und ihre Handlungen. Auch, dass Bircan den Jungen auf den Boden wirft, sollte eigentlich nur fast reflexartig auf die vermeintliche Bedrohung durch den Jungen geschehen. An dieser Szene bastle ich noch. Da hat mir Achillus ja, wie du auch sagst, schon einiges gesagt. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob sie so wirklich möglich sein könnte.

Du fragst, warum der Junge nicht aggressiv reagiert hat. Für mich ist er - wie ich oben gesagt habe – nicht eigentlich gewalttätig, nur irgendwie am Boden, nicht erst durch Bircans Handlung. Wieder hat er einen draufgekriegt. Er ist ein Loser, kein Rowdy.

Schade, dass sich dir das anders dargestellt hat.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Nochmals hallo barnhelm!

"Ein bisschen betrunken, wie er ist, verhakt er sich in diesem Ansinnen"
"Für mich sollte sich eins aus dem anderen ergeben."
=> Den Jungen fand ich soweit auch gut dargestellt, glaubwürdig in der Situation. Bloß zum Ende nicht. Er gibt auf und schleicht sich. Und das unter den Augen seines Kumpels! Das geht absolut nicht, krass ausgedrückt. Er hat hier gerade (von einer Frau! fertiggemacht) seine Ehre verloren, er wird sich nirgendwo mehr blicken lassen können, wenn er jetzt nichts unternimmt. Um ihn glaubwürdig darzustellen, brauchst du für ihn noch eine Schlussszene. Ich würde es so machen, dass, wenn er aussteigt, oder wenn Bircan aussteigt, ihn im letzten Moment noch eine Bierdose an Bircans Kopf schmeißen zu lassen. Total doof und kindisch, klar, aber damit hundertprozentig in seinem Charakter.

"Nichts Halbes und nichts Ganzes halt."
=> Damit meinte ich weniger die Figuren, eher den Plot, das "große Ganze", das für mich kein großes Ganzes ergibt. Du hast am Anfang ein wenig Bahnhofs-Philosophie, dann kommt harmlose Konversation, dann der pöbelnde Junge und schließlich der Abschluss. Wie gerade gesagt, ich fand den Jungen gut dargestellt, dann fand ich die Konversation glaubwürdig (allerdings wenig spannend), mit der Bahnhofs-Philosophie konnte ich nicht viel anfangen - das sind aber alles bloß Einzelteile, eher drei verschiedene Geschichten, die auch durch den Schlussteil nicht zusammengeführt werden. (Eher eine Art Anekdote: Das ist mir neulich bei meiner Zugfahrt passiert.)

"Auch Bircan wollte ich eigentlich nicht eindimensional zeichnen."
=> Eindimensional finde ich sie auch gar nicht, bloß widersprüchlich. Erst verhaut sie den Jungen, dann bemitleidet sie ihn? Das kriege ich so nicht unter einen Hut => da fehlt mir die Tiefenzeichnung des Charakters.

"Es ging mir in meiner Geschichte nicht so sehr darum, einen Standpunkt zu irgendetwas zu vertreten."
=> Das muss auch gar nicht sein. Man kann in einer Geschichte auch mehrere Standpunkte zeigen, ein neutraler Beobachter sein. Das kann sehr interessant sein.
=> Aber ich denke, es ist genau deswegen, dass ich die Geschichte als so unentschieden lese. Du, als Erzählerin, vertrittst keinen Standpunkt, das ist vollkommen okay, aber mir sind eben auch die Standpunkte der Hauptfiguren (Bircan und der Junge, die andern beiden sind ja sehr passiv) nicht klar.

So, ich hoffe, alle Unklarheiten ausgeräumt zu haben.

Grüße,
Chris

 

Hallo Chris,
danke für deine Rückmeldung. Jetzt verstehe ich dich noch besser und begreife deinen Standpunkt. Was die Personenzeichnung angeht, werde ich mir deine Anmerkungen noch einmal durch den Kopf gehen lassen.

Eher eine Art Anekdote: Das ist mir neulich bei meiner Zugfahrt passiert.

Ja, wenn ich es recht überlege, habe ich das durchaus so gedacht. Mehr sollte es auch nicht sein. Deshalb auch der Titel.

Liebe Grüße
barnhelm

 

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