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Alles ist so gewesen - nichts war genauso
Der Einlauf und warum Badezimmer gefließt sind
Ich liege nur mit einem T-Shirt bekleidet, Unterkörper frei, mit dem Rücken auf dem gefließten Boden meines Badezimmers. Unter mir habe ich ein großes Badetuch ausgebreitet. Ein Strandtuch blau grün gestreift, das an vergangene Urlaube am Meer erinnert. Wenn ich die Augen geschlossen habe kann man sogar das Meeresrauschen hören, spürt die frische Meeresbrise im Gesicht und kann vereinzelt sogar noch die Sandkörner im Badetuch erahnen. Öffne ich die Augen, sehe ich die weiße Decke meines Badezimmers. Streichen könnte ich mal wieder. Die braunen Badezimmerfließen aus den 80er Jahren sind auch nicht gerade die modernsten. Mein Vermieter hat sie mir jedoch als „total angesagt, das 80er Zeug“ versucht schmackhaft zu machen bei der Wohnungsbesichtigung. Die waren natürlich nicht ausschlaggebend für die Wohnungswahl. Eher die Waschmaschine, die umsonst inbegriffen war. Die steht auch im Bad in der rechten Ecke und summt vor sich hin, beladen mit Wäsche und Waschpulver wiegt sie die Wäsche von rechts nach links. Das städtisches Meeresrauschen – der 60 Grad Waschgang gepaart mit Straßengeräuschen und einem leichten Wind durch das geöffnete Fenster – die Meeresbrise. Super finde ich. Passend zur Stimmung. Fast wie im Urlaub. So total Entspannung. Neben mir auf dem Boden in Augenhöhe habe ich eine rot-weiße, bereits geöffnete Pappschachtel liegen. Darauf stehen chemische Zahlencodes und Abkürzungen, damit man nicht genau lesen kann was sich in der Verpackung verbirgt. Wahrscheinlich damit man in der Apotheke nicht laut sagen muss: „Einmal Darmspülung bitte“ während einen alle hinter einem Wartenden beschämt und peinlich berührt in den Rücken starren. Nein. Stattdessen bekommt man ein Rezept mit diesem Code und reicht diesen der Apothekerin, diese blickt auf das Rezept, dann wieder zurück zu einem, dann wieder auf das Rezept, säufzt und ruft zu ihrer Kollegin: „Einmal das Zeug für nen Einlauf für die junge Dame hier!“. Dann starren einen alle hinter einem Wartenden beschämt und peinlich in den Rücken während die Apotheker- Kollegin das Mittelchen in der rot-weißen und geheimnisvollen chemischen-Code-Packung holt und einem überreicht mit den extra- laut gesprochenen Worten: „Haben Sie das schon mal gemacht?“ Man krächzt leise schon fast flüsternd antwortend: „Nein“, immer noch die Wartenden in den Rücken starrend, und bekommt darauf hin die Antwort: „Also, das ist ganz einfach: sie legen sich auf den Boden, stecken die Flasche in den Po und drücken ganz fest, bis sie leer ist. Dann geht’s auch schon los...!“ Den Schlusssatz ihrer Antwort rundet die weiße Apothekerfrau mit einem schadenfrohen Lächeln ab. Anschließend läuft man völlig selbstbewusst durch die starrende Menge Richtung Ausgang mit seiner Flasche Darmspülung in der Hand.
Die Flasche, oder besser gesagt, das Plastikfläschchen mit einem sehr langen Schnabel habe ich schon aus der Verpackung raus genommen und neben mich gestellt. Sieht ein bisschen aus wie Friseurzubehör – Haarfärbemittel oder so was.
Ein bisschen Angst habe ich schon. Vielleicht ist es auch Aufregung mit ein wenig Neugier, was wohl passieren wird und wie sich das anfühlen wird? Mein erster Einlauf mit 31 Jahren. Habe ich noch nie gemacht. So muss sich ein Junkie fühlen, wenn er sich den ersten Schuss setzt. Ob das auch süchtig macht? Bestimmt gibt es anonyme Foren zu Einlaufsüchtigen, die sich mit Tipps und Erfahrungen austauschen. Ich denke noch ein wenig darüber nach. Merke aber schnell, dass ich mich mit diesen abstrusen Gedanken nur ablenke. Wieder zurück auf dem Badezimmerboden der Tatsachen. Ich soll mir einen Einlauf verpassen, weil ich am Tag darauf eine wichtige Untersuchung haben werde. Man hat Ungereimtheiten in meinem Darm festgestellt. Fremdkörper, vielleicht gutartig - vielleicht böse, die da nicht sein sollten und die man wegoperieren muss. Es könnte mein Leben verändern. Das wollte sich der Proktologe mal genauer ansehen. Dafür muss aber der Darm entleert sein. Damit sein Untersuchungskop nicht verstopft, wie er meinte. Besser als eine Stuhlprobe, denke ich. Ich schweife in Gedanken weiter ab und stelle mir vor, wie ich einen gefüllten Plastikbecher an der Arzttheke abgeben muss. Um mich herum durchschnittlich 50Jährige Plus. Silver Surfer wie man in meiner Branche sagt, die mich mitleidig ansehen, als wollten sie mit mir Ihre Krankheitsgeschichten bei einem Viertele und einer Brezel austauschen. Dabei geht mir ein Lied von den Beasty Boys durch den Kopf „I drink my Sugar with Coffee and Cream“ während ich den Becher der Sprechstundengehilfin übergebe. Der Becher ist bedruckt mit den Worten „to go“. Jetzt muss ich kurz lachen.
Die Aufregung scheint ein wenig weg zu sein. Ok, ich komme nicht drum herum. Bevor ich mich zeremoniell mit meinem Badetuch im Badezimmer ausgebreitet hatte, habe ich natürlich die Gebrauchsanweisung der Darmspülung gut durchgelesen. Viel stand da eigentlich nicht drin. Daran werde ich mich nun halten: Seitlich mit angewinkelten Beinen auf den Boden legen, Flaschenhals und -Kopf einfetten, Flasche in den Po, fertig. 20 Minuten liegend abwarten und auf die Toilette. Ok, los geht’s. Ich fette also den Flaschenhals mit Nivea Gesichtscreme ein und drehe mich anschließend auf die Seite in Empryonalstellung. Wie ein kleines Kind, das ängstlich in der Ecke liegt und wimmert. So fühle ich mich jetzt auch. Wie ein kleines Kind, das nach seiner Mutter ruft und nach der Tortur einen Schokopudding und ein Mickey Maus Heft bekommt um das Trauma zu überwinden. Ich liege in Empryonalstellung, bin aber kein Kind mehr. Das wird mir zunehmend bewusst. Langsam wird es ein wenig kalt, so leicht bekleidet auf dem Badezimmerboden. Ich hätte das Badezimmerfenster schließen sollen. Schließlich ist die Außentemperatur oktobergerecht bei 15 Grad, geheizt wird aber erst ab November! Jetzt noch mal aufstehen? Nein! Ich bereite mich mental auf den Einlauf vor, versuche mich zu entspannen. Aber bei dem Gedanken, dass ich mir gleich eine Flasche in den Po stecken muss, kann ich mich nicht entspannen. Als Digital Native hatte ich mich natürlich zuvor im Internet erkundigt. Einlauf hat bei google sechshundertsiebenundfünzigtausend Treffer - Einlauf Nebenwirkungen dreiundzwanzigtausendachthundert. Ganz schön viel. Und die Einträge der Nebenwirkungen habe ich natürlich gelesen. Dritter Eintrag: „Einläufe sind bei Klinikspielen sehr beliebt und können tödliche Folgen haben“. Klinikspiele - geht’s noch!? Die Einlaufsüchtigen scheint es wirklich zu geben. „Tödliche Folgen“ blieben allerdings weit mehr in meinem Kopf verankert. Ich male mir das Szenario aus: Flasche in den Po drücken. Zu stark gedrückt. Darm platzt. Ich sterbe wirklich keinen schönen Tod im meinem braungefließten 80er -Badezimmer. Zum Glück ist das Bad gefließt, so dass die anschließende Sauerei leicht abwischbar bleibt. Gefunden werde ich allerdings erst einen Tag später. Der Arzt kann mich nicht erreichen, wird aber nicht weiter nachhaken. Bei der Arbeit werde ich nicht erscheinen. Meine Kollegen werden sich Sorgen machen wenn ich nicht erscheine und mich nicht melde da ich sonst ein zuverlässiger Mensch bin. Wer wird mich finden? Die Polizei? Die Feuerwehr? Mein Nachbar? Mein Chef? Egal wer es sein wird, für jeden der Finder wird der Anblick noch lange unerträglich im Kopf festsitzen: braune Badezimmerfließen, Ich unterkörperfrei nur mit einem rosafarbenen T-Shirt bekleidet. Darauf der bedruckte Schriftzug „Schokominza“. Die Farben des Badetuches in rot braun statt in grün blau. Eine Flasche im Po und drumherum eine RIESEN Sauerei. Von den Gerüchen ganz zu schweigen. Mein Nachmieter wird es gut haben, er wird mit Sicherheit ein neu gefließtes Bad anfinden – state- of-the-art. Vielleicht sollte ich neue Fließen beim Vermieter beantragen? Ok ich muss durch. Ich nehme die Flasche, schließe meine Augen, summe eine Melodie um mich abzulenken. Ich beiße die Zähne zusammen. Ekelhaft. Ich habe vergessen das Radio anzumachen. Mist. Oh Gott ist das ekelhaft. Mir wird ein wenig schummrig. Igitt. Igitt. Igitt. Man wer hat das eigentlich erfunden und sich so was ausgedacht? Steht nicht mal in Wikipedia. Ich spüre, wie sich die Kälte der Flüssigkeit in meinem Bauchraum ausbreitet. Lass es schnell vorbei sein bitte! Ich habe das Gefühl jedes einzelne Gefäß durch das die Flüssigkeit gleitet zu spüren. Zählen. Vielleicht hilft zählen. Zehn, neun, acht, sieben. Tatsächlich es lenkt ab. Sechs, fünf, vier, drei. Jetzt nur Nichts falsch machen. Drei, zwei, eins. Ein bisschen Schweiß bildet sich auf meiner Stirn. Anstrengend.Immer noch. Puh. Aber ich habe es geschafft und atme tief und laut durch. Widerwärtig. Mein Bauch grummelt ein wenig. Ich lege meine Arme unter den Kopf und starre an die Decke. Immer noch in Empryonalstellung. Von oben muss das komisch aussehen, denke ich. Ganz schön viel Adrenalin im Blut. Mein Puls pocht energisch. Wie ein Junkie nach seinem Schuss.
Fast regungslos. Die Angst ist der Erleichterung gewichen. Wärme macht sich nun im Körper breit. Jetzt muss ich nur noch ruhig da liegen und die 20 Minuten abwarten bis ich auf Toilette kann oder muss. 20 Minuten ist eine ziemlich lange Zeit, wenn man ruhig liegen muss und sich nicht bewegen darf. Die Untersuchung die am nächsten Tag ansteht kommt mir in den Kopf. Was wenn ich Krebs haben sollte? Mit 31 Jahren. Was werde ich dann tun? Werde ich meinen Job kündigen, einen Kredit aufnehmen, eine Weltreise machen? Werde ich jemals den einen Mann kennen lernen, heiraten, Kinder kriegen? Was wenn ich nicht mehr viel Zeit haben werde um zu leben? Wäre mir das egal? Würde ich so weiter machen wie bisher: Unter der Woche arbeiten in einer Werbefilmproduktion, Konzepte für überflüssige Produkte schreiben, bescheuerte Werbespots drehen für unfreundliche Kunden? Abends total platt nach Hause kommen, gute Gespräche mit Freunden über das Telefon führen, danach schlafen gehen - von Montags bis Freitags. Am Wochenende ausgehen, trinken und feiern mit Freunden, lachen, verkatert aufwachen und Montags wieder von vorne? Werde ich den Menschen, die mir wichig sind und waren sagen, dass sie mir wichtig sind und waren? Wie wird meine Familie und wie werden meine Freunde reagieren wenn ich Ihnen erzähle, dass ich nicht mehr lange zu leben habe? Werde ich meinem großen Schwarm endlich beichten, dass ich schon seit über fünf Jahren in ihn verliebt bin? Würde sich was daran ändern wenn ich das erzähle? Was würde ich mit meinen Habseligkeiten machen? Ich habe nicht viel zu vererben, Ersparnisse nur recht wenig, so viel wie man sich als studiertes Mädchen und mit vier Jahren Berufserfahrung Ersparnisse zulegen kann nachdem man seinen Bildungskredit pünktlich zurückbezahlt hat. Wem würde ich mein erspärliches Vermächtnis vererben? Meine Musiksammlung - die ist wertvoll. Wer könnte am angemessensten damit umgehen? Sollte ich was spenden? Meine Möbel und das bisschen Hab und Gut an eine soziale Einrichtung weiterreichen? Fände ich komisch, wenn jemand Fremdes in meinem Bett auf meiner Matratze weiter schlafen würde. Vielleicht müsste ich mir darüber auch keine Gedanken machen und einfach die letzten Tage meines Lebens einfach leben ohne Nachzudenken? Partys, Surfen, Sex, Drugs und RocknRoll? Jede erdenkliche Droge noch ausprobieren, da man eh nichts zu verlieren hat? Es gäbe so viele Möglichkeiten. Wahrscheinlich würde man einfach gar nicht reagieren. Gelähmt von der Nachricht, dass man totkrank ist. In Gedanken gehe ich meine Familie durch. Einzeln. Von meiner Oma, bis über meine Eltern zu meinem Bruder und meinen Tanten und Cousinen. Dann meine Freunde, richtig gute und enge. Bekannte, Weggefährten die man mal irgendwo traf. Exfreunde. Dann meine Kollegen und meine Chefs. Ich bin schon ganz schön vielen Menschen begegnet. Die genaue Anzahl der Menschen denen man begegnete auszurechnen ist gar nicht so einfach. Meine Verwandtschaft sind 60 Menschen - Tendenz steigend. Kindergartengruppe waren 30. Die ganzen Klassen waren ca. 20 Mitschüler jeweils mal 13 bzw. 14 Schuljahre (bin einmal sitzen geblieben) sind 280. Dazu die Lehrer 10 mal 14 sind 140. Meine Arbeitskollegen bei meinem damaligen Nebenjob sind 20. Meine Kollegen bei der Ausbildung sind 100. Meine Kollegen bei meinen letzten Jobs während und nach dem Studium bis jetzt sind in Summe ca. 250. Meine Kommilitonen sind nochmals 300. Plus Menschen denen man irgendwo begegnet ist. In Summe kommt man mit 31 Jahren auf ca. 1180 Menschen. So viel wie die Einwohner des Dorfes in dem ich aufwuchs. Unter diesen 1180 Menschen sind auch mehr als 1180 Erinnerungen geblieben. Alle hat man natürlich nicht mehr im Bewusstsein. Aber einige davon sind so präsent, dass sie erzählenswert sind. Weil es lustige, skurille, erschreckende, abstruse, schöne, tolle, düstere, traurige und menschliche Erinnerungen sind. Zum Beispiel die an meine erste große Liebe. Oder die meiner Kollegin, Exnachbarin und einer Freundin der ich die Freundschaft gekündigt habe. Nicht zu vergessen die erinnerung an die drei verrückten Geschäftsführer im Dschungel Afrikas und ich mittendrin. Ganz schön vielen verrückten Chefs bin ich begegnet und alle profilneurotisch wie mir gerade auffällt. Neben den verrückten Charakteren denen man begegnete, gibt es natürlich noch die schönen Menschen: meine besten Freundinnen zum Beispiel. Alle Femme Fatals und beneidenswerte Powerfrauen zum lieb haben. Trotzdem haben auch die Ihre Päckchen zu tragen. Und natürlich weitere Exfreunde, Exmitbewohner, Exarbeitskollegen die erwähnenswert sind. Ex. Vergangenheit. Erinnerung. Jeder der Weggefährten hat seine eigene Erinnerung. Wunderbare Geschichten und Momente mit den Freunden, Kranke Geschichten mit den Anderen. Während man seine Darmspülung im Bauch hat, den Akt des Einlaufes fast abgeschlossen, kann man schon mal Bilanz ziehen. 1 Minute ist vorüber. Noch weitere 19 Minuten sind abzuwarten.