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Copywrite In Kratten

Monster-WG
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18.06.2015
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In Kratten

Draußen standen sie im Gras, Sensen in der Hand, hellblaue Hemden, die Frauen mit Kopftüchern und weiten Röcken. Ein Wunder, dass sie nicht runter auf die Gleise rutschten, so steil war der Hang, den sie mähten. Paul schob das Fenster zu und setzte sich zurück an seinen Platz. Der Zug stand schon eine Weile still, Grafenort, man musste auf Zahnradantrieb umstellen. Die Strecke nach Kratten hatte über achtzehn Prozent, vielleicht mehr, er wusste es nicht genau. Paul blickte auf seine Uhr, dann hörte er Metall quietschen, ein Geräusch, das ihm Kopfschmerzen verursachte, die Zahnstange rastete ein und der Zug fuhr weiter, nach oben, in den Nebel.

Ein letzter Blick auf die Fakten. Bevor Paul die Aktentasche öffnete, hielt er sie sich vor die Nase und atmete tief ein. Der kräftige Ledergeruch gab ihm das Gefühl, seiner Aufgabe gewachsen zu sein. Er drückte zwei Finger gegen den Messingverschluss, der mit einem satten Geräusch nachgab. Zum ersten Mal war in der Tasche etwas drin, zum ersten Mal war Paul unterwegs, um einen Fall zu klären. Er zog das Dossier heraus. Alfred Zurgilgen, dreiundsiebzig. Herzversagen am dritten August, sechs Uhr morgens. Eine halbe Million Versicherungssumme. Auszubezahlen an den Sohn, Karl Zurgilgen, Bauer, Rütistrasse 1, Kratten. Der Totenschein war angeheftet, unterschrieben vom Hausarzt. Da lasse sich nichts machen, hatte Gander gemeint. Wenn der Herr Doktor schreibe, es sei Herzversagen, dann bleibe es Herzversagen, der passe schon auf, dass niemand das Gegenteil beweisen könne. Aber nach Kratten fahren und etwas herumstochern, hatte Gander gesagt, das könne nicht schaden. Und schließlich habe man diesen Hinweis bekommen, dem müsse man nachgehen, ideal für einen jungen Bluthund wie Paul.
Bevor er die Unterlagen zurück in die Mappe steckte, warf er einen Blick auf das beigelegte Foto. Alfred Zurgilgen in seiner Werkstatt. Im Hintergrund, gleich neben dem Kopf des Alten, sah man ein Bild an der Wand hängen, ein Frauenporträt. Noch hatte Paul keinen Plan, wusste nicht, wie genau er vorgehen sollte. Sich ein wenig umsehen, Zeit verbringen, schauen, was sich ergab. Ein Zimmer in der Krone war gebucht.

Kratten war Endstation. Paul wusste, dass das Dorf eingekesselt zwischen Bergen lag, sehen konnte er sie nicht. Graue Schwaden hingen über den Matten, es hatte zu nieseln begonnen. Der Ort war nicht viel mehr als eine lose Ansammlung von Häusern, verbunden durch eine schmale Straße, auf der so viel Schlamm und Geröll lag, dass man nicht erkennen konnte, ob sie asphaltiert war.
„Entschuldigen Sie“, fragte er den einzigen Passagier, der außer ihm noch im Zug saß, „wo finde ich den Hof der Zurgilgens?“
„Hä?“ Der Mann erhob sich, schulterte einen riesigen Rucksack und ging zum Ausgang.
„Karl Zurgilgen?“
Der Mann stieg aus, ohne sich umzudrehen, und Paul konnte durch die Fensterscheibe sehen, wie er den Arm hob und in Richtung Norden zeigte, bevor er im Nebel verschwand.

Es waren fast zwei Kilometer bis zum Hof. Pauls Haare waren feucht geworden, seine Socken auch, er hätte festere Schuhe anziehen sollen. Er stellte sich vor, wie es wäre, im Büro zu sitzen, unten in Luzern, einen Becher heißen Kaffee in der Hand. Aber was sein musste, musste sein, in Zeiten wie diesen war jeder verdächtig. Die Milchpreise lagen im Keller und auf einmal stand ein Hof in Flammen und noch einer und noch einer. Meistens machten sie Fehler, die Bauern, einer dümmer als der andere. Vergaßen, die Benzinkanister verschwinden zu lassen, verplapperten sich. Fast immer kamen sie ihnen auf die Spur, früher oder später.
Das hier war eine leicht andere Geschichte. Bei den Übersiebzigern macht die Pumpe auch mal schlapp, das konnte schon sein. Sie hätten die Sache wohl durchgewinkt, trotz der hohen Summe, wäre nicht dieser Anruf gewesen. Im Dorf erzähle man sich, der Alfred sei im Bett gestorben, hatte die Stimme am Apparat gesagt, er aber habe beobachtet, wie sie ihn von der Scheune ins Haus getragen hätten, die ganze Familie habe er gesehen. Karl, Fränzi, den Jungen. Von weitem, ja, aber er sei sich ganz sicher, und nein, seinen Namen nenne er nicht. Paul würde sein Bestes geben, um Licht in die Sache zu bringen. Es ging um viel Geld.

Der Hof sah aus, als sei nicht nur der alte Zurgilgen gestorben, sondern die ganze Familie. Niemand war zu sehen, im Wohnhaus brannte kein Licht, der Stall war leer. Davor stand eine Hundehütte, eine Kette lag am Boden. Kuhmist überall, vermischt mit fauligem Stroh. Paul rümpfte die Nase, drehte sich einmal im Kreis und ging zur Scheune. Oben war der Heuboden, unten standen ein Mähdrescher und Heugabeln, Plastikeimer, willkürlich verstreut. Nur die vordere Ecke war aufgeräumt. Das musste die Werkstatt des alten Zurgilgen sein. Eine schwere Hobelbank, blank geputzt, kein Sägespan zu sehen. Dahinter an der Wand die Werkzeuge, jedes an seinem Platz, nur ein Haken, gleich neben dem Bild der Greta Garbo, war leer.

„Was willst du hier?“ Die Stimme hinter seinem Rücken klang wie Hundegebell, Paul duckte sich, drehte den Kopf und sah einen Mann, der mit schnellen Schritten auf ihn zukam.
„Waser“, sagte er. „Paul Waser.“ Der Mann blieb stehen. „Alpha-Versicherung, Luzern.“ Paul streckte ihm die Hand entgegen.
„Aha.“ Der Mann zögerte eine Weile, schließlich griff er nach Pauls Hand, drückte sie kurz und kräftig. „Karl Zurgilgen.“
„Freut mich.“
„Warum bist du gekommen?“
„Ich möchte mich gerne etwas umsehen. Ein paar Fragen klären.“
„War doch schon einer von euch hier.“
„Ja, ja, Herr Zurgilgen. Aber das braucht halt seine Zeit. Wir müssen uns an Regeln halten, wissen Sie?“ Zurgilgen schien nachzudenken, kaute auf dem kalten Stumpen herum, den er im Mund hatte, dann nickte er.
„Gehen wir rein.“
„Wo ist der Hund?“, fragte Paul, während er Zurgilgen ins Haus folgte.
„Krepiert.“
Drinnen nahm Zurgilgen eine Flasche Zwetschgenschnaps und zwei Gläser aus dem Küchenschrank und sie setzten sich an den Stubentisch. Eine nackte Glühbirne brannte an der Decke, die so niedrig war, dass Paul sich hatte bücken müssen, als sie den Raum betraten.
„Wann bekomme ich das Geld?“, fragte Zurgilgen.
„Das entscheide nicht ich.“
„Warum bist du dann hier?“
„Herr Zurgilgen.“ Paul öffnete seine Aktentasche und breitete die Papiere vor sich aus. „Können Sie noch einmal alles bestätigen, was hier steht?“
„Stimmt alles“, sagte Zurgilgen, ohne einen Blick auf die Unterlagen zu werfen.
„Herzinfarkt also?“
„Ja.“
„Lag am Morgen im Bett?“
„Tot. Eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht.“
„Im Bett?“
„Ja.“
„Nicht in der Scheune.“
„Wieso sollte er in der Scheune schlafen?“
„Ja, nicht schlafen. Aber den Herzinfarkt, den hätte er doch in der Werkstatt haben können.“
„Hat er aber nicht.“
„Nicht?“
„Wenn ich sage, mein Vater ist wegen seinem Herz gestorben, dann ist das wahr, da kannst noch hundertmal fragen.“
„Das habe ich nicht angezweifelt, ich habe nur gefragt, wo.“
„Dann ist ja gut.“ Zurgilgen erhob sich und blieb mitten im Raum stehen. Paul nahm das Dossier in die Hand.
„Könnte ich vielleicht noch mit Ihrer Frau sprechen?“
„Die ist nicht da.“
Er wusste nicht, was er noch fragen sollte, und starrte auf das gelbstichige Foto. Alfred und Greta Garbo. Dann sah er, dass neben ihrem Bild ein Seil am Haken hing, genau an der Stelle, die jetzt leer war.
„Ich möchte mir noch einmal die Scheune ansehen“, sagte er.

Es hatte aufgehört zu regnen. Paul stand vor der Krone und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Lustig gemacht hatte er sich über ihn, der Zurgilgen. Natürlich wisse er, wo das Seil sei. Runtergefallen sei es, als er Werkzeug auf dem Hürlimann habe befestigen wollen. Direkt in die Jauchegrube. Paul könne gerne nachsehen, wenn er wolle. Aber vielleicht habe es sich auch aufgelöst in der Brühe, das sei möglich, wer wisse das schon. Wer wisse schon irgendetwas, hatte er gefragt, mit ernster Miene und starren Augen. Das einzige, das er wisse, sei, dass seine Familie verhungere, wenn die Versicherung nicht zahle. Übertreiben konnte er gut, der Zurgilgen.
„Das Zimmer ist im ersten Stock“, sagte die Serviertochter und zeigte zur Treppe, die nach oben führte. „Zum Nachtessen gibt es Fleischvögel. Ist’s recht so?“
„Ja. Danke“, sagte Paul. Er fühlte sich nicht gut, der lange Weg zum Hof und zurück hatte ihn müde gemacht, Kopfschmerzen bahnten sich an, ihm war schwindlig und er fröstelte. Mitten im August, dachte er, so eine Scheiße. Er ging nach oben und nachdem er sein Zimmer begutachtet, die Füße gewaschen und sich aufs Bett gelegt hatte, schlief er auf der Stelle ein.

Der Fleischvogel war trocken und faserig, Paul spülte ihn mit einem großen Bier hinunter.
„Hat’s geschmeckt?“, fragte die Serviertochter.
„Wunderbar!“ Paul legte Messer und Gabel auf den Teller und blickte in den Raum. Er war leer, bis auf drei Männer, die an einem großen runden Eichentisch saßen. Paul nickte ihnen zu, nahm seinen Mut zusammen und fragte, ob er sich zu ihnen setzen dürfe. Die Männer sahen ihn kaum an, aber der eine schob den freien Stuhl, der neben ihm stand, um drei Zentimeter nach hinten.
„Danke. Ich bin Paul.“ Und nachdem er sich gesetzt hatte: „Übler Sommer, nicht?“
„Woher kommst du?“, fragte der eine, der ihm den Stuhl angeboten hatte. Er trug eine Brille, schien von den dreien der Hellste zu sein.
„Luzern.“
„Aha.“
„Noch eine Runde Bier für alle“, sagte Paul zur Serviertochter.
Eine Stunde später hatte er sie so weit. Zwar hatte er zugeben müssen, dass er bei einer Versicherung arbeitete und aus beruflichen Gründen am Tod von Alfred Zurgilgen interessiert war. Aber das schien die drei nicht weiter zu stören und alles, was sie erzählten, passte ins Bild. Sturzbesoffen sei der alte Zurgilgen gewesen, jeden Tag, und einmal sei er mit dem Traktor in Hubers Rapsfeld gefahren. Man habe ihn nicht mehr brauchen können, für nichts.
„Meist ist er dort hinten gesessen“, sagte der Mann mit Brille.
„Und gejammert hat er. Bald sei er tot, hat er gesagt, und dann tanze er im Himmel einen Vögelischottisch, mit Hanni im einen Arm und Greta Garbo im anderen. Jeden Abend der gleiche Text. Hanni, das ist seine Frau gewesen, weißt du, und nachdem sie gestorben ist, war‘s vorbei mit dem Alfred.“
„Das ist traurig“, sagte Paul.
„So ist es.“
„Der Franz tut mir leid“, sagte der Mann, der zu Pauls Linken saß.
„Franz?“
„Alfreds Enkel, der ist sieben. Du, der hat geschlottert, am ganzen Körper, bei der Beerdigung. Kreidebleich war er.“
„Am Tag, an dem Alfred gestorben ist, habt ihr da etwas gehört? Oder gesehen?“, fragte Paul.
Die drei schüttelten den Kopf, synchron, als hätten sie es einstudiert.

Er konnte nicht einschlafen, das Zimmer drehte sich um seinen Kopf, viel zu viel Bier hatte er getrunken. Du musst in Alternativen denken, hatte ihm Gander gesagt. Variante A und Variante B. Alfred Zurgilgen hatte einen Herzinfarkt gehabt, Alfred Zurgilgen hatte sich erhängt, in der Scheune, mit dem Seil, das verschwunden war, Alfred Zurgilgen hatte einen Herzinfarkt gehabt. Paul konnte nicht wissen, was stimmte, beides hätte sein können, aber er spürte es, er sah, wie der alte Zurgilgen am Balken baumelte, er sah es glasklar, natürlich war es so gewesen. Er brauchte einen Beweis. Oder Karl Zurgilgen gab es zu, gab zu, dass er ein Betrüger war und sie übers Ohr hauen wollte. Aber der gab nichts zu, niemals. Dann fiel Paul ein, was Gander ihm auch noch gesagt hatte. Der Ast bricht stets an der schwächsten Stelle.

„Noch einen Kaffee?“
„Danke, sehr freundlich.“
Pauls Augen schmerzten, sie waren verklebt, am Morgen, als er sie hatte aufschlagen wollen. Er fühlte sich fiebrig und schwach. Aber er war bereit, seinen Auftrag zu erfüllen.
„Wo ist das Schulhaus?“, fragte er die Serviertochter.
„Wir haben keines.“
„Aha?“
„In Grafenort.“
„Ach so. Und die Kinder laufen?“
„Jesses Maria, nein.“ Die Frau lachte und Paul sah, dass sie schlechte Zähne hatte. „Die nehmen den Zug.“
„Wann kommen sie zurück, ich meine, normalerweise?“
„Halb vier, glaube ich. Warum?“
„Nur so.“ Paul räusperte sich und stand auf. „Kann ich mir ein Seil ausleihen? Einen Strick oder so? Das wäre sehr nett.“
Nachdem er sich rasiert hatte, brach er auf in Richtung Norden, zu Zurgilgens Grundstück. Das Wetter war freundlicher an diesem Tag, ab und zu konnte man die feuchten Wiesen glänzen sehen. Rund fünfhundert Meter vor dem Hof zweigte er ab und nahm einen Weg, der auf eine Anhöhe führte. Er wollte sich einen Überblick verschaffen, von oben ließ sich vielleicht bestimmen, wo der anonyme Anrufer gestanden haben musste, als er die Zurgilgens beobachtet hatte. Erst als Paul schwer atmend auf einem Zwischenplateau angekommen war, erkannte er, die Hände in die Hüfte gestützt, die Sinnlosigkeit seines Unternehmens. Es hätte überall sein können, der Hof lag mitten in der Hochebene, es gab keinen anderen in unmittelbarer Nähe.

Den frühen Nachmittag verbrachte er im Bett, nachdem er in der Gaststube drei Stück hartes Brot in eine sämige Erbsensuppe getunkt hatte. Die Laken waren nass vom Schweiß, Paul wälzte sich hin und her, schlafen konnte er nicht. Immer wieder ging er seinen Plan durch, wägte die Wirkung dieses oder jenes Satzes, dieser oder jener Geste ab. Er kannte sich mit Kindern nicht so aus.
Um drei Uhr stand er auf, wusch sich das Gesicht, klemmte die Aktentasche unter den Arm und ging zum Bahnhof. Er wartete. Viele konnten es nicht sein, die ausstiegen. Franz musste zu den Kleinsten gehören und er musste den Weg nach Norden einschlagen.
Sie waren zu zweit unterwegs, damit hatte er nicht gerechnet. Sie schlenderten furchtbar langsam, blieben immer wieder stehen, um sich zu schubsen oder sonst wie zu ärgern. Etwa auf halber Strecke bog der eine Junge endlich ab und Paul beschleunigte seine Schritte.
„Hallo.“ Der Junge zuckte zusammen, es sah aus, als würde er gleich losrennen.
„Hallo“, sagte er mit piepsiger Stimme.
„Du bist der Franz, nicht?“
„Ja.“
„Ich muss zu deinen Eltern. Darf ich mit dir gehen?“ Der Junge nickte. „Ich bin Paul.“
Er streckte ihm die Hand hin, aber der wusste nichts damit anzufangen. Sie gingen eine Weile nebeneinander her. Dann fragte Franz, weshalb Paul seine Eltern besuchen wolle.
„Wegen deinem Ätti.“ Keine Reaktion. „Weißt du, wenn ich ganz sicher bin, was mit deinem Großvater passiert ist, dann bekommt dein Papa viel Geld und darum müssen mir alle erzählen, wie es gewesen ist.“
„Aha.“
„Hast den Ätti gerngehabt, nicht?“
„Mhm.“
„Bist traurig?“
„Ja.“
„Willst mir von ihm erzählen?“ Franz schüttelte den Kopf. Sie waren inzwischen schon recht nahe beim Hof, der Junge begann schneller und schneller zu laufen, Paul wollte ihn an der Schulter fassen, um ihn zu bremsen, ließ es dann aber bleiben. Er musste jetzt aufs Ganze gehen.
„Du hast deinen Großvater gesehen, als er gestorben ist, nicht?“ Sie blieben stehen.
„Der Ätti ist eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Er lag im Bett und dann ist der Doktor gekommen.“ Es klang, als spreche der Junge mit dem Weihnachtsmann, ein Sprüchlein, lange eingeübt.
„Du weißt, dass man nicht lügen darf?“
„Ja.“
„Wenn du lügst, bekommt dein Papa kein Geld und dann muss er den Hof verkaufen.“
Franz starrte ihn an, blieb stumm. Paul packte seine Hand und zerrte ihn mit sich, es waren nur noch wenige Meter bis zur Scheune, der kleine Racker wehrte sich, aber es galt, die Sache durchzuziehen.
„Schau nach oben, Franz.“
„Nein!“
„Du schaust jetzt nach oben. Dort hat er gehangen, der Ätti, dort am Balken!“, rief Paul. Tränen schossen in die Augen des Jungen, er begann zu wimmern. Paul zog den Strick aus seiner Aktentasche. „Da! Mit diesem Strick, stimmt‘s?“ Paul ging in die Knie, legte seine Hände auf die Schultern des Jungen und schaute ihm in die Augen. „Da habt ihr den Strick durchgeschnitten, schau, und dann habt ihr den Ätti ins Haus getragen.“ Franz schluchzte, gleich würde er zusammenbrechen. Dann blickte der Junge auf einmal an ihm vorbei.
„Sauhund!“, schrie eine Stimme hinter Pauls Rücken. „Du verfluchter Sauhund!“ Er ließ den Jungen los, richtete sich auf und sah, wie eine Frau auf ihn zu rannte.
„Frau Zurgilgen“, sagte er. „Darf ich Ihnen bitte erklären …“
Sie schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.
„So, und jetzt hau ab!“
„Ich mache nur, was ich machen muss. Das ist mein Beruf. Es geht um die Wahrheit.“ Pauls Wange brannte.
„Wahrheit?“, lachte sie.
„Ja, genau.“
„Bursche, hier oben plagt man keine Kinder. Das ist die Wahrheit. Und jetzt …“ Sie blickte zum Tor. Paul legte das Seil zurück in die Aktentasche und gehorchte.

Zwei Tage, so hatte er es mit Gander vereinbart. Paul beschloss, noch eine Nacht in Kratten zu verbringen. Er hätte seinen Chef informieren müssen, aber ließ es bleiben. Nun saß er in der Krone und aß die gebrannte Creme, die es zum Nachtisch gab. Seine Hand zitterte, als er den Löffel zum Mund führte, es hatte ihn definitiv erwischt, Fieber, seine Stirn fühlte sich heiß an. Paul Waser sitzt mit Pullover und Jacke in der Krone zu Kratten, dachte er. Hat sich festgebissen. Gibt nicht auf. Jeder, der sich aufknüpft oder sich die Kugel gibt, hinterlässt einen Abschiedsbrief, das weiß man. Jeder. Auch der Zurgilgen.
„Kein Frühstück morgen“, sagte er zur Serviertochter, die ihn ansah, als krepierte er.
Er ging nach oben und legte sich ins Bett, ohne die Kleider auszuziehen, nur die Schuhe hatte er vor die Tür gestellt. Sie stanken, mehr als alles andere.

Paul saß auf der Anhöhe, die er am Tag zuvor bestiegen hatte. Den Jungen hatte er um halb acht weggehen sehen. Kurz darauf war Karl Zurgilgen losgefahren, mit dem Traktor. Und jetzt hatte, hundert Meter unter ihm, Fränzi Zurgilgen den Hof in Richtung Dorf verlassen. Es war so weit. Paul wartete noch ein wenig, dann machte er sich auf den Weg. Der Sommer war zurückgekehrt, Nebel und Wolken hatten sich verzogen, am Himmel kreisten Alpendohlen.

Als erstes durchsuchte er den Wohnzimmerschrank. Neben den Schnapsflaschen lagen Briefe und Papiere, das war ihm bei seinem Besuch aufgefallen. Er fand die Dokumente der Alpha-Versicherung und musste lachen. Das wäre was gewesen, wenn sie den Abschiedsbrief des Alten dazu gelegt hätten. Danach sah er sich in der Küche um. Nichts. Das Schlafzimmer. Paul öffnete die Nachttischschublade links. Eine Schachtel Stumpen. Stoffnastücher. Das war alles. Er ging um das Bett, dorthin, wo Fränzi schlafen musste und zog die Schublade heraus. Und da lag ein Zettel, einmal gefaltet. Er war zerknüllt und wieder geglättet worden. Paul schloss die Augen und atmete ein. Er hatte es gewusst! Sorgfältig faltete er den Zettel auseinander und las: Lieber Karl, liebe Fränzi. Macht euch keine Vorwürfe …
Ein Schlag auf seinen Hinterkopf. Paul wollte sich in die Haare fassen, seine Arme gehorchten ihm nicht, er wurde ohnmächtig.

Als erstes hörte er die Insekten. Ihm wurde bewusst, dass er auf dem Bauch lag, das Gesicht im Gras. Er rollte sich zur Seite, zog die Beine an den Körper und versuchte, ruhig zu atmen. Nach einer Weile wurde es besser, Paul fasste sich an den Kopf, Blut blieb an seinen Fingern kleben. Es fühlte sich an, als hätte man seinen Schädel mit Säure gefüllt. Lass den Mann liegen. Lass ihn einfach liegen. Hatte er das geträumt? Wo war er? Er öffnete die Augen und sah den blauen Himmel, die Alpendohlen und das Tor zum Hof. Sie hatten ihn aus dem Haus geschleift und drei Meter neben ihrem Grundstück abgelegt. Oder zwei, wer wusste schon, wie weit weg das Tor war? Er versuchte aufzustehen und übergab sich dabei auf seine Hände.

Er ging zurück zum Ort, immer wieder musste er sich hinsetzen, überprüfen, ob er noch blutete, durchatmen, weil ihm schwindlig war. Er brauchte Verstärkung, dachte er, Gander musste herkommen und die Polizei. Doch dann wurde ihm bewusst, was das bedeuten würde. Weshalb er das Kind derart drangsaliert habe, würden sie ihn fragen. Wie er in das Wohnhaus der Zurgilgens hineingelangt sei? Ob man sich bei der Alpha-Versicherung nicht ans Gesetz halte? Paul wurde übel. Er drehte sich um, betrachtete die Felsen, die sich hinter dem Hof auftürmten, und gab sich geschlagen.

„Gander.“
„Paul Waser hier.“
„Waser! Warum sind Sie nicht im Büro?“
„Ich bin in Kratten. In der Krone.“
„Und?“
„Nichts.“
„Was, nichts?“
„Nichts gefunden. Natürlicher Tod.“
„Haben Sie mit den Zurgilgens gesprochen?“
„Ja.“
„Nichts Verdächtiges?“
„Nein.“
„Rein gar nichts?“
„Nein.“
„Und dafür haben Sie drei Tage gebraucht, Waser?“
„Hier oben ist alles ein wenig anders, Herr Gander.“ Paul hängte ein, ohne sich zu verabschieden. Er ging zur Theke und bezahlte die Rechnung.
„Geht es ihnen gut?“, fragte die Serviertochter.
„Ja. Danke.“ Paul öffnete die Tür, frische Luft strömte herein, warme Sommerluft.

Die Zahnräder klinkten aus, ein Pfiff ertönte und der Zug setzte sich in Bewegung. Paul fragte sich, ob hier, in Grafenort, tatsächlich einmal Adlige gelebt hatten. Er hielt sich Nase und Mund zu, atmete aus, bis der Druck auf den Ohren verschwunden war. Dann sah er aus dem Fenster, blickte auf den gemähten Hang und schloss die Augen.

 

Hallo peeperkorn,

deine Geschichte lässt mich mit Fragen zurück. Nein, nicht, warum der Paul schweigt - da gibt es sicher eine plausible Erklärung und dieses Umschwenken macht ja den Touch der Geschichte aus, der zum Nachdenken anregt. Und wenn Paul sich seine Karriere versauen will - ist doch seine Sache.

Aber wenn ich feststelle, dass ein Herzinfarkt möglicherweise ein Tod durch Erhängen war - dann wäre die erste Frage: Wer ist der Arzt? Fünfundneunzig und halb blind? Oder macht er gerne gemeinsame Sache mit zukünftigen Millionären? Und als nächstes kämen die Überlegungen: Exhumierung beantragen? Erfolgsaussichten?

Stattdessen laboriert der Paul an einer ominösen Erkrankung herum. Ich habe gedacht, diese Krankheit ist ihm auf dem Hof beigebracht worden. Da ja auch der Hofhund krepiert war ... aber die Strickgeschichte passt da nicht so recht.

Mein Fazit: Die ganze Versicherungsstory ist nur Beiwerk und es geht um einen jungen Menschen, der an der ersten Aufgabe, die er alleine zu erledigen hat - ja, was? wächst oder scheitert?

Na gut, norddeutscher Ernst hatte schon immer Schwierigkeiten mit dem Schweizer Humor.

Liebe Grüße

Jobär

 

Hallo jobär

Aber wenn ich feststelle, dass ein Herzinfarkt möglicherweise ein Tod durch Erhängen war - dann wäre die erste Frage: Wer ist der Arzt? Fünfundneunzig und halb blind? Oder macht er gerne gemeinsame Sache mit zukünftigen Millionären? Und als nächstes kämen die Überlegungen: Exhumierung beantragen? Erfolgsaussichten?

Der Arzt heisst Hofstettler und stammt aus dots Geschichte. Dort macht er mit den Leuten, na ja, gemeinsame Sache würde ich es nicht nennen, er will halt helfen, den Hof zu retten. In meiner Geschichte, wird das gleich zu Beginn verhandelt, Pauls Chef sagt, wenn der Arzt Herzinfarkt bescheinige, dann könne man daran nicht rütteln. Das impliziert auch, dass die Sache genug lange her ist, so dass der alte Alfred verbrannt und eine Exhumierung nicht möglich ist.

Stattdessen laboriert der Paul an einer ominösen Erkrankung herum. Ich habe gedacht, diese Krankheit ist ihm auf dem Hof beigebracht worden. Da ja auch der Hofhund krepiert war ... aber die Strickgeschichte passt da nicht so recht.

Da hast du recht. Paul erkrankt bloss am Klima - feuchte Schuhe - er sagt ja noch, er habe sich auf dem Weg erkältet. Hat mit dem Strick nichts zu tun.

Mein Fazit: Die ganze Versicherungsstory ist nur Beiwerk und es geht um einen jungen Menschen, der an der ersten Aufgabe, die er alleine zu erledigen hat - ja, was? wächst oder scheitert?

Wenn du es abgeschwächt formulierst - die Versicherungsstory bildet den Hintergrund, der Fokus liegt beim jungen Menschen - dann unterschreibe ich das sofort.

Na gut, norddeutscher Ernst hatte schon immer Schwierigkeiten mit dem Schweizer Humor.

Na gut, lustig gemeint habe ich die Geschichte eigentlich nicht, aber vielleicht habe ich jetzt hier Mühe mit dem Norddeutschen Humor. :)

Lieber Gruss und danke fürs Reinschauen
Peeperkorn

 

Hallo Peeperkorn,

und vielen Dank für die Fortsetzung. Ich finde den Ansatz wirklich gelungen und habe deine Geschichte sehr gern gelesen. Nur mit dem Ende, da hadere ich auch. Aber der Reihe nach.

Ein Wunder, dass sie nicht runter auf die Gleise rutschten, so steil war der Hang, den sie mähten.

Und schon hat man ein sehr schönes Bild von der Gegend vor Augen. Wiesen, steile Hänge ... Ich will Urlaub!

Zum ersten Mal war in der Tasche etwas drin, zum ersten Mal war Paul alleine unterwegs, um einen Fall zu klären.

Das fand ich irgendwie hübsch. Das mit der neuen Tasche. Ein neuer Abschnitt beginnt, Kinder bekommen Ranzen, er eine Tasche, wieder andere brauchen einen Anzug. Doch, so einem Neuling wünscht man ja eigentlich viel Erfolg. Da ich das Original kenne, ihm ja eher nicht, aber der Leser ohne Kenntnis, der ist hier noch ganz bei ihm.

Und schließlich habe man diesen Hinweis bekommen, dem müsse man nachgehen, ideal für einen jungen Bluthund wie Paul.

Das ist ja irgendwie das Argument, auf dem die Geschichte aufbaut. Da frag ich mich doch, wer den Zurgilgen da das Geld nicht gönnt, wer ihnen so viel Böses will. Schade, dass das nicht weiter verfolgt wird. Aber klar, anonym ist anonym und jeder häts sein können, viel Sinn macht es nicht wirklich. Aber ich als Leser wüsst' es eben gern, vor allem, aus welcher Motivation heraus der Anruf erfolgte.

Es waren fast zwei Kilometer bis zum Hof. Pauls Haare waren feucht geworden, seine Socken auch, er hätte festere Schuhe anziehen sollen.

Das mochte ich sehr. Dass er da mit dem Wetter so gar nicht zurecht kommt. Zu schick und unpraktisch. Ein Stadtkind auf dem Lande. Wie ein Fremdkörper - was er ja auch ist.

Der Hof sah aus, als sei nicht nur der alte Zurgilgen gestorben, sondern die ganze Familie.

Toll!

„Warum bist du gekommen?“

Das "du" ist prima. Der eine duzt, der andere bleibt beim "sie". Macht was her. Gleich wird der frischling noch bisschen mehr abgewertet, eine Autorität ist er nicht, trotz Schuhe und Tasche :).

„Wieso sollte er in der Scheune schlafen?“

Hehe.

Dann fiel Paul ein, was Gander ihm auch noch gesagt hatte. Der Ast bricht stets an der schwächsten Stelle.

Da ahnt man doch gleich ganz böses. Und siehe da, es passiert. Spätestens jetzt, gönnte ich ihm nichts mehr. Nur noch mehr Schnupfen und kalte Füße und Kopfschmerzen und Fieber - so Sachen eben.

Er kannte sich mit Kindern nicht so aus.

Das kann man so sagen ;).

„Wegen deinem Ätti.“ Keine Reaktion. „Weißt du, wenn ich ganz sicher bin, was mit deinem Großvater passiert ist, dann bekommt dein Papa viel Geld und darum müssen mir alle erzählen, wie es gewesen ist.“
„Aha.“
„Hast den Ätti gerngehabt, nicht?“
„Mhm.“
„Bist traurig?“
„Ja.“
„Willst mir von ihm erzählen?“ Franz schüttelte den Kopf. Sie waren inzwischen schon recht nahe beim Hof, der Junge begann schneller und schneller zu laufen, Paul wollte ihn an der Schulter fassen, um ihn zu bremsen, ließ es dann aber bleiben. Er musste jetzt aufs Ganze gehen.
„Du hast deinen Großvater gesehen, als er gestorben ist, nicht?“ Sie blieben stehen.
„Der Ätti ist eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Er lag im Bett und dann ist der Doktor gekommen.“ Es klang, als spreche der Junge mit dem Weihnachtsmann, ein Sprüchlein, lange eingeübt.
„Du weißt, dass man nicht lügen darf?“
„Ja.“
„Wenn du lügst, bekommt dein Papa kein Geld und dann muss er den Hof verkaufen.“

Sehr starke Szene.

Franz starrte ihn an, blieb stumm. Paul packte seine Hand und zerrte ihn mit sich, es waren nur noch wenige Meter bis zur Scheune, der kleine Racker wehrte sich, aber es galt, die Sache durchzuziehen.
„Schau nach oben, Franz.“
„Nein!“
„Du schaust jetzt nach oben. Dort hat er gehangen, der Ätti, dort am Balken!“, rief Paul. Tränen schossen in die Augen des Jungen, er begann zu wimmern. Paul zog den Strick aus seiner Aktentasche. „Da! Mit diesem Strick, stimmt‘s?“ Paul ging in die Knie, legte seine Hände auf die Schultern des Jungen und schaute ihm in die Augen. „Da habt ihr den Strick durchgeschnitten, schau, und dann habt ihr den Ätti ins Haus getragen.“ Franz schluchzte, gleich würde er zusammenbrechen. Dann blickte der Junge auf einmal an ihm vorbei.

Und dann wird es auch noch richtig fies. Ich finde das wirklich richtig gut gemacht von dir.

Paul legte das Seil zurück in die Aktentasche und gehorchte.

Das er da wie so ein Kind behandelt wird und sich auch noch in diese Rolle fügt (er traut sich ja eigentlich auch nur an die Schwächeren, an das Kind ran), sagt schon viel. Der Typ ist so ein Weichei. Er ist vom Leben dazu verdammt am Schreibtisch bei Kaffee zu bleiben, schön warm und trocken und Berichte zu schreiben, mit Fakten, die andere ihm bringen.

Als erstes durchsuchte er den Wohnzimmerschrank.

Mich hät noch ein Satz interessiert, wie er hineingekommen ist. Gibt ja Orte auf der Welt, da schließt man die Türe nicht ab. Ich kenne das allerdings mehr aus Skandinavien. Da bin ich immer der Volltrottel, der das Auto vor dem Supermarkt verschließt. Andere Touris haben eine Kamera um den Hals, ich schließe das Auto ab :D.
Also ja, ich hät gut gefunden, Du erzählst mir noch kurz, Kellertür offen oder sogar Haustür. So bin ich zu sehr deutsch und zu wenig Schweizerfahren, um den Fakt einfach zu schlucken.

Ein Schlag auf seinen Hinterkopf. Paul wollte sich in die Haare fassen, seine Arme gehorchten ihm nicht, er wurde ohnmächtig ...
Lass ihn liegen. Lass ihn einfach liegen.

Okay, man hat verhindert, dass er den Brief als Beweisstück mitnehmen kann. Aber er hat ihn gesehen. Ich fand das irgendwie leichtfertig nach der Knüppelaktion.

So, und dann drückst Du Dich darum, dem Leser irgendwie zu zeigen, woher nun der Sinneswandel. Klar, man kann jetzt wild spekulieren. Ich sehe nicht, dass er da aufwacht und auf einmal Verständnis für die Familie hegt,, nachdem die ihm eins über den Schädel gezogen haben. Da müsste er doch eigentlich erst recht wollen, dass denen jetzt auch Böses geschieht.
Kurzzeitiger Gedächtnisverlust, hätte ich gut gefunden. Und weil er seinem Chef ja keine Schwäche zeigen darf, sagt er eben frei heraus, alles korrekt. Das stellt ihn in ein gutes Licht und passt super zu seinem Charakter. Wäre auch nicht schwer, das an den Leser zu bringen. Und eben auch logisch. Machste aber nicht, finde ich schade, dass Du dich da als Autor so rausziehst, um nicht zu sagen, ich finde tatsächlich, dass das Ende weit hinter der Geschichte zurückbleibt.

Aber sprachlich ist das schön. Ich finde die Paulfigur auch ganz herrlich erbärmlich. Den hast Du echt gut getroffen. Mein persönliches Highlight der Geschichte!

Schönes Ding. Bis auf ..., aber bis dahin :thumbsup:

Beste Grüße, Fliege

 

Hallo Peeperkorn,

das finde ich mal eine richtig starke Idee für ein Copy. Kein Umgeschreibe, sondern mit einer neuen Figur ein weiteres Schlaglicht einzuführen, ohne an der Ursprungsgeschichte rumzuschrauben. Hast du gleich diese Vision gehabt?

Atmosphäre ist sehr gut getroffen. Da schwingt schön das Original mit, so wie ich es in Erinnerung habe. Schließt also nahtlos an. Auch deinen Paul finde ich klasse.
Handwerklich habe ich nichts zu bemängeln. Ich fließe durch den Text ohne Stolperer und wüsste auch keine Szene zum Streichen. Allerdings gehöre ich auch zu jenen Stimmen, die das Ende etwas zu abrupt finden.
Das liegt zum Teil daran, dass ich da so viele Dinge in dem Text gewittert habe. Hab nur ich an eine Vergiftung gedacht, als es deinem Paul immer schlechter ging, je länger er im Ort blieb und je mehr er aufgetischt bekam? - oder war das so angelegt?
Der Wechsel zum Anruf dann, da dachte ich, dass er vielleicht dazu gezwungen wird, also mit vorgehaltener Waffe (welcher Art auch immer). Dass sich die Bauern nicht sonderlich schlau anstellen hast du ja eingestreut zu Beginn mit dem Verbrennen der Scheunen, also wäre es für mich auch denkbar gewesen, dass sie nicht darüber nachgedacht haben, wie sie mit dieser Erpressung durchkommen wollen.
Also in meinen Augen jede Menge Fährten. Und dann kommt gar nichts.
Damit das wirken kann, würde ich die Szene nicht so abbrechen lassen, wie du es getan hast. Da ist ja noch alles offen, die Gefahr ist so greifbar, sind seine Peiniger noch bei ihm? Es müsste klarer sein, dass er nur dort abgelegt wurde und jetzt allein ist. Am besten erhebt er sich und schleicht fort. Dann erst das Telefonat. Oder so :drool:
Das sind jetzt meine Gedanken zu deinem wirklich sehr starken Text, den ich ausgesprochen gerne gelesen habe. Ist so ein Text, den man als Beispiel für eine der zahllosen Möglichkeiten, die einem beim Copywrite frei stehen, verlinken könnte.

grüßlichst
weltenläufer

 
Zuletzt bearbeitet:

dotslash, Isegrims, Fliege, weltenläufer

Bisher habe ich bloss gewackelt, habe mir in meiner Antwort an Isegrims nichts anmerken lassen, doch jetzt falle ich um. Habe ich also darüber nachgedacht und ja, die Einsicht kommt so langsam, ich habe schon bei einer meiner letzten Geschichte geschrieben, dass ich noch nicht so ein gutes Gefühl dafür habe, wie viele Infos / Erklärungen eine Geschichte braucht. Da lasse ich mir doch endlich helfen und füge folgenden Abschnitt zwischen dem Aufwachen vor dem Hof und dem Telefongespräch ein:

Er ging zurück zum Ort, immer wieder musste er sich hinsetzen, überprüfen, ob er noch blutete, durchatmen, weil ihm schwindlig war. Er brauchte Verstärkung, dachte er, Gander musste herkommen und die Polizei. Doch dann wurde ihm bewusst, was das bedeuten würde. Weshalb er das Kind derart drangsaliert habe, würden sie ihn fragen. Wie er in das Wohnhaus der Zurgilgens hineingelangt sei? Ob man sich bei der Alpha-Versicherung nicht ans Gesetz halte? Paul wurde übel. Er drehte sich um, betrachtete die Felsen, die hinter dem Hof aufragten, und gab sich geschlagen.

Merci fürs Nachhaken, braucht manchmal eine Weile bei mir.


Hallo Fliege

Ich habe mich sehr über deine Anmerkungen gefreut, klar, war ja viel Lob dabei. Am meisten aber darüber:

Und dann wird es auch noch richtig fies. Ich finde das wirklich richtig gut gemacht von dir.

Glaub mir oder nicht, aber ich habe beim Schreiben der Szene an dich gedacht, der kleine Franz tat mir so leid, aber ich hörte dich sagen, dass ich meinen Figuren weh tun soll. Dass du genau diese Stelle nun herauspickst, lässt mich einen Purzelbaum schlagen.

Mich hät noch ein Satz interessiert, wie er hineingekommen ist. Gibt ja Orte auf der Welt, da schließt man die Türe nicht ab.

Ich habe das so gelöst, dass ich das in der neu geschriebenen Passage als Frage formuliere. Ja, bei mir stand automatisch alles offen, dort oben schliesst man nicht ab.

Okay, man hat verhindert, dass er den Brief als Beweisstück mitnehmen kann. Aber er hat ihn gesehen. Ich fand das irgendwie leichtfertig nach der Knüppelaktion.

Das „lass ihn liegen“ bezieht sich auf Paul. Er hört das, wenn er halb ohnmächtig im Gras liegt. Ich habe das klarer gemacht, durch: „Lass den Mann liegen.“

So, und dann drückst Du Dich darum, dem Leser irgendwie zu zeigen, woher nun der Sinneswandel.

Finde ich schön mahnend formuliert: sich drücken. Nehme ich mir zu Herzen.


Hallo weltenläufer

Hast du gleich diese Vision gehabt?

Auf der abstrakten Ebene: Ja. Ich mag so Texte wie „Ruhm“ von Kehlmann, wo eine Nebenfigur des ersten Kapitels zur Hauptfigur des zweiten wird, eine Hauptfigur des dritten zu einer Nebenfigur im vierten, oder ähnlich. Bis aber klar war, welche Figur ich herausgreifen / neu kreieren will, ging’s noch eine Weile. Zunächst hatte ich an den Arzt gedacht, aber da sah ich zu wenig Konfliktpotential.

Handwerklich habe ich nichts zu bemängeln. Ich fließe durch den Text ohne Stolperer und wüsste auch keine Szene zum Streichen. Allerdings gehöre ich auch zu jenen Stimmen, die das Ende etwas zu abrupt finden.

Das Lob nehme ich mit, bei der Kritik bin ich dir (euch) entgegengekommen. An Vergiftung habe ich überhaupt nicht gedacht. So was wird jetzt durch das neue Ende rausgenommen.

Am besten erhebt er sich und schleicht fort. Dann erst das Telefonat. Oder so.

Genau so!

Ist so ein Text, den man als Beispiel für eine der zahllosen Möglichkeiten, die einem beim Copywrite frei stehen, verlinken könnte.

Nur zu, ich nehm‘ jede Ehrung an. :D

Lieber Gruss euch allen
Peeperkorn

 

Nur kurz:
Finde es mit dem Einschub auf jeden Fall besser. Vielleicht findest du noch was Besseres als Er war zu weit gegangen?
Und das hier ist ein ungewolltes Wortspiel, oder?

Er ging in die Knie, musste sich noch einmal übergeben und gab sich geschlagen.
das würde ich ändern, klingt ja fast wie behandschuhte Hand :D

grüßlichst
weltenläufer

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey Peeperkorn,

Glaub mir oder nicht, aber ich habe beim Schreiben der Szene an dich gedacht, der kleine Franz tat mir so leid, aber ich hörte dich sagen, dass ich meinen Figuren weh tun soll. Dass du genau diese Stelle nun herauspickst, lässt mich einen Purzelbaum schlagen.

Oh je. Der ernst offshore bringt die Leute um, Du quälst kleine Kinder ... ich fühle mich schlecht. Ich will wieder raus aus euren Ohren!

Finde ich schön mahnend formuliert: sich drücken. Nehme ich mir zu Herzen.

Geht doch! :D Ich finde es jetzt wirklich schön rund. Und man denkt das ja tatsächlich selber beim Lesen die ganze Zeit. Da er es jedoch tut, hab ich ihm einfach nicht zugetraut, sich das selbst zur Last zu legen. Wenn jetzt aber andere kommen und ihm so Fragen stellen, jaaaa - Na gut. Da hätte man auch selbst drauf kommen können.

Lieben Gruß, Fliege

 

Fliege

Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los.

Johann Wolfgang von Goethe

:D

 

Hallo Peeperkorn

Ich habe mich beim Lesen der Kommentare gewundert, warum immer wieder Pauls Beweggründe am Ende kritisiert werden und konnte das nicht nachvollziehen, bis ich gesehen habe, dass ein gewisser Abschnitt in der Anfangs-Version noch nicht enthalten war. Ich habe den Text mit diesem Abschnitt gelesen, meiner Meinung nach bleiben da keine Fragen offen, also das hat definitiv geholfen.

Handwerklich gibts an dem Text gar nichts auszusetzen. Du bist ein sehr routinierter Autor, das merkt man jedem deiner Texte an, und nicht umsonst hat es auch deine beste Geschichte in den Tagesanzeiger geschafft. Ich hab auch diesen Text hier sehr gern gelesen, der hat mich ausgezeichnet unterhalten.

Trotzdem hab ich den einen oder anderen inhaltlichen Kritikpunkt.

Da hätten wir die Herkunft des Anrufs. Das wurde schon erwähnt, du bist auch darauf schon eingegangen, aber für mich hätte eine Auflösung in die Geschichte gehört. Man erfährt ja noch nicht einmal, bei wem angerufen wurde. Eigentlich wäre das sogar ein Fall für eine Ermittlung seitens der Polizei. Ich kann mir auf diesen Anruf überhaupt keinen Reim machen, und es hat mich enttäuscht, dass man als Leser da nicht mehr darüber erfährt.

Dann die Aktion mit dem Kind. Die fand ich total daneben. Was denkt sich Paul dabei? Zum einen ist er ein fremder Erwachsener, der in einem Dorf ein Kind anspricht, es sogar körperlich drangsaliert:

Paul packte seine Hand und zerrte ihn mit sich, es waren nur noch wenige Meter bis zur Scheune, der kleine Racker wehrte sich, aber es galt, die Sache durchzuziehen.

Mit viel Glück wird er bei einer solchen Aktion nicht verhaftet. Und selbst wenn das Kind "gesteht". Was ist so eine "Aussage" wert? Überhaupt nix. Was könnte Paul im besten Fall gewinnen? Klar, er selbst könnte (vielleicht) Gewissheit bekommen, aber vor Gericht würde so etwas niemals standhalten. Er kann überhaupt nix gewinnen, setzt aber seine eigene Zukunft aufs Spiel. Fand ich nicht gut und nicht nachvollziehbar.

Auch die Aktion mit dem Zettel, das ist zu einfach. Natürlich gibt es einen Zettel, und natürlich ist der Hof leer, und natürlich findet Paul dann auch diesen Zettel. Weil man den auch nicht besser verstecken kann, wenn man einen Selbstmord schon wie einen normalen Todesfall aussehen lassen will. Hier auch wieder: Was ist so ein Zettel wert, selbst wenn Paul es gelingt, ihn sicherzustellen? Wie will er jemals erklären, wie er an den Zettel gekommen ist? Und wenn die anderen behaupten, nein, den Zettel hat Alfred nicht geschrieben, sondern Paul? Was dann? Klar, graphologische Gutachten und Fingerabdrücke usw. ... aber ein Abschiedsbrief ist kein Beweis für einen Selbstmord (sage ich jetzt mal so, ich kenne mich juristisch nicht aus, aber ein Abschiedsbrief beweist zunächst nur, dass jemand einen Brief geschrieben hat). Dann sagen sie halt, ja, Alfred hat den Zettel geschrieben, aber offenbar hat er es sich anders überlegt, denn gestorben ist er trotzdem im Bett. Und dann?
Hier geht Paul auch wieder für nichts und wieder nichts ein enormes Risiko ein. Ich konnte das nicht nachvollziehen.

Mir haben aber auch einige Dinge gut gefallen: Die Atmosphäre wurde schon gelobt, dem schließe ich mich an. Ich fand es beispielsweise auch gut, dass ihm das Essen nie geschmeckt hat, das ist auch ein schönes Detail, wie unwohl er sich an dem Ort fühlt.
Dann fand ich gut, dass er immer wieder in Sackgassen gelaufen ist, wie bspw. beim Gespräch mit den Männern in der Kneipe. Du legst ihm da immer wieder Hürden in den Weg, ebenso mit dem Kater und später der Krankheit, das fand ich auch gut. Auch dass er am Ende scheitert hat mir gefallen. Wenngleich ich es im Hinblick auf den Krimi-Tag noch besser gefunden hätte, wenn er in bester Columbo-Manier etwas hervorgezaubert hätte, an das bislang niemand gedacht hat und das wirklich hieb- und stichfest bewiesen hätte, dass es sich um einen Selbstmord handelte.

Also Peeperkorn, ich lese Krimis sehr gerne, deshalb hab ich da vielleicht auch immer ein etwas kritischeres Auge, wenn es um Glaubwürdigkeit und Stichhaltigkeit von Beweisen / Indizien geht. Das ist für mich einfach ein wichtiges Element in diesem Genre. Ich konnte an vielen Stellen deinem Paul nicht folgen, aber ich möchte trotzdem zum Abschluss nochmal mein Kompliment wiederholen, dass die Geschichte toll geschrieben ist und mich insgesamt gut unterhalten hat. Und selbst weiß ich ja auch, dass ein Copywrite nicht ganz einfach ist, weil auch der Zeitdruck dazu kommt. Unter diesen Umständen ist das - einmal mehr von dir - eine tolle Leistung.

Grüsse,
Schwups

 

Hallo Peeperkorn,
ich bin zwar im Urlaub, aber für eine kleine Rückmeldung sollte es reichen.
Ich bin mal wieder begeistert von deinem Text.
Bis auf eine Sache, die ich dir aber einfach nur so mal erzählen wollte. Es ist keine echte Kritik, sondern eher ein Gedanke, der mir anlässlich deiner Geschichte eingefallen ist. :)

Ich fang mal mit der Atmosphäre an. Die ist mal wieder der Wahnsinn. Wie du die Handlung mit den Landschaftselementen, aber auch mit diesem komischen Zahnradzug (sagt man so?) kombinierst, das hat was sehr Spannungsvolles. Schon gleich am Anfang, wenn da die Räder einrasten, da wird einem ganz anders, man weiß, da spult sich gleich was auf in dieser Geschichte. Da passiert was Hintergründiges, man spürts nur, aber man sieht es nicht wirklich. Ähnlich machst du das dann auch, ob das der Dialog zwischen Paul und dem Bauern ist oder der Abend am Wirtshaustisch. Immer schwebt da was im Hintergrund. Die Dinge in diesen Bergen scheinen gleich zu bleiben. Stur, unangreifbar, Berg und Mensch, nur man selbst, der Neue, verändert sich.
Und diesen letzten Punkt, den hast du über Pauls Ermittlungsversuche ein- und durchgeführt. Ich fand die Versuche zwar auch nicht so besonders stichhaltig, da ging es mir ähnlich wie Schwups, aber ich hab sie mehr in die Richtung interpretiert, dass der Paul getrieben wird von dem Versuch der Aufklärung. Er WILL, er MUSS etwas finden. Gar nicht mal nur für den Job, mehr noch für sich selbst. Und wenn man so getrieben ist, dann kommt man auch auf absurde Einfälle, die man hinterher vielleicht gar nicht verwerten kann, oder die einem sogar irgendwann die Augen öffnen vor sich selbst.
Und dann sieht man etwas Schreckliches. Jemanden, der gar keinen Respekt mehr hat vor anderen, der zu weit geht, eindeutig zu weit. Dieser letzte Punkt, der steckt total in deiner Geschichte drin, so ein richtiges Drama. Aber er ist nur angedeutet. Und für eine solche Entwicklung hättest du dann stellenweise die falsche Reihenfolge. Ich finde, man schleicht sich doch eher in ein Haus ein, um einen Brief zu suchen, obwohl das auch schon krass ist. Oder man guckt sich so ein bisschen um während des Besuchs.
Aber diese fiese Nummer gegenüber dem Kind, die hätte ich an den Schluss gesetzt. Das widerspricht ja schon so einigen Prinzipien und Wertvorstellungen. Und ich bin mir sicher, für diese Kindsquälerei könnten ihm die Bauern auch gut und gerne eines überbraten. Meine Idee war einfach, der Paul wird gleichzeitig immer kränker und auch getriebener und gehen tut er dann, weil er sich vor sich selbst erschrickt. Vor dem, wie weit er zu gehen bereit war - nur für eine Aufklärung. Ich weiß, das ist eine andere Idee als deine. Bei dir gibt er auf, denn: Er kann gegen die Bauern, gegen die Berge, gegen diese ganze verschworene und verschwiegene Sippschaft nicht an. Und das kommt auch raus.
Meines ist eine etwas andere Idee, da verändert er sich selbst stä#rker und nimmt das auch stärker selbst wahr, er steigert sich mit seinem unbedingten Ermittlungswillen, bis er sich zu einem Grad selbst aufspult, der ihm Angst einjagt vor sich selbst. Er ist auch nicht besser, nein, er ist schlechter als die ganze verlogene Sippe, die die Versicherung betrügt, zusammen.

Nimms nicht gegen deine Geschichte. Sondern als Gedanken zu deiner Geschichte. Vielleicht liegt es an unseren Schreiberköpfen, dass wir immer gleich die Geschichten um- oder weiter- oder alternativentwickeln.

Ganz viele Grüße von Novak auf dem Weg in die Pyrenäen

 

weltenläufer

Die Felsen türmen sich nun auf, um einen Gleichklang zu vermeiden. Merci für den Hinweis.

Fliege

Schön, dass es nun passt. Und sorry, du bleibst in meinem Kopf, musst hoffen, dass ich das Prinzip auf literarische Figuren beschränke. Danke, dass du noch mal reinschaut hast.

Hallo Novak, hallo Schwups

Ich habe mich über eure Kommentare sehr gefreut. Ich nehme mir heraus, euch gemeinsam zu antworten, denn eure Anmerkungen bewegen sich zwar in verschiedene Richtungen, liegen aber auf derselben Ebene. Ich versuche das zu integrieren.

Zunächst beruhigt mich sehr, dass das Handwerk in euren Augen stimmt. Formulierungen wie „routiniert“ (Schwups) oder „wieder mal“ (Novak) haben mich sehr gefreut. Normalerweise bleibt bei mir Kritik hängen und das Lob verblasst schnell. Aber eure Anmerkungen geben mir das Gefühl, auf einem Plateau angekommen zu sein. Keine unmittelbare Absturzgefahr, so dass ich den Fokus auf andere Dinge legen, mich mal umschauen kann, welchen Weg ich eigentlich einschlagen möchte.

Und das betrifft auf alle Fälle auch das Thema „Plot“. In den Rückmeldungen zu einigen meiner Geschichten werden Elemente identifiziert, die unglaubwürdig sind, Entwicklungen, die sich nicht ganz nachvollziehen lassen, Unstimmigkeiten halt. Ich versuche, in Zukunft stärker an diesen Punkten zu arbeiten, vielleicht die Konzeptphase zu verlängern, hier detaillierter zu arbeiten, so dass ich nicht mitten in der Geschichte irgendeinen Kunstgriff einfügen muss.

Konkret: Ich glaube, das Problem bei dieser Geschichte ist, dass sie bezüglich Plot (und Genre) nicht eindeutig ist. Sie besitzt keine klare Prämisse, bzw. deren zwei. Die eine ist die Krimiprämisse: „Gegen die geschlossene Welt der Bergler hat der Ermittler keine Chance“. Worauf Schwups antworten würde: „Ja klar, wenn man so ermittelt, dann sicher.“ Die andere ist die psychologische Prämisse: „In der Welt der Berge verliert der Ermittler sein Gespür für das moralisch Richtige, verrennt sich und erkennt erst am Ende seinen Irrtum.“ Worauf Novak antworten würde: „Ja, aber das könnte man noch etwas besser herausarbeiten.“
Also grundsätzlich liegt das Gewicht schon eher bei der zweiten Prämisse. Zum einen habe ich den Krimi-Tag ja schon früh entfernt, weil ich gemerkt habe, dass dieser Erwartungen weckt, denen der Text nicht gerecht werden kann. Zum anderen habe ich die Ermittlungsmethoden auch in dem Kontext gesehen, den Novak anspricht:

Und diesen letzten Punkt, den hast du über Pauls Ermittlungsversuche ein- und durchgeführt. Ich fand die Versuche zwar auch nicht so besonders stichhaltig, da ging es mir ähnlich wie Schwups, aber ich hab sie mehr in die Richtung interpretiert, dass der Paul getrieben wird von dem Versuch der Aufklärung. Er WILL, er MUSS etwas finden. Gar nicht mal nur für den Job, mehr noch für sich selbst. Und wenn man so getrieben ist, dann kommt man auch auf absurde Einfälle, die man hinterher vielleicht gar nicht verwerten kann, oder die einem sogar irgendwann die Augen öffnen vor sich selbst.

Nur habe ich das nicht konsequent umgesetzt. Das hätte nämlich bedeutet, Paul mehr Zeit zu geben, sich in die Sache reinzusteigern, erste normale Ermittlungsversuche, dann längere Reflexion, zeigen, dass Paul getrieben wird und – sehr gute Idee, Novak! – die Szene mit dem Kind am Ende, weil die in psychologischer Hinsicht den Höhepunkt darstellt.

Aber ich lasse den Paul sehr schnell auf diese seltsamen Ermittlungsmethoden zurückgreifen, so dass Schwups das im Krimi-Modus liest und dann natürlich enttäuscht wird. Und ich setze den Einbruch an das Ende der Geschichte, weil das in kriminalistischer Hinsicht den Höhepunkt darstellt.

Am Ende sind beide Leser nicht ganz zufrieden und das liegt, denke ich, an dieser Uneindeutigkeit des Textes.

Ich weiss noch nicht, ob ich die Energie finde, das noch mal grundsätzlich anzugehen, aber diese Gedanken nehme ich auf alle Fälle mit für weitere Geschichten. Falls ich den Text überarbeiten werde, dann werde ich Paul auf alle Fälle mehr Zeit geben, sich emotional festzubeissen, vielleicht müsste ich mehr Innensicht schreiben (was ich grundsätzlich nicht so gern tue), was die Absurdität seiner Aktionen vorbereiten und für den Leser plausibler machen würde. Und ja, die Szene mit dem kleinen Franz eher am Ende.

Novak, Schwups, ihr habt mir wahnsinnig weitergeholfen mit euren Anmerkungen und zwar in vielerlei Hinsicht. Merci!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo Peeperkorn,

ich hatte gestern erst das „Original“ zu deiner Geschichte gelesen und stelle nun fest, dass du hierzu ein CopyWrite gemacht hast. Dann bin ich ja noch voll im Thema …

Draußen standen sie im Gras, Sensen in der Hand, hellblaue Hemden, die Frauen mit Kopftüchern und weiten Röcken. Ein Wunder, dass sie nicht runter auf die Gleise rutschten, so steil war der Hang, den sie mähten.
Ein ebenso starker Anfang wie bei dotslash
Ihr Schweizer habt’s drauf :D

um einen Fall zu klären. Er zog das Dossier heraus. Alfred Zurgilgen, dreiundsiebzig. Herzversagen
Aha, aus der Sicht des Versicherungsfuzzis, der den Fall klären will. Gut!

Karl Zurgilgen, Bauer, Rütistrasse eins, Kratten.
Ich hätte hier “Rütistrasse 1” gesagt,so wies es vermutlich in den Unterlagen steht. Aber egal.

Der Mann erhob sich, schulterte einen riesigen Rucksack und ging zum Ausgang.
„Karl Zurgilgen?“
Der Mann stieg aus,
Bin sonst kein Freund von Wiederholungen, aber hier passt es.

Der Hof sah aus, als sei nicht nur der alte Zurgilgen gestorben, sondern die ganze Familie.
Sehr schön.

„Nicht in der Scheune.“
„Wieso sollte er in der Scheune schlafen?“
Klasse!

Dann sah er, dass neben ihrem Bild ein Seil am Haken hing, genau an der Stelle, die jetzt leer war.
„Ich möchte mir noch einmal die Scheune ansehen“, sagte er.
Foreshadowing par excellence :thumbsup:

Der Fleischvogel war trocken und faserig, Paul spülte ihn mit einem großen Bier hinunter.
„Hat’s geschmeckt?“, fragte die Serviertochter.
„Wunderbar!“
Noch so eine wunderbar lustige Stelle

Der Ast bricht stets an der schwächsten Stelle.
Oh, oh, ich ahne Fürchterliches.

Gut, ich war jetzt mit meinem Kommentar relativ spät dran; du hast in der Zwischenzeit wohl auch schon mehrmals überarbeitet. Für mich bleibt so nichts mehr zu bemängeln übrig. :Pfeif:

Vielleicht doch noch ein Punkt:

Zum ersten Mal war in der Tasche etwas drin, zum ersten Mal war Paul alleine unterwegs, um einen Fall zu klären.
Das klingt, als wäre er zuvor immer nur der Assistent eines Kollegen / Ermittlers
gewesen. Gut.
Aber warum war denn dann seine Aktentasche vorher immer leer? Das verstehe ich nicht.
Vielleicht so: Zum ersten Mal war in der Tasche etwas Richtiges drin, zum ersten Mal war Paul alleine unterwegs, um einen Fall zu klären.

Mir gefällt es sehr gut. Auch die Idee der Sichtweise ist klasse. :)

Wünsche dir ein schönes Wochenende.

Liebe Grüße,
GoMusic

 

Hey GoMusic

Danke für den Besuch!

Gut, ich war jetzt mit meinem Kommentar relativ spät dran; du hast in der Zwischenzeit wohl auch schon mehrmals überarbeitet. Für mich bleibt so nichts mehr zu bemängeln übrig.

Ja, so eine Horde Wortkrieger mit Trimmscheren in den Händen, da ragen bald nur noch wenige Ästchen aus dem Text.

Das klingt, als wäre er zuvor immer nur der Assistent eines Kollegen / Ermittlers
gewesen. Gut.
Aber warum war denn dann seine Aktentasche vorher immer leer? Das verstehe ich nicht.
Vielleicht so: Zum ersten Mal war in der Tasche etwas Richtiges drin, zum ersten Mal war Paul alleine unterwegs, um einen Fall zu klären.

Ich dachte auch, dass er zuvor als Assistent unterwegs war und habe ihn da einfach ohne Aktentasche dabeisein lassen. Ich habe das jetzt eindeutiger gemacht. Wenn ich die Wahl habe zwischen Ergänzung und Kürzung, du weisst schon ... Ich habe das "alleine" gestrichen, Paul somit ohne vorgängiges Praktikum in die Berge geschickt. :)

Die eins habe ich zur 1 gemacht, das hat mich überzeugt, ist ja ein Auszug aus einer Akte.

Hab' vielen Dank für deine Anmerkungen, ich hoffe, mich am WE revanchieren zu dürfen.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

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