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Spiegelbild

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23.05.2016
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Spiegelbild

Er beugte sich etwas über das Waschbecken und schaute sich in die graublauen Augen, musterte die gebräunte Haut, die gleichmäßigen, gebleichten Zahnreihen, das dichte dunkle Haar. Sein Spiegelbild hielt dem forschenden Blick stand. Zufrieden richtete er sich auf. Das Waschbecken spürte er dabei als kleinen Widerstand an seinem Bauchansatz. Noch während er sein kleines Mitbringsel aus dem Urlaub tätschelte, registrierte er einen schwachen Druck in der Magengegend. Im Sekundentakt schossen Puzzleteilchen durch seinen Kopf. Weber. Weber in kleinen Bruchstücken. Er schüttelte sich, ließ kaltes Wasser in seine gewölbten Handflächen laufen und tauchte sein Gesicht hinein. „Ach was“, murmelt er, „das war vor dem Urlaub. Ich war einfach etwas überarbeitet. Jetzt bin ich erholt und fit“. Er war bereit.
In der Küche nahm er seiner Frau die Espressotasse aus der Hand, ein Schluck und schon war er durch die Tür. Der Tag lag vor ihm wie eine unberührte Schneedecke, der er seine Spuren eindrücken würde. Er zog die Tür seines weißen Cabrios zu. „So muss es sein“, dachte er. „Ein leichter Zug, ein leises Plopp, und alles saß bombensicher an seinem Platz — unverrückbar“.
Während der 20 Kilometer Fahrt machte er wie immer Pläne. Post, E-Mails, Ein paar Kunden kontaktieren, Stand von Projekten prüfen, ein Treffen um 10.00 Uhr mit seinen Mitarbeitern, dafür sorgen, dass sie wieder in Schwung kamen. Sollte er sich mit Weber treffen? Heute schon?

Vielleicht war es besser, die Auseinandersetzung nicht sofort zu suchen, den Gegner erst einmal schmoren lassen. Er hatte Zeit. Munter pfiff er einen alten Schlager über Sonne und Meer vor sich hin.
Der Pförtner hatte ihm das Eingangstor schon geöffnet. „Morgen, Otto“, grüßte er und Otto grüßte wie immer zurück. Er lenkte seinen Wagen zu seinem Parkplatz und stutzte. Da stand ein dickes silberfarbenes Ich-Bin-Wer-Fahrgestell mit Münchner Kennzeichen. Wahrscheinlich ein Kunde.
Mit dem Vorsatz locker zu bleiben, stellte er sich auf einen freien Mitarbeiterparkplatz. Am Empfang nickte er der hübschen Frau Konrad zu. Sein Strahlen signalisierte: Ich bin wieder da. Sie grüßte mit ernstem Gesicht zurück, wühlte verzweifelt in Papieren, als fände sie darin ihr bezauberndes Lächeln, das sie sonst so professionell aufsetzte. Schulter zuckend eilte er weiter zum Aufzug. „Alles etwas aus dem Tritt“, dachte er nur. Sobald er die Fäden wieder in Händen hätte, rasteten die Dinge wieder ein, rollten wie bei einer gut geölten Maschine.
Durch die hohen Glasfenster erhellten Sonnenstrahlen den langen Flur, an dessen Ende sein Büro lag. Fast freudig erregt ging er schneller auf die große, schwere Holztür zu. Er straffte seinen Körper, bevor er sie schwungvoll öffnete. Seine Sekretärin kam ihm nicht entgegen, wie er es erwartet hatte, wie sie es immer tat. Seine Energie verlor sich im leeren Raum. Was war nur los? Irritiert schritt er auf sein eigenes Zimmer zu, das Chefzimmer, zögerte jedoch unvermittelt. Die Tür erschien ihm größer als sonst. Er öffnete sie langsam, schaute in sein Arbeitszimmer und versteinerte im Türrahmen. Er sah, aber er verstand nicht. Seine Sekretärin beugte sich gerade über seinen Schreibtisch, um die Dokumentenmappe an sich zu nehmen. Auch sie erstarrte, als sie ihn bemerkte. Neben ihr, auf seinem Stuhl, saß ein groß gewachsener Mann mit nach hinten gegelten blonden Haaren, bestimmt 15 Jahre jünger als er selbst. „Was geht hier vor? Wer sind Sie?“, brach es aus ihm heraus, lauter als er beabsichtigte, schriller. „Guten Tag“, sagte der andere ruhig. „Sie sind sicher Herr Händel. Wir haben Sie schon erwartet“. „Wer sind Sie?“, fragte er nochmals. Seine Stimme machte sich immer noch selbstständig. Der andere stand nun auf, wollte ihm entgegen kommen, blieb aber auf halbem Weg stehen. Händel spürte, wie sein Kopf glühte. Er musste bedrohlich wirken.
„Ich bin Franz Leitner“, sagte der andere und schaute ihm direkt in die Augen. „Ich arbeite seit einer Woche hier in Stuttgart. Davor war ich stellvertretender Leiter Finanzen und Controlling im Stammsitz in München. Der Vorstand hat mir die Leitung dieser Niederlassung übertragen.“ Leitner sprach schnell und klar. Sein Bemühen war offensichtlich. Er wollte die Situation unter Kontrolle bekommen. Händel starrte ihn immer noch an. Ratlosigkeit, Entsetzen und Wut mischten sich in seinem Körper zu einem gefährlichen Sprengstoff. Leitner griff eilig zum Telefonhörer. „Vielleicht wollen Sie mit Wim Keller sprechen. Er hat meine Versetzung veranlasst“. Wim Keller war einer der beiden CEOs in München. Händel dachte an ihre letzte, lautstarke Auseinandersetzung. So war das also.
Bevor er antworten konnte, fragte eine höfliche Stimme hinter ihm: „Kann ich helfen“. Weber! Er hatte sich wie immer auf leisen Sohlen angeschlichen.
„Sie also“, zischte Händel ihn an. Seine Wut hatte ihr Ziel gefunden.
„Moment mal, ich möchte nur helfen“, erwiderte Weber vorsichtig. Er spürte, wie viel Kraft es Händel kostete, nicht handgreiflich zu werden.
Helfen. Händel kannte ihn. Er hatte ihn schon Monate vor seinem Urlaub den Dolch zücken sehen. Eine kleine Intrige hier, eine diffamierende Bemerkung da. Nie offen, nie direkt, nie in einer Besprechung. Kein kritisches Wort in seiner Gegenwart.
„Sagen Sie mir einfach, was hier los ist.“, fuhr er Weber an.
„Nun, Herr Leitner hat, wie er ihnen bereits erklärt hat, die Geschäftsleitung übernommen. Entscheidung des Vorstands. Über Ihren neuen Aufgabenbereich wird noch diskutiert. Es ging ja alles so schnell. Die Herren in München sind sich da wohl noch nicht einig. In der Zwischenzeit haben wir Ihnen ein kleines Ersatzbüro im obersten Stock eingerichtet. Verstehen Sie das bitte nicht falsch. Es ist nur eine Übergangslösung. Bis die ganze Angelegenheit geklärt ist. Einfach bis wir wissen, wie es weitergeht. „
Wir? Händel starrte ihn an. Unfähig zur reagieren. Er spürte Webers Sachlichkeit wie eine feine Nadel, die sich genüsslich in seine Wutblase bohrte. Das explosive Gemisch in seinem Kopf entwich. Er kam nicht dagegen an. Man hatte ihn entthront. Eine Figur zuviel, die man vom Spielfeld schieben wollte. Also folgte er Weber mechanisch hinaus.
Am nächsten Morgen saß er bereits um sieben Uhr morgens in seinem neuen Büro, früher der Kopierraum. Sieben Quadratmeter. Ein Regal mit alten Akten, ein einfacher Schreibtisch und ein abgeschabter Schreibtischstuhl. Gestern hatte er mit Wim Keller telefoniert, war aber nur gegen eine Wand von Fakten gerannt, die in seiner Abwesenheit errichtet worden war. Er kämpfte zum ersten Mal in seinem Leben mit einem Plastikschwert gegen Drachen.
Bis zum offiziellen Feierabend saß er die Zeit ab. Keine E-Mails, keine Telefonate. In diesem Raum befand er sich am anderen Ende der Welt. Sein Blick wanderte immer wieder über den Schreibtisch, den alten ausrangierten Computer, den Behälter mit Stiften, den Bleistiftspitzer. Wann hatte er das letzte Mal einen Bleistiftspitzer gesehen oder benutzt? Er konnte sich nicht erinnern.
Als er am Abend endlich nach Hause kam, stürmte er sofort ins Bad und übergab sich. Er beugte sich über das Waschbecken, um den Mund auszuspülen. Eingehend betrachtete er seine fahle Haut, die geröteten Augen, die Falten um den Mund. Beschämt wandte er den Blick ab.

 

Hola Thoni,

für mich die perfekte Kurzgeschichte – in jeder Hinsicht.
Die hat das Zeug für eine Empfehlung!

Gratulation!
José

 

Sehr tolle Geschichte!
die gleichmäßigen, gebleichten Zahnreihen, das dichte dunkle Haar.
Das kommt noch zweimal so ähnlich vor im Text, so viele Adjektive. Ein bisschen weniger "Tell" bitte, für meinen Geschmack ist dreimal zu oft.
Ich hätte mich auch noch gefreut, wenn du ein bisschen mehr über die Vorgeschichte zwischen den zwei geschrieben hättest, wenngleich du das eh schon sehr gut gemacht hast.

 

Hej Thoni,

der Anfang und das Ende deckungsgleich und dazwischen ein logischer Verlauf, eine Konsequenz, voila, eine runde Kurzgeschichte. Sprachlich gut lesbar, einfach und prägnant.

Inhaltlich ist sie äußerst männlich und naja, nicht neu. Verfilmt, dokumentiert. Man möchte nicht glauben, dass es Bereiche gibt, in denen solche Handlungen und Menschen existieren.

Danke für diese Lehrgeschichte und freundlicher Gruß, Kanji :)

 

Danke für die Mut machenden Kommentare. Das spornt an. Auf die Adjektive werde ich künftig achten. Gut möglich, dass ich damit übertreibe.
Herzlichen Gruß
Thoni

 

Hallo!

Eine flüssige Geschichte, die sich gut liest. Meiner Meinung nach auch nicht zu viele Adjektive, genau richtig.
Was mich noch interessieren würde, ist warum er Probleme mit Herrn Weber hat, warum er abgeschoben wurde und warum es entschieden wurde, als er nicht da war.

Zwei stilistische Sachen, die mir aufgefallen sind vom Textanfang:
„Ach was“, murmelt er, „das war vor dem Urlaub. Ich war einfach etwas überarbeitet. Jetzt bin ich erholt und fit“. Er war bereit. => einzige Stelle im Präsens statt Präteritum
Post, E-Mails, Ein paar Kunden kontaktieren, Stand von Projekten prüfen, ein Treffen um 10.00 Uhr mit seinen Mitarbeitern, dafür sorgen, dass sie wieder in Schwung kamen. => ein Tippfehler, vermute ich

Ansonsten ein gute Arbeit.

Gruß, AnBu

 

Hallo Thoni,

mir sind erste Sätze sehr wichtig. Deswegen stürz ich mich mal nur auf den:

Er beugte sich etwas über das Waschbecken und schaute sich in die graublauen Augen, musterte die gebräunte Haut, die gleichmäßigen, gebleichten Zahnreihen, das dichte dunkle Haar.
Kann man sich "etwas beugen"? Bzw. wie wichtig ist der Beugegrad für die Aussage und den Einstieg in die Geschichte? Zumal dein Protagonist im folgenden das Waschbecken trotz Bauchansatz durchaus spürt, wenn er sich "etwas" beugt, sollte er es eher nicht oder nur unmerklich berühren. Und dann die Attribute: welche Rolle spielen Augen- und Haarfarbe für den weiteren Verlauf der Geschichte? Bei den gebleichten Zahnreihen bin ich selbst unsicher, denn es zeigt ja eine gewisse Eitelkeit, könnte also von Bedeutung sein, ähnlich wie die gebräunte Haut vom gerade durchlebten Urlaub und das dichte Haar von entweder Jugend oder doch zumindest Vitalität zeugt. Hier stört mich vielleicht nur, dass "gebleicht" bei mir nicht positiv besetzt ist.

Ansonsten finde ich die Geschichte auch sehr gelungen. Die Dialoge sind stimmig und die Symmetrie (Waschbecken-Szene zu Anfang und am Schluss) gefällt mir auch sehr gut.

Rein formal: achte mal darauf, den Punkt in der wörtlichen vor das endende Anführungszeichen zu setzen. Nicht

„Sie sind sicher Herr Händel. Wir haben Sie schon erwartet“.
Sondern
"Sie sind sicher Herr Händel. Wir haben Sie schon erwartet."
Ist nicht immer falsch, aber öfter als einmal.

Viele Grüße
Ella Fitz

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey Thoni,

deine Geschichte erinnert mich ein wenig an "Unter Streß" von Martin Suter, wobei dein Text deutlich ernster und düsterer daherkommt.

Wie es andere hier bereits angedeutet haben, erfährt man recht wenig über deinen Protagonisten, besonders was die emotionale Komponente anbelangt. In einer Kurzgeschichte ist das natürlich durchaus verzeihlich und oft sogar dienlich, um gewisse Stilmittel o.Ä. zu verdeutlichen. Ich persönlich hätte jedoch gerne mehr über Händels Beziehung zu seiner Arbeit oder zu seinen Kollegen erfahren..

Stilistisch finde ich deinen Text super; Verständlich geschrieben und eine gute Lyrik, wie ich finde. Die kurzen Sätze passen zu der hektischen, zerbrechlichen Psyche deines Prot. und tragen auch zum Spannungsaufbau bei. Insgesamt eine sehr runde, kurzweilige Geschichte!
LG Markus

 

Hej Thoni,

ich schließe mich allen Vorrednern an, die angemerkt haben, dass man (zu) wenig über den Protagonisten erfährt. Der wirkt auf mich als Figur so austauschbar, dass sich bei mir während der gesamten Geschichte und auch am Ende kein Gefühl oder Gedanke für seine Situation einstellen will.

( Orange

In einer Kurzgeschichte ist das natürlich durchaus verzeihlich und oft sogar dienlich, um gewisse Stilmittel o.Ä. zu verdeutlichen.
In einer Kurzgeschichte ist das keineswegs verzeihlich und keiner Geschichte jemals dienlich.
Niemand liest gern Geschichten, die keine oder kaum emotionalen Bezug zu irgendwas bieten.
In Kurzgeschichten hat man nur weniger Zeit dafür als in längeren Texten. Das bedeutet aber nicht, dass man die einfach wegrationalisieren kann und das dann trotzdem funktioniert. )

Wenn es Dir die Geschichte wert ist, würde ich Dir empfehlen, Dich stärker in diese Figur einzuarbeiten und die plastischer zu machen.

Viel Spaß noch hier

Gruß
Ane

 
Zuletzt bearbeitet:

Ane

In einer Kurzgeschichte ist das keineswegs verzeihlich und keiner Geschichte jemals dienlich.
Niemand liest gern Geschichten, die keine oder kaum emotionalen Bezug zu irgendwas bieten.
In Kurzgeschichten hat man nur weniger Zeit dafür als in längeren Texten. Das bedeutet aber nicht, dass man die einfach wegrationalisieren kann und das dann trotzdem funktioniert.

Hm, aber es hat doch nicht unbedingt jede Geschichte/jeder Text den Anspruch, den Leser auf einer emotionalen Ebene abzuholen, oder? Manche Texte wollen vielleicht in erster Linie einfach unterhalten, durch einen besonderen Schreibstil, einen ungewöhnlichen Storyaufbau, o.Ä.

In Kurzgeschichten geht es ja auch häufig darum, durch einen roten Faden oder besondere Stilmittel, auf eine Pointe hinzuarbeiten, die den Leser zum Nachdenken anregt.

Ich denke zwar schon, dass Menschen alles, was sie erleben oder konsumieren - insbesondere Kunst - primär emotional wahrnehmen und sich dementsprechend ihre Meinung bilden.
Allerdings kann ja emotionaler Bezug durch alle möglichen Sachen entstehen, z.B. wenn eine Geschichte - durch das was und wie sie es erzählt - genau meinen Geschmack trifft oder sich exakt mit meinen eigenen, persönlichen Eindrücken deckt.

LG, Markus

 

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