Was ist neu

Der Schneckenbaum

Mitglied
Beitritt
11.12.2015
Beiträge
142
Zuletzt bearbeitet:

Der Schneckenbaum

„Ach ja!“, seufzt Erwin und streicht Greta liebevoll über den Arm. „Das waren gute Zeiten damals.“
Greta schaut kurz auf, nickt, lächelt versonnen. „Ja, Erwin. Das waren sie.“ Mit einem verzagten Lächeln widmet sie sich wieder ihrer Arbeit und schält weiter die Kartoffeln. Lose verstreut liegen die noch zu schälenden auf dem Tisch unter dem Apfelbaum. Erdklümpchen fallen von ihnen ab.
Einige Schnecken sind in der Nacht am Baumstamm hochgekrochen und suchen nun Schutz in der schattigen Krone. Sanft, im Rhythmus des Windes, tanzen die Schatten der Blätter auf der Tischdecke. Es ist ein ruhiger Vormittag. Friedvoll. Die Luft ist schwer vom Duft des Flieders und es ist zu erahnen, dass es wieder ein sehr heißer Tag wird.

Erwin beobachtet eine Biene. Lauscht ihrem Summen. Damals, als er Greta kennenlernte, trug sie ein zitronengelbes Kleid mit kleinen hellblauen Blüten bedruckt über ihrem Badeanzug. Ihr helles Lachen war über den ganzen See zu hören. Ihr Haar leuchtete in der untergehenden Sonne golden. Es lag ein Zauber über allem. Keiner der Freunde wollte nach Hause gehen, obwohl es bereits dämmerte. So wurde ein Lagerfeuer entzündet und alle versammelten sich darum. Schon bald fanden sich ihre Blicke und ließen einander nicht mehr los. Sie nahm seine Hand und zog ihn mit sich fort. Ihre Haut roch nach Sonnenmilch, der Badeanzug nach Seewasser.
Das ist fast ein halbes Jahrhundert her.

Greta legt die nächste Kartoffel in den Topf mit Wasser. Sie ist nur halb geschält und Reste der Erde lösen sich langsam im Wasser ab. Es ist schon ganz braun. Erwin wendet schnell den Blick ab. „Ich mache uns einen Tee, Greta!“

Er geht in die Küche und bereitet das Teegeschirr vor. Tassen, Löffel, Filter in die Kanne. Wasser kochen. Früher hat Greta das immer getan. Er stützt sich am Herd ab.

Damals, als ihr Kind viel zu früh geboren wurde. Als die Ärzte sagten, er würde es nicht schaffen, ihr Sohn, der Peter. Damals saß sie wochenlang neben seinem Bettchen, mit all den Schläuchen und Apparaten. Klein, rosa und unfertig lag er da. Und sie wachte über ihn. Tag und Nacht. Sie gab ihn nie auf, dachte nicht mal daran, kämpfte um ihn. Bis dieses Würmchen, ihr Peter, wohl eines Tages beschloss, eben doch ein fertiges Baby zu sein und überlebte.

Er blickt durch die Fensterscheiben in den Garten, wo eine alte Frau Kartoffeln schnitzt. Seine Nase wird rot und er muss sich heftig die Augen reiben. Einen verzweifelten Schluchzer kann er nicht unterdrücken. Tränen tropfen auf die Tassen.

Nächtelang hat er wachgelegen und darüber nachgegrübelt, ob es richtig sei.
Der Arzt hatte ihnen den Verlauf der Krankheit genau geschildert. Sie wussten, was sie erwartet. Er gab ihr sein Versprechen.
Er liebt sie so sehr! Doch dieser hilflose, ängstliche Blick: das ist nicht seine Greta. Das ist sie nicht!

Das Pfeifen des Teekessels holt ihn aus seinen Gedanken zurück. Er reibt sich das Gesicht trocken. Heute erst hatte er ihm geschrieben, seinem Sohn, dem Peter, der inzwischen mit eigener Familie glücklich im Westen lebt. Auch ihn liebt er.

Mit leisem Klappern stellt Erwin das Teegeschirr auf einem Tablett zusammen. Es ist ein helles Klappern, klingt fast fröhlich. Er hat alles vorbereitet.

Zurück im Garten umfängt ihn wieder dieser Frieden. Die Blätter rascheln im Wind. Die Schnecken haben einen kühlen Platz am Baumstamm gefunden und sich ins Häuschen zurückgezogen. Greta schält emsig die Kartoffeln. Es sind nur noch wenige übrig. Erwin stellt dass Tablett zwischen die Erdklümpchen, die von den Kartoffeln abgefallen sind, auf den Tisch und schenkt beiden ein.

Dann lehnt er sich in seinem Stuhl zurück, so dass ihm die Sonne ins Gesicht scheinen kann und schließt die Augen. „Ich habe Peter einen Brief geschrieben", murmelt er müde.
„Wer ist Peter?“, fragt Greta mit überraschtem Blick.
„Trink noch einen Schluck Tee, mein Liebes!“, beflissen wie ein braves Kind nimmt Greta die Tasse und trinkt sie leer.

Die Schatten tanzen über die Tischdecke. Eine kleine Schnecke fällt vom Baum.

Greta sackt ganz leise neben Erwin zusammen. Ihre Hand öffnet sich, und das Schälmesser fällt zu Boden. Erwin schließt sie in seine Arme und streicht ihr wie einem schlafenden Kind über die Wange. Dann trinkt er den letzten Schluck aus seiner Tasse.

 

Hallo Lind,

deine Geschichte hat mich sehr berührt.
Ich möchte deinen Erwin drücken, bevor er den letzten Schluck aus seiner Tasse nimmt. Am besten noch, bevor er den Tee zubereitet. Ihm sagen, dass ich davon überzeugt bin, dass sich Greta nichts "schöneres" vorstellen könnte, als gemeinsam mit ihrer großen Liebe aus dem Leben zu treten.
Wie du in einer Antwort geschrieben hast, wolltest du, dass alles "im Kopf des Lesers" passiert. Das ist dir definitiv gelungen. Ich bin so frei und glaube, dass sich Greta und Erwin eines Tages gemeinsam für diesen Abschied entschieden haben. Außerdem hoffe ich, dass Peter Bescheid weiß. Er wird die Entscheidung respektieren.

Ich habe deine Geschichte sehr gerne und betroffen gelesen.

Liebe Grüße,
JackOve

 

Hallo Lind,

bin spät dran. Deine Geschichte hatte ich auch noch in meiner Merkliste.
Ich steige sofort ein.

Greta legt die nächste Kartoffel in den Topf mit Wasser. Sie ist nur halb geschält und Reste der Erde lösen sich langsam im Wasser ab. Es ist schon ganz braun. Erwin wendet schnell den Blick ab. „Ich mache uns einen Tee, Greta!“
Wieso wendet er schnell den Blick ab? Kann er den Anblick des brauen Wassers nicht ertragen?
Erst später im Text meine ich zu erkennen, dass Greta wohl nicht mehr ganz bei der Sache zu sein scheint …

Damals, als ihr Kind viel zu früh geboren wurde.
Da fehlt mir ein Halbsatz.

Damals saß sie wochenlang neben seinem Bettchen, mit all den Schläuchen und Apparaten. Klein, rosa und unfertig lag er da. Und sie wachte über ihn. Tag und Nacht. Sie gab ihn nie auf, dachte nicht mal daran, kämpfte um ihn. Bis dieses Würmchen, ihr Peter, wohl eines Tages beschloss, eben doch ein fertiges Baby zu sein und überlebte.
Das sagt alles in wenig Worten. Sehr gut.

Nur: Kann mir nicht vorstellen, dass sie wochenlang, Tag und Nacht bei ihrem Baby sein durfte. Zumindest nicht in den ersten Wochen, da das Kind da ja noch auf der Intensivstation gelegen hatte. Ich kenne es so, dass man nur ein oder maximal zwei Mal am Tag für kurze Zeit, selbst als Eltern, hereindarf. (Ich spreche jetzt von der Zeit, in der die Geburt in deiner Geschichte spätestens stattgefunden haben musste, schätze mal in den Achtzigern)

(Außerdem scheint die Mama viel Glück gehabt zu haben, dass das Krankenhaus, in dem sie entbunden hatte, auch eine Kinderklinik hatte. Ansonsten hätte sie ihr Baby nicht sehen können, weil sie ja nach der Frühgeburt selber einige Tage nicht aufstehen darf.
War/ist das so im Osten gang und gäbe (gewesen) mit den Kliniken? )

Puh, ein tolles, überraschendes Ende; mit wenigen Worten. Finde ich sehr gelungen.
Greta sitzt draußen und hat dort in der Idylle ihren Frieden gefunden.

Die Story hätte wahrscheinlich auch ohne die schlimme Frühgeburt-Sache gut funktioniert. Zwei Extreme braucht sie gar nicht. Welche Rolle spielt es heute, da Peter ja wohl gesund ist?
Darüber grüble ich noch nach.
Eine Geschichte zum Nachdenken halt. Danke dafür. :thumbsup:

Hat mir gefallen.

Liebe Grüße,
GoMusic

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo GoMusic,

Vielen Dank für deinen Kommentar! Das hat mich sehr gefreut, dass dir die Geschichte gefallen hat.

Warum ich die Frühgeburt und die nachfolgend schwierige Zeit so ausführlich dargestellt habe, fragst du: ich wollte damit ganz deutlich machen, welchen Stellenwert "ihr Peter" für Greta hat, dass er der Mensch ist, an den sie sich garantiert immer erinnern würde, da er wahrscheinlich sogar der wichtigste Mensch auf der Welt ist. Und dann fragt sie, als Erwin sagt, dass er Peter einen Brief geschrieben habe, wer denn "Peter" sei. Ich wollte damit die ganze Reichweite des Vergessens zeigen. Sie vergisst "ihren Peter", um den sie so gekämpft hat. Eigentlich müsste solch eine emotional gewichtige Erfahrung unauslöschlich sein, aber das ist sie leider nicht.

Liebe Grüße
Lind

 

Hallo Lind,

da deine Geschichte in den Top16 auftaucht und noch keinen Kommentar von mir bekommen hat, möchte ich das jetzt nachholen.
Es ist eine leise Geschichte, die dennoch eine ziemliche Wucht in sich trägt. Ich habe den Braten ziemlich früh gerochen und war deshalb nicht so schockiert. Vielleicht eine Spur zu idyllisch, das Abwenden des Mannes, als sie sich ihm zuwendet, zu heftig, alsdass da nicht eine böse Überraschung kommen muss. Ein gelungener Hinweis, wie soll er ihr auch in die Augen schauen, bei dem, was er vorhat?
Mit dem Einstieg machst du auch einen netten Kunstgriff, da du einen Dialog vortäuschst, der ja gar nicht stattgefunden hat. Zumindest nicht weiter als der eine Austausch, der da eben steht.
Insgesamt ein krasses Thema, zu dem man sich auf vielen Ebenen auslassen kann. Deine gewählte gefällt mir. Lädt zum Nachdenken oder Wegschieben ein.

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo weltenläufer,
vielen Dank für deinen Kommentar. Ich finde dafür kann es nicht zu spät sein. Dank dir und es freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat.
Ich bin auch gerade dabei nochmal alle Geschichten zu lesen.
Überhaupt gibt es hier im Forum immer so viele gute Geschichten zu lesen.
JackOve,
dein Kommentar ist mir irgendwie untergegangen. Vielen Dank für die lieben Worte und matürlich freue ich mich, dass dir diese Geschichte nahe ging.

Grüße
Lind

 

Hallo Lind,

ich muss zugeben, dass ich wegen den 'Herzchen' am oberen Rand auf deine Geschichte aufmerksam geworden bin. Nachdem ich mir die Geschichte durchgelesen hatte, stellte sich mir die Frage, ob ich diese Empfehlung nachvollziehen kann.
Die Antwort lautet 'ja'. Der Zauber in deiner Geschichte lag in der schlichten aber ausdrucksstarken Sprache und der klugen Wahl von Metaphern. Die Geschichte ist bittersüß, aber es ist nicht so, dass du dem Leser die geschilderten Emotionen aufdrängst oder versuchst, eine Träne rauszupressen. Die Geschichte ist ziemlich realistisch und deswegen natürlich. Sie hat keine überzogene Dramatik nötig.
Um einige versteckte Anspielungen herausscannen zu können, musste ich die Geschichte beim zweiten Mal überfliegen und das möchte ich loben, denn bei einer so kurzen Erzählung ist es nicht einfach, so viel Substanz reinzupacken.

LG- Nova

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Nova,
Danke für deinen Kommentar. Tut immer gut, etwas Positives über seine Geschichten zu hören (bzw. lesen). Leider hats bei meiner Geschichte für kein einziges Stimmchen gereicht. Aber das macht nix.

Hallo Eva Luise Groh,
Freut mich, dass ich mit der Geschichte dein Herz berühren könnte.

Liebe Grüße
Lind

 

Hallo Lind,

das mit den fehlenden Stimmen liegt (in meinem Fall) auch daran, dass man erst die bisherige Stimmverteilung sah, nachdem man sein eigenes Votum abgegeben hatte. Für mich waren sechs Geschichten (darunter deine) fantastisch und gleichauf.

Viele Grüße,

Eva

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom