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Bruderliebe

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24.01.2013
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Bruderliebe

Als die Polizei wieder weg war, zitterte ich noch immer am ganzen Körper.
Dies hatte nichts mit ihnen oder den Konsequenzen zu tun, die ich garantiert tragen musste, sondern ausschließlich damit, dass sie mir meine Waffe weggenommen hatten und ich mir so schnell wohl keine neue besorgen könnte. Es stimmte zwar, dass ich meinen Bruder mit einer Pistole bedroht habe, weswegen er die Polizei rief, aber wenn irgendjemand die genaueren Gründe dafür kennen würde, die ich leider nur viel zu plump den herbeigeeilten Polizisten mitteilen konnte, so würde mir niemand auch nur den geringsten Vorwurf deswegen machen - ganz im Gegenteil.
Dass sich gravierende Änderungen in dem Benehmen, dem Aussehen und natürlich auch dem Gang meines Bruders ergeben hatten, war mir Wochen lang nicht einmal aufgefallen. Zugegeben, wir redeten stets wenig miteinander, seit er in die Wohnung unserer Eltern zurückgezogen war, in der ich alleine lebte und auch hoffte, weiterhin allein leben zu können.
Unsere Eltern waren vor mehreren Jahren nach Spanien gezogen. Als mein Bruder ihnen schrieb, dass sein Geld zu neige ging und er sich kaum noch seine Miete leisten konnte, kamen sie auf eine Idee, die ihre beiden einzigen Kinder wieder näher zusammenbrachte. Mein Bruder, immerhin vier Jahre älter als ich - zeigte von Anfang an, wer nun wieder das Sagen hatte. Nach mehreren teils heftigen Streitereien, sprachen wir nur noch das Nötigste miteinander. Meist ging es dabei ums Aufräumen. Auch wenn ich nicht der sauberste Mensch bin, so spielt mein Bruder in einer ganz anderen Liga.
Schmutz scheint er nicht einmal zu bemerken, der widerlichste Gestank ist für ihn noch erträglich und mehrere Horden Fliegen, die ihn beim Essen machen umkreisen und in sein Essen scheißen, stören ihn nicht weiter. Sobald das Klo durch mich besetzt war, hielt er es nie lange aus und seiner Notdurft entledigte er sich in seinem Zimmer in eine Tüte. Der ekelerregendste Gestank kam aus seinem Zimmer, zusammengestellt aus Essensabfällen, Schimmel und Fäkalien, weswegen ich mich zumindest in einem Punkt lautstark durchgesetzt hatte: Die Tür seines Zimmers musste stets verschlossen sein.
Die ersten Wochen nach seinem Einzug hatte mein Bruder noch gelegentlich gearbeitet und früh morgens das Haus verlassen. Irgendwann erwähnte er, seine Arbeit verloren zu haben, worauhfin er die meiste Zeit in seinem Zimmer verbrachte.
Ich studierte bereits im neunten Semester Wirtschaft. Die ersten drei Jahre waren meine Noten mehr als zufriedenstellend gewesen, danach hatte ich aber immer mehr Mühe gehabt, dieses Niveau zu halten. Einmal zeigte sich dies tragischerweise in einer Klausur, die ich voll und ganz in den Sand setzte, woraufhin ich das gesamte Jahr noch einmal wiederholen musste. Der Spott meiner Kollegen hielt sich in Grenzen, denn auch sie hatten genau die gleichen Probleme und Ängste wie ich. Bis heute konnte ich mir diesen Fehltritt nicht verzeihen und ich wusste, dass er mir niemals wieder passieren durfte. Manchmal zitterte ich sogar, wenn ich die Universität betrat, da dasselbe Gefühl in mir aufkam, dass ich an dem Tag hatte, als ich die Klausur vermasselt hatte. Mit Rückschlägen musste man aber zurechtkommen, auch wenn sie noch so schwer wiegen. Ich musste diese Niederlage endlich besser verarbeiten, wie ich wusste. Gelegentlich spielte sie mir aber noch sehr böse mit. Das zeigte sich auch gerade jetzt, als ich schon seit Wochen an einer sehr wichtigen Hausarbeit saß, mit der ich einfach nicht fertig wurde. Es fühlte sich dann oft so an, als hätte ich eine Blockade im Kopf. Wenn es mir doch gelang, mich wieder genügend zu konzentrieren, polterte mein Bruder in der Wohnung herum oder er öffnete und schloss seine Tür mehrmals lautstark hintereinander, ohne dass der Grund dafür erkennbar wäre. Selbst in der Nacht wurde ich schon unzählige Male wach, da er im Flur herumtrampelte und daraufhin seine Tür wieder zuknallen ließ. Ihn darauf anzusprechen, brachte so gut wie nie Erfolg, da er nie wirklich zuhörte oder das Gesagte bereits wenig später vergaß.
Hin und wieder beschwerte sich mein Bruder über kleine Krabbeltiere, unterschiedlichster Form, in seinem Zimmer. Diese waren sehr schnell, ließen sich nur schwer zertreten und wurden immer größer.
Bei einem flüchtigen Blick mit vorgehaltener Hand vorm Mund erkannte ich große widerwärtige Käfer, wie ich sie bei einem Besuch bei meinen Eltern in Spanien schon einmal gesehen hatte. Der Größte von ihnen krabbelte andauernd an eine schimmlige Stelle an der Wand und auf eine andere am Boden und suhlte sich ein wenig darin. Dann verschwand er in einer Spalte, die vor Schimmel nur so stank und strotzte.
Mein Bruder meinte von diesem auch bereits öfters angegriffen worden zu sein und eines Nachts hatte er sogar versucht, in seinen Mund zu krabbeln.
Angewidert war ich in mein Zimmer gerannt, welches seinem schräg gegenüberliegt. Gleich am nächsten Tag brachte ich ihm mehrere Insektensprays die einige von den Biestern töteten, wie er mir sagte.
Die nächsten Tage sprachen wir wenig miteinander und wenn doch, dann ging es ausschließlich ums Aufräumen.
Das einzig Ungewöhnliche, das mir an meinem Bruder in dieser Zeit auffiel, war, dass er viel mehr Essen als zuvor zu sich nahm und er viel fülliger wurde. Zudem bekam er etwas Schwierigkeiten beim Sprechen und er schien einen Sprachfehler bekommen zu haben, der noch vor Kurzem nicht da gewesen war. Seine Augen zuckten manchmal etwas merkwürdig und drehten sich dann nach oben, weswegen ich ihn einmal fragte, ob er wieder mit dem Kiffen angefangen hätte, was er aber vehement verneinte.
So gingen wir uns auch weiterhin wie gewohnt aus dem Weg. Aus seinem Zimmer, das er manchmal nicht mehr hinter sich schloss, hatte der Gestank fast noch ein wenig zugenommen. Wenn ich ihn darauf ansprach, sagte er mir nur, dass er auch nicht genau wisse, was denn so stinken würde. Er versprach aber, seine Tür wieder stets zu schließen.
Manchmal hielt er sich Tage lang daran, an anderen Tagen vergaß er es wieder und ich eilte fluchend in mein Zimmer, um den Gestank auf dem Flur zu entgehen.
Als ich ein paar Tage später an seine Tür klopfte, um mich zu erkundigen, warum er die Küche nicht aufräumte und sie bereits nach einer verschimmelten Kloake stank, streckte er zu meiner Überraschung den Kopf heraus und meinte, dass er dies bald erledigen würde. Er bat mich, ihn in acht Stunden noch einmal daran zu erinnern. Natürlich erwiderte ich, dass er es gleich hinter sich bringen solle, da ich wusste, dass er sich bis dahin eine wohl genauso dämliche Ausrede einfallen lassen würde.
„Dann eben gar nicht“, sprach mein Bruder gelangweilt und wenig später hörte ich bereits wieder seine Maus und Tastatur klacken, wie jeden Tag. Mein Vorhaben noch einmal genervt gegen seine Tür zu schlagen ließ ich bleiben, da ich wenig später zu den mir bekannten Geräuschen ein merkwürdiges, lautes Schaben hörte. Ich hatte keine Ahnung, was mein Bruder in seinem Zimmer trieb und wenn ich ehrlich bin, wollte ich es auch gar nicht wissen.
Die Küche stank eine weitere Woche vor sich hin und schließlich war ich es, der den Müll raus brachte und für Ordnung sorgte. Als ich meinen Bruder darauf ansprach, grinste er merkwürdig und versprach Besserung.
Mir fiel auf, dass er die Wohnung nur noch höchstens fürs Einkaufen verließ.
Soziale Kontakte hatte er meines Erachtens komplett eingestellt.
Bei seinen Einkäufen, die stets sehr lange dauerten, obwohl der Supermarkt nur eine Straße weiter war, trug er immer längere, merkwürdig aussehende Gewänder, von denen ich glaubte, dass er sie aus seinen Bettlaken herausgeschnitten hatte. Darauf angesprochen, warum er keine normale Kleidung mehr trug, gab er nur selten eine Antwort und es dauerte nicht lange, da sah ich ihn ausschließlich in seiner eigenwilligen Kluft auf dem Flur mit kleinen, humpeligen Trippelschritten entlang schreiten.
Seine wenigen Einkaufstouren wurden noch seltener, aber sein Hunger blieb derselbe, weswegen ich manchmal die Einkäufe für ihn erledigen musste. Natürlich tat ich dies nur, damit er nicht den ganzen Tag an meine Tür klopfte. Das Geld, das er mir gab, reichte oftmals nur gerade so für seine Einkäufe, manchmal war es auch zu wenig und die letzten zehn Tage des Monats musste ich kräftig etwas beisteuern.

Mein erster Argwohn wuchs erst, als ich eines Nachts auf die Toilette ging und ich meinen Bruder auf dem Flur flüchtig sah, wie er schnell in sein Zimmer zurückrannte und die Tür hinter sich zuknallen ließ.
Zum ersten Mal seit Langem hatte er nicht seine Gewänder getragen, sondern eine sehr weite Jogginghose und das wenige, was ich zu Gesicht bekam, hatte mich fragend zurückgelassen. Es hatte so ausgehen, als wäre nicht ein Beinpaar, sondern mehrere in seinen Hosenbeinen versteckt, welche in alle Richtungen ausschlugen. Zudem wunderte ich mich, dass er auf einmal viel schneller ging als zuvor und die Art und Weise, wie er dies tat, kam mir sehr merkwürdig vor.
Sein Oberkörper wirkte sehr gerade und bewegte sich nicht und seine Beine schienen nicht zu gehen, sondern viel mehr zu gleiten. Zu gerne hätte ich gewusst, was sich unter seiner Jogginghose verbarg - so merkwürdig es auch klingt – um zu sehen, was mein Bruder so verzweifelt zu verbergen versuchte.
Ich fragte mich, warum er keinen Arzt aufsuchte, wenn seine Beine ihm so starke Probleme bereiteten. Ihn darauf anzusprechen, machte wohl wenig Sinn, wie ich wusste und ich hätte mich auch eher gewundert, überhaupt eine Antwort zu erhalten. Ernsthafte Sorgen um meine eigene Sicherheit machte ich mir zu dieser Zeit noch nicht. Mein Bruder war noch scheuer als sonst und wir sahen uns sehr selten. Ein jeder wartete wie gewöhnlich, dass der Flur frei war und eine gesamte Woche bekam ich ihn nicht ein einziges Mal zu Gesicht.
Besuch in unserer Wohnung hatten wir uns schon seit längerer Zeit gegenseitig verboten und außer dem Klicken an seinem Computer, bemerkte ich meinen Bruder kaum; die zunehmenden Schabgeräusche versuchte ich tunlichst zu ignorieren. Was auch immer er für ein merkwürdiges neues Hobby gefunden haben mochte, es ging mich nichts an. Nur sein Hunger nahm Tag für Tag zu und das Geld, das er mir für die Besorgungen in die Hand drückte, wurde immer weniger. Als ob das noch nicht reichen würde, forderte er nun spezielle Nahrung, die viel kostspieliger war und der Supermarkt in der Nähe nicht einmal im Sortiment hatte.
Bei meiner Weigerung schaute er mich wütend aus zwei Augen an, die mir plötzlich sehr fremd waren, und fing an zu zischen.
„Dann räume ich hier nie wieder auf“, sagte er immer noch eher zischend als sprechend.
„Du räumst doch sowieso nie richtig auf“, entgegnete ich halb lächelnd, um die Situation zu entspannen, aber mein Bruder schaute mich bereits wütend an und diesen Blick kannte ich nun wieder ganz genau.
„Dann mache ich hier alles kaputt und schmeiße alles um!“
Mit zügigen Trippelschritten lief er geradewegs an mir vorbei und schmiss meinen Wäschekorb um. Dann schaute er nach links und rechts und überlegte, was er als Nächstes zerstören oder einfach nur umwerfen konnte.
Unwillkürlich fing an zu zittern. Ich wusste genau, dass man in diesem Stadium nicht mehr normal mit ihm reden konnte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Angriff oder Nachgeben. Und meine weichen Knie machten mir nun diese Entscheidung leicht.
Wir einigten uns auf einen Kompromiss und ich ging mit zwei Einkaufstüten aus dem Haus und hielt dabei das wenige Geld in Händen, das er mir erstaunlicherweise noch mitgegeben hatte. Als ich zurückkam und die Einkäufe vor seine Tür stellte, kam er sogleich heraus, wühlte in beiden herum und war nicht sonderlich zufrieden.
„Hast du nicht alles gefunden oder nicht richtig gesucht?“, zischte er mich an.
Ich starrte auf die Tüten und dachte an das Geld, das ich dazugeben musste und mein Bruder schien meine Gedanken lesen zu können, als er nur meinte, dass ich das nächste Mal alles besorgen sollte, was auf seiner Liste stand. Ich erinnerte ihn noch einmal an meine Hausarbeit, die ich Fertigzustellen hatte und die mir fast den Verstand raubte, aber er war bereits im Begriff seine Tür hinter sich zu schließen und hörte nicht mehr zu.
Am späten Abend versuchte ich mit meiner Hausaufgabe weiterzukommen, aber da mein Bruder noch eine späte und ausgiebige Dusche nahm und das Badezimmer direkt an mein Zimmer grenzte, gab ich mein Vorhaben sehr schnell wieder auf. Das herabprasselnde Wasser trommelte wie Kanonenschüsse in meinen Ohren und die Schmerzen in meinem Kopf drückten viel zu sehr gegen meine Schläfen.
Am nächsten Morgen sprach ich ihn darauf an, aber er war nicht sehr einsichtig:
„Muss duschen, ich stinke“, sagte der Mann, dessen Zimmer schlimmer roch, als ein Dixi-Klo.
Als ich ihn fragte, warum er offensichtlich auch meine Zahnpasta benutzt hatte, da diese nicht an ihrem Platz war, schaute er mich nur fragend an.
„Nimm doch deine Eigene, ich habe dir doch zwei Verschiedene mitgebracht“, sagte ich.
„Nicht genug Kariesschutz“, erwiderte mein Bruder.
„Dann nimm doch die andere.“
„Kein Zahnweiß.“
„Benutze eben beide.“
„Hatte keine Zeit, deswegen nahm ich deine, die ist besser und hat beides.“
Später, als ich meine Zahnpasta öffnete, um mir die Zähne zu putzen, bemerkte ich ekligen und stinkenden Schleim an den Seiten und sogar aus der Tube tropfte der Schleim auf meine Zahnbürste, die ich angewidert von mir warf und niemals wieder benutzte. Die Tube Zahnpasta legte ich in das Fach meines Bruders und wusch mir danach minutenlang die Hände.
Als die Nacht den Abend bereits abgelöst hatte und ich drei Seiten in fünf Stunden geschrieben hatte, von denen ich aber mindestens anderthalb wieder streichen musste, traf ich auf dem Flur auf meinen Bruder, der mich sehr merkwürdig ansah. Für ungefähr drei Sekunden, die mir allerdings viel länger vorkamen, schaute er fast durch mich durch, bis ich ihn fragte, was los sei, woraufhin er schweigend in die Küche huschte und sofort mit einem riesigen Teller mit kaltem Fleisch wiederkam, welches sehr merkwürdig aussah und zum Teil roh und fast schon schimmlig wirkte. Es war in kleine Häppchen geschnitten und der Teller schwamm im Blut.
Ich schaute meinem Bruder bis zu seiner Tür hinterher. Als er dies bemerkte, zeigte er wieder seinen seltsamen Blick und blieb stehen.
„Hast du die Küche heute ein bisschen aufgeräumt?“, fragte ich, um das mir schon fast unheimliche Schweigen zu brechen. Bevor er aber antwortete, nahm er einen Happen Fleisch zu sich, wobei er es aber nicht in die Hand nahm, sondern seinen Kopf nur etwas näher an den Teller heranschob und mit einer sehr schnellen Schnappbewegung mit seiner Zunge das Fleisch zu sich nahm. Ein Geräusch ertönte dabei, und als er diesen Vorgang noch einmal wiederholte, hörte ich es noch einmal:
Flopp.
„Nee.“
Und warum nicht?“
flopp, flopp
„Kein Bock.“
„Machst du es dann morgen?“
„Mal sehen“, flopp, flopp, flopp. „Glaube nicht.“
„Hast du...“
flopp
„Machst du wenigstens...“
flopp, flopp
„... ein bisschen Ordnung?“
flopp, flopp, flopp
„Ja, vielleicht“ flopp „Mal sehen.“
Ein Stückchen Fleisch war bei seinem eigenwilligen Essverhalten auf den Flurteppich gefallen, weswegen er sich sofort hinab beugte und ich es wieder hörte: flopp.
So nah hatte er sich gar nicht heruntergebeugt und ich war über die Länge seiner Zunge überrascht. Irgendwie sah sie auch ganz anders aus, nicht nur länger, sondern auch breiter und sogar etwas behaart, wie ich schaudernd feststellen musste.
„Schmeckt dir dein Essen?“, fragte ich, ohne wirklich zu wissen, warum. Meine Knie zitterten bereits wieder, aber aus einem anderen Grund als letztes Mal.
„Ja“. Flopp. „Geht.“ Flopp, flopp. „Bisschen wenig, brauche mehr.“ Flopp, flopp, flopp.
Sein Blick war geradewegs auf mich gerichtet. Er starrte mich von oben bis unten an und blieb auf den Hautpartien hängen, die nicht von Kleidung bedeckt waren, wie meine Arme und mein Hals. Dann schaute er mich mit wirrem und mir zutiefst suspektem Blick an und seine Augen fingen mehrfach an zu zucken.
Es dauerte nicht lange, bis ich mich schnell umgedreht hatte und ihm gute Nacht zurief. Als ich noch einmal mit weit aufgerissenen Augen zurücksah, erkannte ich zwei mich beobachtende Augen, die emotionslos und rot funkelten.

Nicht eine Sekunde konnte ich in dieser Nacht schlafen, was auch damit zu tun hatte, dass ich die merkwürdigen Schabgeräusche meines Bruders nicht nur in seinem Zimmer, sondern jetzt auch im Flur hören konnte. Einmal hatte ich den Verdacht, dass die Klinke meines Zimmers langsam heruntergedrückt worden war, was mich in helle Aufruhr versetzte und ich froh war, meine Tür von innen abgeschlossen zu haben.
Am Tag darauf sprachen in der Universität andere Studenten über die Hausarbeit. Ich war schockiert, als ich hörte, dass einige damit schon fertig waren. Ich hatte gerade einmal fünf Seiten geschafft und meine Verzweiflung darüber wuchs von Sekunde zu Sekunde. Wenn ich wieder zuhause wäre, so erwarteten mich ganz andere Schrecken. Mehrere Leute drehten sich verdutzt zu mir um, als ich hysterisch anfing zu lachen.
Die letzten beiden Stunden verschlief ich komplett im Hörsaal, und als ich erwachte, machte der Dozent gerade mehrere spitze Witze über mich.

Nur zögerlich betrat ich die Wohnung und versicherte mich, dass der Flur frei war. Gerade als ich mein Zimmer betreten wollte, kam mein Bruder aus dem seinem und sah mich wieder mit seinem seltsamen Blick an, den er anscheinend nur noch auf dem Gesicht trug. Zwar hatte ich vorgehabt, ihn zu ignorieren, jedoch war der beißende Gestank, der aus seinem Zimmer kam, zu stark, als dass er mich kalt lassen könnte. Noch aus dem Augenwinkel konnte ich in dem Zimmer meines Bruders, welches er durch seine Gestalt nicht genügend abdeckte, etwas erkennen, das mich erstarren ließ. Als er schnell die Tür hinter sich schloss, versuchte ich den Gedanken auf der Stelle aus meinem Kopf zu verbannen. Keine leichte Aufgabe, als ich zusätzlich noch bemerkte, dass die Lippen und Mundwinkel meines Bruders blutig schimmerten und auch sein Gewand voller Blutspritzer war.
„Na“, sagte er oder viel mehr grollte er mir entgegen. Seine Augen waren starr auf mich gerichtet und sie blinzelten nie. Dann, als ich schon dachte, er müsse sich übergeben, ließ er einen gewaltigen Rülpser von sich und ich staunte nicht schlecht, als ein Stück Fleisch aus seinem Mund auf dem Teppich landete. Hätte ich es nicht besser gewusst, so hätte ich gedacht, dass die eine Seite sogar noch ein wenig behaart gewesen war. Das Fleischstück selbst wirkte vollkommen roh.
„Ups“, hörte ich meinen Bruder kurz sagen. Nachdem ich ohne zu zögern in mein Zimmer gerannt war und die Tür hinter mir abgeschlossen hatte, konnte ich es erneut deutlich hören: Flopp.

So konnte es auf keinen Fall weiter gehen. Ich rief meine Eltern an und sagte ihnen, dass mit ihrem Ältesten nicht alles in Ordnung sei und dass ich mir große Sorgen um ihn machte. Ich erzählte ihnen alles, was mir auf dem Herzen lag, von seinem auffälligen Benehmen, seiner nicht nachvollziehbaren Kleidung, seiner Isolation in seinem Zimmer, den Einkäufen, die ich für ihn erledigen musste und dem Geld, das ich dafür hinzuzugeben hatte. Meine Eltern versuchten mich abwechselnd zu beruhigen und kamen dann beide auf das mich zutiefst schockierende Ergebnis, dass sie sich um mich weitaus mehr Sorgen machten. Dann fragten sie mich ganz genau nach meiner Hausarbeit, die, wie sie wussten, mich schon seit Wochen belastete und empfahlen mir eindringlich, mir Hilfe zu suchen. Dennoch wollte ich mir den wahren Grund für meinen Anruf nicht kleinreden lassen. Es ging um meinen Bruder und nicht um mich und es war viel zu augenscheinlich, dass etwas oder viel mehr eine Menge mit ihm nicht stimmte.
„Du hast auch immer etwas anderes, das dich vom Arbeiten abhält“, hörte ich meinen Vater sagen. „Schaff doch jetzt endlich deinen Abschluss. Ich habe das doch auch hinbekommen und so schwer war es eigentlich nicht.“
Ich hatte überhaupt keine Lust auf die alte Leier und dass ich schon wieder nicht ernst genommen wurde. Ich unterbrach meinen Vater, der mir wohl noch stundenlang Vorwürfe durchs Telefon machen könnte und erzählte ihm von dem gruseligen Verhalten meines Bruders.
„Wir haben doch vor Kurzem erst mit ihm gesprochen.“ Entgegnete mein Vater.
„Und wann soll das gewesen sein?“, fragte ich genervt.
„Vor zwei oder drei Tagen. Da hat er hier angerufen und nach Geld gefragt. Keine Sorge, wir haben ihm zwei Überweisungsscheine geschickt."
„Vor zwei oder drei Tagen?“, wiederholte ich fassungslos noch einmal die Worte meines Vaters.
"Ja. Er wird dir dann wohl nicht mehr auf der Tasche liegen. Mach dir also keine Sorgen.“
„Und wie hat er sich angehört?“, fragte ich ungeduldig. Das Blut schoss mir schmerzhaft in den Kopf.
„Eigentlich ganz normal. Also, wie immer. Viel war von ihm zwar nicht zu erfahren, aber das kennen wir ja bereits.“
Mein Vater ignorierte mein hysterisches Lachen, das eher schmerzenden, lauten Zuckungen glich, und empfahl mir erneut, Hilfe zu suchen. Wofür genau wusste ich noch immer nicht und so dümpelte unser Gespräch vor sich hin, bis ich schließlich den Hörer genervt auflegte.

Ich verließ mein Zimmer so wenig wie möglich und hielt die Tür stets verschlossen. Irgendwie gelang es mir, eine Seite meiner Hausarbeit zu schreiben. Dann schrieb ich voller Elan noch eine weitere und war mit meinen Ausführungen sehr zufrieden. In diesem Tempo könnte es ruhig weitergehen.

Hol dir Hilfe - flopp- mach deinen Abschluss - flopp, flopp - ich habe es ja auch geschafft - flopp, flopp, flopp.

Das prasselnd nieder tropfende Wasser der Dusche weckte mich schmerzhaft aus einem Traum. Mit einem Blick auf die Uhr sah ich, dass es kurz nach drei war. Woher ich die Kraft nahm, wusste ich nicht, als ich mit einer einzigen Bewegung aufstand, mich anzog und auf dem Weg noch eine Schere von meinem Schreibtisch mitnahm.
Mit nur drei kleinen Schritten stand ich auch schon vor dem Badezimmer. Ich rief meinem Bruder zu, dass er auf der Stelle aufhören solle, zu duschen und wenn nicht, ich den Haupthahn in der Küche abdrehen würde. Abrupt wurde der Wasserhahn zugedreht und es herrschte für ein paar Sekunden Stille.
„Was?“, rief mein Bruder zurück, woraufhin ich noch einmal meine Aufforderung wiederholte.
„Muss duschen, ich stinke“, ließ die Antwort nicht lange auf sich warten. Im nächsten Moment sprudelte das Wasser schon wieder aus der Leitung. Ich zögerte nicht eine Sekunde und drehte so schnell ich konnte den Haupthahn zu. Als ich wieder vor der Badezimmertür stand, war kein Wasser mehr zu hören, dafür fluchte und zischte mein Bruder aufgebracht vor sich hin. Obwohl er sehr wütend war, fühlte ich mich in diesem Moment etwas sicherer als sonst. Immerhin hatte er nicht seine bescheuerten Gewänder an, die allein mir schon einen Schauer über den Rücken laufen ließen, weswegen ich mich ein wenig im Vorteil sah. Immerhin würde er eine lächerliche Figur abgeben, wenn er beim Fluchen und Drohen, sein Handtuch zurechtrücken musste.
Sein zusammenhangloses Gezische konnte ich kaum noch verstehen, als ich auf einmal ein sehr lautes Poltern hörte, so als wäre er in einem hohen Satz aus der Dusche gesprungen.
Plötzlich und völlig unerwartet konnte ich es wieder hören: diese verfluchten Schabgeräusche, die mir bereits Albträume bescherten. Es kam mir so vor, als würde sich etwas Großes gegen eine der Wände oder den Fußboden drücken und dabei hin und her rutschen. Unfähig mich zu bewegen, umklammerte ich noch immer die Schere, die sich bereits schmerzhaft in meine Handflächen bohrte.
Das Gepolter im Badezimmer nahm noch weiter zu und die Laute, die ich vernehmen konnte, glaubte ich nicht einmal mehr meinem Bruder zuordnen zu können. Dafür waren diese viel zu wild und ungestüm und einfach nicht menschlich genug. Das Gezische kam viel zu verzerrt und grotesk aus einer Kehle, dessen Besitzer ich mir nicht mehr sicher sein konnte. Schwankend ging ich einen Schritt auf meine Zimmertür zu und drückte die Klinke herunter. Fast wäre mein Herz stehen geblieben, als die Glühlampe im Badezimmer zu Bruch ging und direkt hinter mir die Badezimmertür ächzend aufgestoßen wurde. In dem Dämmerlicht des Flurs, dessen einzige Lichtquelle der Mond war, konnte ich eine schemenhafte Bewegung erkennen. Sehr zögerlich bahnte sich etwas seinen Weg nach draußen. Als mein Gehirn zusammensetzte, was meine Augen dort sahen, gab ich einen lauten, unerwarteten Schrei von mir, der das merkwürdige Objekt in einer blitzschnellen Ruckbewegung zurückschnappen ließ. Die Tür des Badezimmers wurde wieder lautstark geschlossen und erst einige Minuten später sah ich durch mein Schlüsselloch, wie eine Gestalt, die jetzt doch wieder eher meinem Bruder glich, in sein Zimmer stapfte.
Auch wenn ich mir nicht eindeutig sicher sein konnte, so war ich mir zumindest sicher genug, sodass an Schlaf in dieser Nacht nicht zu denken war.
Was dort so zaghaft aus dem Badezimmer geschwebt war, war, insofern es lebte, mit Sicherheit nicht von einem Menschen stammend. Es war wohl eher ein Bein oder zumindest eine sich vorantastende Gliedmaße, eines riesigen und widerlichen Insekts.
Wenn ich diesem Gedanken weiter folgte, dann kam ich zu dem zweifelhaften Ergebnis, dass sich mein Bruder die Dusche mit diesem riesigen Insekt geteilt oder er sich in dasselbe verwandelt hatte. Und obwohl ich ihm in seiner jetzigen Lebensphase soziale Kontakte von Herzen gönnte, so kam für mich die zweite Möglichkeit viel eher in Betracht.

Am nächsten Tag schwänzte ich die Uni und legte meinem Bruder stattdessen eine kleine Falle. Ich ließ einen 20 Euroschein gut sichtbar auf dem Flurschrank liegen und nahm im Treppenhaus Stellung.
Meine Nerven spielten verrückt bei dem Gedanken, dass mein Bruder nicht den Fahrstuhl nahm und ich im Treppenhaus nicht genügend Ausweichmöglichkeiten hätte. Sie wurden zudem sehr stark strapaziert, als mir eine ältere Frau begegnete, die für fast den gesamten Tratsch des Hauses verantwortlich war. Auf der Stelle redete sie auf mich ein und sprach von ständig vollen Mülltonnen und dass Frau Schulz ihren Hund vermisste. Ich hatte keine Ahnung, wer Frau Schulz war und meine gespielte Höflichkeit kam sehr schnell an ihre Grenzen. Als sie endlich ging, schaute sie mich noch einmal so an, als würde ich dort auf der Lauer liegen, um anderen Hausbewohnern ihre Zeitungen zu stehlen.
Es dauerte dann nur ein paar Minuten, bis ich hörte, wie sich eine Haustür öffnete und ich kurze, schnelle Trippelschritte auf dem Hausflur hören konnte.
Als ich hörte, dass der Aufzug abwärts fuhr, eilte ich in die Wohnung zurück. Ich lief über den Flur und drückte ohne zu zögern die Klinke nach unten. Es wunderte mich nicht, dass diese abgeschlossen war, der Schlüssel um sie zu öffnen, passte aber sowohl in meine als auch die Wohnzimmertür. So war es ein Leichtes mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Nachdem ich den Wohnzimmerschlüssel in das Schlüsselloch steckte, drehte ich ihn einmal ganz herum und nahm mit zufriedenem Grauen wahr, dass die Tür nun unverschlossen war.
Es strömte mir widerlicher Gestank entgegen, als ich die Tür langsam öffnete. Was mich dann allerdings erwartete, übertraf alle meine Vorstellungen. In der Mitte des Raumes war ein fast einen Meter hoher, dunkler Haufen zu sehen, der aus Kot bestand. Als sich meine Augen von diesem Anblick auf der Stelle lösen wollten und sich angewidert abwandten, stießen sie sogleich auf einen noch größeren Schrecken. Direkt neben dem Haufen war ein Skelett zu erkennen, welches zu einem kleinen Lebewesen, wie etwa einer Katze passte. Ich begann bereits hektisch zu schlucken und den Brechreiz zu unterdrücken, als ich im hinteren Bereich einen halb zugedeckten Körper wahrnahm. Ich schritt auf ihn zu, warf die blutverschmierte Decke zurück und starrte geradewegs auf einen Anblick, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Das offensichtlich tote Objekt zu meinen Füßen war einmal ein Hund gewesen. Sein Fell war fast überall blutverschmiert, seine Augen standen weit offen und schauten apathisch an die Zimmerdecke. In der Körpermitte war ein riesiges Loch, durch das man direkt auf das Körpergerippe sehen konnte. Wie viele Sekunden ich starr vor Ekel und Abscheu auf der Stelle stand, kann ich nicht sagen. Erst als mir auffiel, dass das Fell des Hundes an einigen Stellen, die nicht von Blut bedeckt waren, weiß war, erkannte ich, dass es sich hierbei um den Hund einer Nachbarin handelte.
Sein Fell war so schön weich und weiß gewesen, sodass er mich immer an einen Eisbären erinnerte. Seine Besitzerin hatte jedes Mal gelacht, wenn ich ihr Dies gegenüber erwähnte.
Übelkeit kam in mir hoch. Meine Beine schwebten geradezu zur Tür. Ich musste dringend hier raus. Ich übergab mich über den Kothaufen, der sich darüber aber wohl nicht beklagen dürfte.
Die Kotzerei ging im Flur weiter und ich musste mein Verlangen, mich angekleidet unter die Dusche zu stellen, um mich von jeglichem Gestank nach Fäkalien und totem Hund zu befreien, unterdrücken.
Stattdessen zog ich mir nur ein anderes Hemd an, nahm mein gesamtes Geld an mich und rannte die Stufen hinunter.

Ich nahm einen Bus, um in die Stadt zu gelangen. Obwohl die Fahrt nicht allzu lange dauerte, kam sie mir wie eine Ewigkeit vor. Meine Gedanken wechselten ständig in verschiedenste Richtungen. Ich versuchte verzweifelt eine Antwort auf den Wahnsinn zu finden, der sich mir vor nicht einmal einer Viertelstunde vor meinen Augen abgespielt hatte.
Mein Bruder musste seinen Verstand verloren haben oder irgendeinem satanischen Kult angehören. Dies würde aber nicht den riesigen Kothaufen in seinem Zimmer erklären. Schlagartig begannen meine Schläfen zu pochen und mein Magen zog sich zusammen, als ich etwas anderes, noch fürchterlicheres bildlich vor mir sah.
Das merkwürdige Verhalten meines Bruders, angefangen bei seiner fragwürdigen Kleidung und seinem Gang, bis zu seinem abartigen Essverhalten, jagten mir nun einen Schauer über den Rücken. Bei den zwei toten Tieren, die ich in seinem Zimmer fand, war das eine bis auf die Knochen völlig abgenagt. Das Zweite hingegen hatte noch Haut, aber da es erst seit wenigen Stunden in die Fänge meines Bruders geraten sein konnte, war sein Zustand umso erschreckender. Und auch das riesige Loch kam mir nun sehr verdächtig vor, da es fast den Anschein machte, als hätte ein wildes Tier seinen Kopf dort hineingesteckt und das Fleisch geradezu herausgerissen, was auch das überall hinverspritzte Blut erklärte. Je mehr ich versuchte, einen bestimmten Gedanken aus meinem Gehirn zu verdrängen, desto stärker wurde er. Ich konnte zu keinem anderen Schluss mehr gelangen, als dass mein Bruder nicht mehr der war, der er einmal gewesen ist. Und zwar in keinster Weise.

Der Mann hinter dem Tresen wirkte schon mehr als genervt, als ich ihn zum fünften Mal anflehte, mir eine echte Pistole zu verkaufen. Da er aber stur bei der Einhaltung der Waffengesetze blieb, musste ich mich damit abfinden. Stattdessen kaufte ich zwei scharfe Kampfmesser von verschiedener Länge und drei Tuben Pfefferspray, von denen mir der Mann sagte, dass sie auch die größten Hunde in die Flucht schlagen würden. Ob das auch für Insekten galt, konnte er oder sein blöder Blick mir aber nicht verraten.
Als ich noch eine sehr schön anzusehende Armbrust mit Bolzen kaufen wollte, für die kein Waffenschein notwendig war, wurde ich nur mitleidig betrachtet, sodass ich keine Antwort mehr darauf benötigte.
Draußen vor der Tür sprach mich ein sehr suspekt aussehender Mann an, der allerdings etwas anzubieten hatte, das mich in in diesem Moment mehr interessierte, als alles andere auf der Welt.
Auf dem Heimweg im Bus konnte ich mein Glück noch immer kaum fassen. Aber der kleine Revolver in meiner Hosentasche war echt und geladen. Ich hatte zudem noch zwölf Kugeln zum Nachladen gekauft. Als der Mann mir versicherte, dass ich damit auch einen Elefanten töten könnte, kam er mir nicht einmal mehr suspekt vor. Ich vertraute nur allzu gerne seinen Worten und genoss nun das Gefühl, mich genügend abgesichert und bewaffnet zu haben.

Ein älterer Nachbar hielt mir die Eingangstür auf und wartete vergeblich auf ein Dankeschön. Ich war nicht in der Stimmung mich durch Höflichkeiten schwach reden zu lassen. Auch die Frage, ob ich den weißen Hund der Nachbarin aus dem fünften Stock gesehen hätte, ließ ich unbeantwortet. Als ich vor dem Fahrstuhl wieder auf die Klatschtante des Hauses traf und sie mich ebenfalls nach dem Hund fragte, antwortete ich, ohne zu zögern:
„Ja, habe ihn heute gesehen. Mein Bruder hat ihn gefressen, ist nicht mehr viel dran.“
Das schockierte Gesicht der Frau nervte mich, weswegen ich hinzufügte:
„Aber keine Sorge, Alte. Dafür mache ich ihn jetzt kalt.“
Die Nachbarin entfernte sich schnellen Schrittes und klingelte dann irgendwo, wahrscheinlich um über den unhöflichen Mann im sechsten Stock zu lästern.
Ich öffnete die Haustür nur sehr langsam und wusste nicht genau, wie ich weiter verfahren sollte. Ich könnte meinem Bruder sagen, dass ich sein widerliches Doppelleben aufgedeckt hatte. Dass sein ekelerregender Lebensstil ihn mit Fug und Recht zu einer Abscheulichkeit verwandelt hatte, die seines Gleichen sucht. Gestank, Dreck und Abschaum gepaart mit ekligem krabbelnden Tierchen, die sich im Schimmel suhlen und ihn dann in den Mund krabbeln und sich dort einnisten - dafür muss man eben einen Preis zahlen.
Ganz so dramatisch würde ich meine Worte wohl nicht wählen, schon daher, weil sie mit Sicherheit auf taube Ohren stoßen würden. Aber ich hatte zum Glück ja noch meinen Revolver und ein Bild sagte eben mehr als tausend Worte.
Ob ich ihn aber auch in der Realität benutzen würde, daran hatte ich auf einmal erhebliche Zweifel. Meinen Bruder in Menschengestalt zu erschießen, war mit Sicherheit um einiges schwieriger als als Käfer. Augenblicklich erfasste ich den Entschluss, erst auf meinen Bruder zu schießen, wenn er mich angriff und auf den Käfer zu schießen, sobald ich ihn erblickte. Ein anderer Gedanke kam mir dann, als ich bemerkte, dass mein Bruder noch gar nicht wusste, dass ich in seinem Zimmer gewesen war und die zwei toten Tiere sowie den Kothaufen gesehen hatte. Vielleicht, so dachte ich, könnte ich diesen Trumpf gegen ihn verwenden, noch einiges an Beweisen sammeln und dann andere Menschen zu Hilfe holen, die sich um ihn kümmerten.
Als Erstes kam mir die Polizei in den Sinn, die mir hilfreich zur Seite stehen würde, nachdem ich meinen Bruder eindeutig als abartigen, Hunde fressenden Mistkäfer entlarven würde. Als Nächstes dachte ich an Insektenvernichtungsfirmen, die sich garantiert darum reißen würden, dieses riesige Exemplar zu fangen und zu töten.
Ich fand die Wohnung leer vor, ein süßlich, widerlicher Geruch sagte mir aber, dass mein Bruder in der Zwischenzeit zuhause gewesen sein musste.
Es dauerte fast zwei Stunden, ehe ich hörte, wie die Haustür verdächtig leise aufgeschlossen wurde. Dann vernahm ich ein leises Huschen auf dem Flur. Als als ich durch das Schlüsselloch schaute, konnte ich aber niemanden mehr sehen.
Erst eine Stunde später wagte ich mich aus meinem Zimmer, den Revolver dabei griffbereit in meiner rechten Hosentasche und das kleine Kampfmesser in meiner linken.
Die Sonne war den ganzen Tag über nicht ein einziges Mal zu sehen gewesen, was zwar passend zu meiner Stimmung war, mich im Moment aber zusätzlich bedrückte. Für einen kurzen, unbedachten Augenblick erinnerte ich mich an weitaus schönere Tage in der Vergangenheit, an denen die Sonne auf die Erde prasste und meine Eltern mit mir und meinem Bruder an einen schönen See fuhren. Gerne wäre ich noch etwas länger bei diesen Erinnerungen geblieben, als ein merkwürdiges, leises Krächzen und Zischen flüsternd zu mir drang. Schnell drehte ich mich um und hätte vor Schreck fast aufgeschrien, nachdem ich meinen Bruder im Halbschatten stehend ein paar Schritte von mir entfernt erblickte. Seine Gestalt wirkte unnatürlich groß und breit, so als wäre er in alle Richtungen ein paar Zentimeter gewachsen. Zunächst knackte und zischte es aus seiner Kehle, bis diese wahnsinnige Kakofonie schlussendlich doch eine mir verständliche Sprache ergab.
„Du warst in meinem Zimmer ... die Tür war nicht mehr verschlossen!“, zischte es mir wütend entgegen.
Ich griff schaudernd vor Angst nach meinem Revolver. Ohne diesen hätte ich unverzüglich die Flucht ergriffen, nun aber stellte ich mich meinem Widersacher. Wenn ich doch nur das Schießen am heutigen Tage ein wenig geübt hätte, kam es mir in den Sinn. Ich wusste, dass mir jetzt kein Fehler unterlaufen durfte.
Mein Bruder, oder eher diese riesige Gestalt mit unmenschlicher Stimme, trat einen kleinen Schritt an mich heran, aus dem Halbschatten hervor. Ohne zu zögern, zog ich den Revolver aus meiner Tasche und richtete ihn auf seinen Kopf, bereit jede Sekunde zu schießen, was ich auch tat. Was mich derart in ungebremste Tötungswut brachte, war die einfache Tatsache, dass an dem ungewöhnlich großen und kaum noch menschlichen Mund vereinzelte Haare klebten, von denen die meisten rot und einige wenige weiß schimmerten. Zudem erkannte ich, dass die Augen meines Bruders unmöglich die Seinigen mehr waren. Fast Tassen groß starrten sie mich an und die zuvor blau gewesenen Augen waren nun dunkel bis schwarz und hatten kaum noch etwas mit der regulären Anatomie eines menschlichen Auges zu tun.
Dieser hässliche und abstoßende Anblick verschlimmerte sich noch weiter, als dieses grässliche Wesen, das einmal mein Bruder gewesen war, seine Augen vor Schreck noch weiter öffnete, als er den Revolver erblickte.
Ich schaute dieser überdimensionalen, schäbigen Kakerlake direkt in die Augen, als ich die Sicherung löste, das erste Mal den Hahn des Revolvers drückte und schnell darauf noch zwei weitere Male.
Wie vom Blitz getroffen erschrak das Viech, rannte um die Ecke und drehte seinen widerlichen Kopf noch einmal mir zu, um mit lautem Gezische seinen Unmut auszudrücken.
Ich war erleichtert, dass es in sein Zimmer rannte. Ich selbst war fast zu Tode erschrocken, nachdem der Revolver insgesamt nur drei Mal fröhlich vor sich hin klackerte und nicht ein einziger Schuss aus dem Lauf gekommen war.
Wie von Sinnen marschierte ich in Richtung meiner Tür und war sehr überrascht, als ich meinen Bruder hörte, wie er mit wieder menschlich klingender Stimme hektisch die Polizei rief. Es dauerte nur einige Minuten, ehe es Sturm klingelte und ich laut stapfende Geräusche im Treppenhaus hörte.
Ich schaute noch einmal zu meiner unfertigen Hausarbeit, die nur aus einigen wenigen, traurigen Seiten bestand und der ich mich jetzt, gerade in diesem Moment, sehr gerne weiter gewidmet hätte.
Stattdessen hörte ich, wie die Wohnungstür geöffnet wurde und mein Bruder den Beamten Anweisungen gab.
„Dort drinnen ist der Verrückte. Nehmen sie ihn fest!“, dröhnte diese menschenverachtende Unerhörtheit in meinen Ohren. Es klopfte sehr stark an meine Tür. Als diese lautstark geöffnet wurde, ließ ich mich widerstandslos in Handschellen nehmen.
Wie in Trance erlebte ich die ersten Minuten dieses gewaltsamen Eindringens, weswegen ich nur zögerlich und völlig neben mir stehend auf die Fragen der Beamten antworten konnte. Innerlich empfand ich gleichzeitig eine merkwürdige Freude und Erleichterung, da der Albtraum nun auf jeden Fall vorbei sein und ich nur noch auf die Tür meines Bruders zeigen müsse, um ihn zu überführen.
Dieser stand hingegen genau davor und wirkte auf mich geradezu verstörend menschlich. Hin und wieder warf er mir bitterböse Blicke zu, welche mir vollkommen gleichgültig waren. Diese zurückgewonnene, unverdiente Menschlichkeit setzte in mir wieder Kräfte frei, die ich mich vor Kurzem noch außerstande sah zu nutzen. Zwar gab ich mit meinen mit hinter dem Rücken zusammengebundenen Händen einen erbärmlichen Anblick ab, aber meine Botschaft war für jedermann klar verständlich, wie ich zutiefst hoffte, als ich schrie:
„Er ist eine Kakerlake; eine dreckige, hässliche Kakerlake! So einen Mistkäfer habt ihr noch nie gesehen. Der frisst Hunde der Nachbarn und auch eine Katze oder so etwas ... ja vielleicht ja einen Fuchs, den hat er auch gefressen. Ich habe alles gesehen, jetzt nicht die Fresserei, aber den Kackhaufen, dort wo er die wieder ausgekackt hat. Habe mich sogar darauf übergeben, weil das alles so widerlich ist, arme Tiere zu essen, die nichts dafürkönnen. Aber der Typ kann dafür etwas, dass er jetzt eine krabbelnde Abscheulichkeit ist.
Sag denen doch mal, wie sehr du immer in der Gegend herumschabst! Und selbst nachts, da duscht der auch und benutzt meine Zahnpasta. Die ist dann ganz eklig. Und den netten Eisbären hat er auch gefressen.“
Die Polizisten hatten mir, wie ich fand, aufmerksam zugehört, nun senkten die meisten aber ihre Köpfe oder schüttelten sie sogar. Ein anderer kam zu mir gelaufen, versicherte sich kurz, dass ich auch wirklich gefesselt war, und schrie mir dann entgegen, dass ich meine Schnauze halten solle. Diesem Befehl gehorchte ich nur kurz, da ich mir sicher war, dass kein einziger der Polizisten mich richtig verstanden hatte. Stattdessen wurde ich angefeindet und gefragt, was für Drogen ich nehmen würde.
Aufgrund dessen meine Kräfte immer weiter nachließen, musste ich schnellstens meinen einzigen Trumpf ausspielen: Und zwar meinen Bruder selbst.
Lautstark forderte ich die Beamten auf, sich mit ihm zumindest für einen kleinen Moment zu unterhalten, um selbst herauszufinden, was für ein Mensch er war. Lange würde er seine menschliche Gestalt garantiert nicht aufrechterhalten können. Auch wenn es ihm auf einmal wieder gelang, deutlich zu sprechen und er sogar seine menschlichen Augen zurückerlangt hatte, so sah ich, dass unter seiner breiten Jogginghose, die er nun wieder trug, eindeutig mehrere ekelhafte Beinpaare krabbelten. Das Zucken mit seinen Augen fing auch wieder an.
Als mein Bruder meinen Blick bemerkte, zog er sich ins Wohnzimmer zurück. Meinen Impuls, einfach loszustürmen und die Tür seines Zimmers zu öffnen, musste ich stark unterdrücken, da ich es bis dorthin wohl nicht einmal schaffen würde oder ich nicht in der Lage wäre die Klinke mit meinen gefesselten Händen hinunterzudrücken.
Um den Wahnsinn in meinem Kopf zu unterdrücken, redete ich nun unentwegt auf einen Beamten ein, der direkt vor mir stand. Als dieser mich in normalem Plauderton bat, meinen Mund zu halten, tat ich ihm diesen Gefallen, weswegen er mir wahrscheinlich aus Mitleid heraus erklärte, dass die Zündung meines Revolvers defekt sei und er in diesem Zustand niemals eine Kugel abfeuern könnte. Und auch bei den Kugeln glaubte er nicht, dass sie jemals schussbereit wären. Dann fragte er mich, von wem ich mir diesen Schrott andrehen ließ. Anstelle einer Antwort flehte ich den Beamten an, mit meinem Bruder zu sprechen, um von ihm durch geschickte Fragen und ausgeklügelte Taktiken in Erfahrung zu bringen, dass er den Eisbären gefressen hat.
Um auf keinen Fall unglaubwürdig zu erscheinen, erwähnte ich den riesigen Kothaufen mit keinem Wort mehr. Dann sah ich den Mann hoffnungsvoll hinterher, wie er ins Wohnzimmer marschierte.
Es dauerte für meine Begriffe viel zu kurz, als ich ihn schon wieder erblickte und erwartungsvoll anstarrte. Der Polizist wirkte sehr genervt, was ich ihm nicht verdenken konnte, immerhin hatte er sich mit meinem Bruder unterhalten müssen.
„Also, den Eisbären getötet zu haben gibt ihr Bruder zu ...“, sagte der Mann, wobei ich ihm am liebsten vor Dankbarkeit um den Hals gefallen wäre.
„ ... und Morgen geht er auf Robbenjagd und übermorgen erschießt er einen Elefanten.“
Der Stein, der für ein paar Sekunden von meinem Herzen gefallen war, war wieder da und wog nun das doppelte. Als ich nach mehreren fassungslosen Sekunden schrie, dass man in das Zimmer meines Bruders gehen und sich selbst von dessen abscheulicher Verwandlung überzeugen müsse, wurde ich abrupt und schmerzhaft unterbrochen, wobei jemand meine gefesselten Arme durch einen Hebel kurzzeitig malträtierte, woraufhin ich einen hohen Schmerzensschrei von mir gab, der auf die Beamten belustigend wirkte.
„Hören Sie...“, unternahm ich fast flüsternd einen letzten verzweifelten Versuch.
„Mein Bruder hat sich in irgendetwas verwandelt, er ist jetzt sehr gefährlich und ein ... “ Meine Stimme versagte mir fast bei meinen Worten, aber ich riss mich zusammen. „ ... ein verdammt mieses Schwein.“
Schnellen Schrittes trat einer der Polizisten zu mir, stellte sich direkt vor mich und starrte mich bösartig an.
„Nein, er ist nicht das miese Schwein!“, schrie er.
„Mit ihrem Bruder kann man zwar kaum reden und er hört auch nicht zu, aber er war es nicht, der seinen eigenen Bruder mit einer Waffe bedroht hat. Das waren ganz allein Sie! Und jetzt hören Sie auf mit ihren peinlichen Geschichten, Sie feiges, mieses, verrücktes Schwein!“

Fast triumphierend hielt einer von ihnen meine kleine Waffensammlung in die Höhe, bestehend aus dem Schlagstock, dem langen Kampfmesser, meinem defekten Revolver, von dem wieder sehr suspekt erscheinenden Halsabschneider, sowie alle meine Pfeffersprays, die sie mir eigentlich nun wirklich dalassen könnten, wie ich fand. Zu meiner Überraschung ertastete ich einige Minuten, nachdem auch der Letzte der Beamten gegangen war in meiner Tasche das kurze Kampfmesser, das von den Polizisten erstaunlicherweise nicht bemerkt worden war.
Ein kleiner Triumph gegenüber der für mich nun eindeutig verkommenen Staatsgewalt, die sich lieber auf die Seite einer riesigen Kakerlake schlug, als einem menschlichen Mitbürger in der Not zu helfen.
Ich rannte in mein Zimmer, schloss ab und war unschlüssig, ob ich als Nächstes bei Insektenvernichtungsfirmen anrufen sollte. Bei den geschickten Täuschungsmanövern meines Bruders würden aber auch sie wieder erfolglos abziehen und mir womöglich eine horrende Rechnung für ihre nicht erbrachte Arbeit ausstellen. Das erfolglose und insektenfreundliche Auftreten der Polizisten wog da aber viel schlimmer auf meiner Seele, vor allem da ich mir selbst eingestehen musste, dass es meine eigene Schuld war, dass sie mir nicht helfen konnten. Meine Unfähigkeit mich klar auszudrücken, gepaart mit deren Unwissenheit über Abgründe, die den menschlichen Geist weit übertrafen, mussten einfach zu diesem Irrglauben führen, dass ich selbst ein aggressiver, drohender Mensch war, und kein Opfer höherer Gewalt, das sich verzweifelt zu wehren versuchte.
Für ein paar Sekunden versetzte ich mich in die Lage der Polizeibeamten, die vollkommen richtig gehandelt hatten, auch wenn sie natürlich zu dämlich gewesen waren, die verdammte Tür meines Bruders zu öffnen und die beiden Tierkadaver sowie den Kothaufen mit eigenen Augen zu sehen.

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und genoss für einen Moment die Stille. Ich war körperlich und geistig zu sehr erschöpft, als dass ich noch zu viel zu gebrauchen wäre.
Der friedliche und erbarmungsvolle Gedanke machte sich in meinem Kopf breit, dass ich mich wirklich geirrt hatte und mein Bruder keine wahnwitzige und abscheuliche Verwandlung durchgemacht hatte. Waren dort wirklich zweit tote Tiere in seinem Zimmer gewesen? War seine äußere Erscheinung wirklich so grotesk? Das alles könnte ich in diesem friedlichen Moment wohl einfach vergessen oder verdrängen oder insoweit verzerren, dass es mir gleichgültig war. Ich bräuchte nichts weiter zu tun als ...
Und da waren sie wieder! Lauter als jemals zuvor. Diese verdammten Schabgeräusche drangen derart laut in mein Ohr, dass ich sie mir am liebsten zugehalten hätte. Mein Zimmer teilte eine Wand mit dem Wohnzimmer und genau gegen diese musste sich mein widerlicher, verrückter Kakerlakenbruder drücken oder wälzen oder auch hoch und runter krabbeln, mit seinen ekelhaften Insektenbeinen.
Dann vernahm ich ein lautes Poltern und ein Huschen und die Schaberei wurde im Flur fortgesetzt.
Irgend etwas schlug oder sprang gegen meine Tür, sodass sie fast aus den Angeln gerissen wurde. Nach einer kurzen Ruhepause hörte ich derart lautes Zischen, wie aus den Mäulern von Millionen Kakerlaken zusammengenommen, die drohend, fluchend und zischend zu mir sprachen. Jetzt bestand kein Zweifel mehr; ich wusste es ganz genau. Ich umklammerte mein Messer fest mit beiden Händen.
Mein Bruder musste sein komplettes menschliches Dasein für diesen Tag aufgebraucht haben, als die Polizei da gewesen war. Nun konnte er diese menschliche Hülle nicht weiter aufrechterhalten und seinen gesamten Frust darüber wollte er jetzt auf die widerlichste, animalischste Art und Weise an mir auslassen. Ich würde wahrscheinlich genauso enden, wie die beiden armen Tiere in seinem Zimmer und auch der Kothaufen würde wohl um eine Etage ansteigen, wenn ich seinem Treiben nicht Einhalt gebieten könnte.
Aber nicht mit mir! Bis zum letzten Blutstropfen würde ich kämpfen. Da war ich mir sicher. Wie zum Hohn schaffte es seine Stimme erneut menschlich klingende Töne zu fabrizieren und der Klang sowie die Aufforderung dahinter hätten verstörender nicht sein können.
Komm doch mal raus“, hörte ich die Kakerlake sprechen. Ich ergriff meinen gesamten Mut, ging zur Tür, trat drei Mal heftig dagegen und schrie, dass ich noch immer im Besitz einer Waffe wäre, die die Polizei nicht gefunden hätte, womit ich ihm liebend gerne sein Kakerlakenhirn zu Brei schießen würde.
Zur Antwort ertönten wieder unmenschliches, lautes Gezische und Gepolter und ich wusste, dass sich mein Bruder in einer Pattsituation befand.
Er wusste nicht, ob ich log oder die Wahrheit sprach und da er am heutigen Tage wohl nicht mehr in seine menschliche Gestalt zurückkehren könnte, war es für ihn unmöglich, die Polizei zu rufen.
Das hektische Treiben im Flur zog sich noch einen Augenblick hin, dann hörte ich, wie seine Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde.
Es vergingen mehrere Stunden, in denen die Wohnung bis auf vereinzelt zu hörende Schabgeräusche vollkommen still war. Zu meinem Bedauern hatte ich nichts mehr zu trinken in meinem Zimmer und meine Wasserflasche, die ich mehrmals täglich mit Leitungswasser auffüllte, war leer und staubtrocken.
Ob mehr durch Müdigkeit oder Durst gepeinigt - kann ich nicht sagen - schlief ich schließlich auf meinem Stuhl ein. Ich erwachte erst wieder, als es bereits stockdunkel war. Schnell ergriff ich das kleine Kampfmesser und machte alle Lichter an. Mit einem Blick auf die Uhr sah ich, dass es fast halb zwei war. In der Wohnung herrschte absolute Stille. Selbst von den Schabgeräuschen war nichts mehr zu hören.
Der Durst machte mir nun sehr zu schaffen und meine trockene Kehle fühlte sich hundeelend an. Ich musste mich zusammenreißen, nicht die Tür zu öffnen und einfach ins Bad zu gehen, das nur ein paar Meter entfernt lag. Stattdessen hörte ich aufmerksam auf jedes Geräusch, das ich vernehmen konnte.
Als ich nach knapp zwei Stunden außer meinem eigenen, unstetigen Atem nichts hören konnte, siegte das Verlangen nach etwas Flüssigem.
Ich spähte auf den Flur hinaus, erkannte, dass er leer war und dass sowohl die Zimmertür meines Bruders, als auch die Wohnzimmertür geschlossen waren. Ohne wirklich darüber nachzudenken, eilte ich ins Badezimmer und drehte den Wasserhahn sehr leicht auf. Im Spiegel konnte ich genau die Tür meines Bruders im Blick behalten.
Als ich über mir ein Poltern hörte, schrak ich derart stark zusammen, dass mein Herz mir schmerzhaft bis zum Hals schlug. Mein Nachbar über mir musste wohl gerade aus dem Bett gesprungen sein.
Es dauerte fast eine Ewigkeit, bis sich meine Flasche füllte und da ich es nicht mehr aushielt, tat ich sie kurz zur Seite, senkte meinen Kopf unter den Wasserhahn und trank von dem erfrischendem Wasser, welches mir in diesem Moment so gut tat.
Als ich endlich genügend getrunken hatte, schaute ich schnell wieder in den Spiegel und stellte fest, dass sich die Tür, wie zu erwarten war, nicht bewegt hatte. Ich ließ sie dennoch nicht aus den Augen. Als meine Wasserflasche fast voll war, drehte ich den Wasserhahn wieder zu und ging auf Zehenspitzen in mein Zimmer zurück.
Ich riskierte noch einmal einen kurzen Blick in die Richtung in der mein Bruder, in welcher Form auch immer, verweilte, trat dann in mein Zimmer ein, schloss die Tür so leise ich konnte und drehte den Schlüssel zwei Mal um.
Eigentlich war es ein Kinderspiel gewesen und ich hätte mich schon viel früher von dem schmerzenden Durst und meiner trockenen Kehle befreien können, wie ich fand.
Ich ging zwei Schritte in mein Zimmer hinein und wäre beinahe auf etwas ausgerutscht. Im letzten Moment konnte ich mich aber noch halten. Genervt machte ich Licht und musste etwas warten, bis die schwache Sparglühlampe endlich ihr Lichtvolumen erhöhte. Dann sah ich auf dem Boden einen Fleck oder auch eine Pfütze. Erst als es bereist zu spät war, realisierte ich, was dies bedeutete.
Ich hob meinen Kopf und ließ meinen Blick durchs Zimmer schweifen ... .
Und da stand er. Schemenhaft und unnatürlich groß und breit und nur wenige Schritte von mir entfernt. Mein Bruder. Oder derjenige, den ich einst meinen Bruder genannt habe - nun war er es wirklich nicht mehr.
Das Licht, das nun immer heller wurde, machte den Schrecken, der mir durch Mark und Bein schoss, nur noch unerträglicher.
Aufgerichtet, wie er war und fast an die Zimmerdecke reichend, gafften mich nun fast Teller große Augen an, die es eigentlich nicht geben durfte und dessen Anblick derart grotesk wirkte, dass ich vor Angst und Schrecken so stark zusammenzuckte, dass ich jeden einzelnen meiner Knochen spürte. Das Gesicht meines Bruders war sehr lang gezogen. Als ich die große Öffnung in deren Mitte erkannte, erschauderte ich zutiefst. Mit blankem Entsetzen begriff ich dann, dass mich dieses abscheuliche Ding fast belustigt betrachtete, so als würde ihr mein verängstigter Anblick Freude bereiten. Mit sehr viel Fantasie erkannte ich in ihnen die Augen meines Bruders wieder, die, obwohl nun völlig entstellt und mutiert, zu solch einem Blick sehr leicht fähig gewesen wären. Mit weiterem angsterfüllten Blick auf die Gestalt des Viechs vor mir erkannte ich zwei riesige Insektenbeine, die blindlings in der Luft herumwirbelten und ziel- und ruhelos in alle Richtungen ausschlugen. Weiter unten war ein weiteres Gliedmaßenpaar und am Boden stand es sehr fest auf zwei großen und breiten Insektenbeinen, die einfach nur abstoßend wirkten.
Auf seinem Rücken konnte ich einen länglichen Schutzpanzer erahnen.
Die Mutation meines Bruders war fast abgeschlossen, wie es mir vorkam. Ich schaute dieser überdimensionalen Kakerlake nun wieder direkt in die Augen und was ich sah, hätte erschreckender nicht sein können. Das Gesicht dieses Riesenkäfers transformierte sich gerade noch weiter und es sah so aus, als würde das Letzte menschliche in ihm sowohl von der Beschaffenheit, als auch der Mimik eingesogen und verschluckt und nun durch die Beschaffenheit und Mimik der Riesenkakerlake ersetzt werden. Das Gesicht wurde immer länger, aus dem nichts erschienen widerliche Fühler, die sofort wild herumtasteten, und der Mund war nun eine einzige, riesengroße Abscheulichkeit, die widerliches Gezische von sich gab. Die Augen wurden noch breiter und zogen sich gleich darauf in die Länge. Augenblicklich erstarb jede zu erkennende Gefühlsregung in ihnen und wurde durch eine tiefschwarze, konturlose Pupille ersetzt.
Mit einem letzten Blick in die düsteren Abgründe der menschlichen Seele gelang es mir, mich von meiner Erstarrung zu befreien, die nur ein paar Sekunden angedauert haben musste, mir aber viel länger vorgekommen war.
Dass ich nun wieder imstande war, mich zu bewegen, war auch mehr als notwendig gewesen, da sich dieses riesige, abscheuliche Kakerlakenviech langsam in Bewegung setzte und mich dabei nicht aus den Augen ließ. So schnell ich konnte, riss ich das Kampfmesser aus meiner Hosentasche, klappte es auf und schwang es ein paar Mal drohend in der Luft.
Das Viech schaute mich weiter emotionslos an und blinzelte einmal kräftig, was ein lautes Klacken verursachte.
Auch wenn ich wusste, dass es eigentlich zu spät war, bewegte ich mich langsam rückwärts auf die Tür zu, welche ich zuvor leider verschlossen hatte. Ich musste sie schnellstens entriegeln, die Klinke drücken und … dann geschah es.
Das Biest machte einen kurzen Satz und sprang dann ungeschickt auf mich zu. Im letzten Moment schaffte ich es gerade noch, mein Messer auf den Kopf des Dings zu richten, was aber vollkommen sinnlos war, da es von einem Moment auf den anderen meinen Arm in seinem Maul hatte und mich durch den wuchtigen Stoß hart gegen einen Schrank hinter mir knallen ließ.
Ohne zu wissen, wo genau mein Arm steckte, zog ich benommen daran, was das Biest laut zum Zischen brachte. Dann, ohne Ankündigung spielte sich das grausige Schauspiel vor meinen Augen ab und ich war froh, dass der Schock mich aus der Realität in eine Traumwelt warf. Wie von Sinnen gluckste das Viech laut auf, warf seinen gesamten Körper in eine Richtung und drehte sich einmal um sich selbst, meinen Arm dabei noch fest in seinem Maul steckend. Ich hörte es einmal laut knacken und musste dann mit ansehen, wie die Kakerlake dieses Vorgehen wiederholte.
Die Wucht ihrer Umdrehung wirbelte mich in alle Richtungen mit, aber mein feststeckender Arm blieb starr und vor sich hin knackend und brechend in dem Maul der Bestie. Mit fürchterlichem Blick musste ich sehen, wie der Knochen meines Armes nun aus dem selbigen heraustrat und frei und offen zu sehen war.
Die Schreie, die ich ausstieß, verstummten fast in meiner Kehle. Atemlos musste ich mit ansehen, wie diese Bestie mit einer letzten Drehung meinen Arm komplett von meinem Körper abriss. Dieser landete auf dem Teppich und mit einem letzten, abschätzenden Blick zu mir, stürzte sich die Riesenkakerlake erneut darauf.
Völlig benommen und sehr weit neben mir stehend betrachtete ich kurzzeitig meinen rechten Arm oder das, was davon noch übrig geblieben war. Direkt unterhalb des Ellenbogens klaffte nun ein tiefes Loch, aus dem Blut ausströmte und ein Stück meines Knochens war völlig fleischlos zu sehen.
Blindlings stolperte ich auf die Tür zu, rüttelte ungelenk mit der linken Hand am Schlüssel und bekam irgendwie die Klinke heruntergedrückt.
Ich schaute noch einmal zurück zu dem riesigen Viech, dessen gigantisches Kakerlakenmaul sich nun über meinen abgetrennten Arm hermachte. Das Viech wirkte fast freudig wie ein Kind und ich bekam die Antwort auf eine Frage, die mir im Moment völlig gleichgültig war. Mit meinem Arm im Maul wälzte sich die Kakerlake auf der Erde auf seinem Schutzpanzer hin und her und ich hörte diese widerlichen Schabgeräusche erneut, die mir schon seit Tagen den Schlaf geraubt hatten.

Ich rannte so schnell es ging aus der Wohnung, musste dann mein verzweifeltes Vorhaben bei Nachbarn zu klingeln, schaudernd und schreiend bleiben lassen, da ich dazu aus Erfahrung meine rechte Hand benutzen wollte, die ich zwar noch immer irgendwie spürte, sie aber nicht mehr zu meinem Körper gehörte. Stattdessen hämmerte ich mit dem linken Arm gegen mehrere Türen, die aber allesamt verschlossen blieben, nahm meine eigenen, krächzenden und wimmernden Klagelaute nicht einmal mehr wahr und stolperte schließlich auf den Fahrstuhl zu, dessen schwaches Neonlicht irgendwie anziehend auf mich wirkte. Ich öffnete ungeschickt die Tür, drückte auf den Knopf und schrie den gesamten Weg abwärts mein Spiegelbild an.
Irgendwie gelangte ich auf die Straße, trat in eine große Pfütze, trampelte schreiend weiter vorwärts, alles im Angesicht des Mondes, der bösartig auf mich herabschaute. Ich rannte über die Straße, rutschte aus, hörte ein wildes Hupen, lautes quietschen und einen Aufprall, der mein eigener war.


Licht. Sehr schwaches Licht, das mich umgab. Meine Augenlider gehorchten mir nicht und blinzelten nun um die Wette. Alles andere versuchte ich nicht einmal zu bewegen. Ein stetes, nerviges Piepen war zu hören. Ich hatte eine Ahnung, wo ich war, wollte davon aber nichts wissen.
Eine Stimme drang an mein Ohr. Dann eine Zweite. Engelsgleich hörte ich sie von zwei Frauen kommend, die sich unterhielten - über mich. Es gefiel mir nicht, was sie sagten, aber ich liebte deren Klang. Ich schloss die Augen und schlief ein.
„Jetzt ist er wieder wach. Komm schnell, bevor er wieder einschläft.“
Und noch immer leisteten die Engel mir Gesellschaft. Sie schafften es, mich zu einem Gespräch zu motivieren. Ich sprach wenig, sie dafür viel. Nach wenigen Minuten ließen sie mich erneut in eine Traumwelt gleiten. Meinen abgetrennten Arm erwähnten sie zu keiner Zeit. Beim nächsten Mal, als ich erwachte, war ich auch wirklich wach. Meinen gefühlten Schwebezustand erhielt ich durch sehr starke Beruhigungsmittel, wie mir eine Krankenschwester erklärte. Ich fühlte mich in der Tat leicht wie eine Feder und seltsam erlöst. Die Schwester sprach zu mir und hielt dabei meine Hand, die ich noch hatte.
Sie versicherte sich mehrmals, dass es mir gut ging, ich Herr über meine Sinne war, und dass ich zu dem Gespräch, das ich führen sollte, auch wirklich schon in der Lage war.
Mit einem aufmunternden Lächeln öffnete sie die Tür und machte dann Platz, um jemanden eintreten zu lassen. Unwillkürlich fing ich an zu zittern, da ich die Gestalt nur schemenhaft wahrnahm. Die ältere, flüsternde Männerstimme verriet mir dann aber augenblicklich, dass es sich nicht um meinen Bruder handeln konnte.
Der Mann setzte sich auf einen Stuhl neben mein Bett und stellte sich vor. Die Krankenschwester schloss die Tür hinter sich, sodass wir ungestört waren.
Bei dem Mann handelte es sich um einen Polizeibeamten, der dem Aussehen nach zu urteilen, kurz vor der Rente stand. Tiefe Falten umgaben seine hellblauen Augen und seine Stirn bestand aus einer einzigen Furche. Sein Blick war mitfühlend und drückte zugleich Besorgnis aus.
„Sie haben einiges hinter sich“, begann der Mann zu sprechen. Seine Stimme klang als Pendant zu den Engelsstimmen der Frauen und hörte sich wie die Stimme Gottes für mich an. Ich nickte nur ein wenig. Es war lange her, dass ich mit irgendjemandem über meine Probleme sprechen konnte und derjenige sich für mich wirklich interessierte. Jetzt könnte ich alles sagen und mir wurde aufmerksam zugehört.
„Ich komme gerade von Ihrem Bruder“, sagte der Mann und mein Herz begann zu rasen. Bilder drangen mir ins Gedächtnis. Schlimme, abartige und grauenvolle Bilder. Mein Kopf versuchte sie zu verdrängen, schaffte es aber nicht. Ich hatte einmal einen Bruder gehabt, dieser war nun zu einer Kakerlake mutiert. Er wollte mich töten, bekam aber nur meinen Arm zu fassen. Ich konnte fliehen und nun befand ich mich hier, bereit alles zu erzählen, was ich wusste.
Der Mann fuhr fort: „Ihr Bruder hatte bereits einmal versucht, Sie zu besuchen, aber Sie waren noch zu schwach gewesen, deshalb wurde er wieder nach Hause geschickt. Er hat Ihre Eltern benachrichtigt und sie sind auf dem Weg hier her. Ihr Flug geht noch heute Abend. Natürlich sind sie sehr besorgt und sie wollen jetzt für längere Zeit bei Ihnen bleiben, meinte Ihr Bruder.“
Der Mann machte eine kurze Pause und sprach dann mit milder Stimme weiter.
„Können Sie es sich erklären, was genau mit Ihrem Arm geschehen ist?" , fragte er.
Erneut schossen mir fürchterliche Bilder durch den Kopf. Diese zu erklären war für mich allerdings eine ganz andere Sache. Da ich für längere Zeit nichts sagte, sprach der Mann behutsam weiter.
„Ihr Bruder sagte, dass Sie unter sehr starkem Stress gelitten haben und dass Sie mit einer Hausarbeit nicht fertig wurden, die sehr wichtig für das Bestehen Ihres Studiums ist. Ich weiß nur zu gut, was es heißt, diesen Stress ertragen zu müssen. Zu meiner Studienzeit rauchte ich mindestens eine Schachtel täglich. Nach dem Studium ging der Stress dann weiter und heute bin ich bei zwei Schachteln angelangt.“
Der Mann lachte kurz auf und fing dann an zu husten. Da ich noch länger keine Antwort von mir gab, sondern weiter an die weiße Zimmerdecke starrte, setzte er wieder behutsam an zusprechen.
„Wir alle machen manchmal Dummheiten, davon kann ich ein Lied singen. Nach fast 40 Jahren bei der Polizei habe ich so gut wie alles gesehen. Und glauben Sie mir, Sie müssen sich für nichts schämen. Ich kannte mal einen Mann, einen echten Scheißkerl. Immer wenn sein Fußballverein verlor, verkloppte er seine Frau und seine Kinder. Also, das muss man sich mal vorstellen ...“, der Polizist räusperte sich kurz und sprach dann weiter. „ ... was soll denn das für ein Leben sein, mit so einem beschissenen Vater und Ehemann. Und glauben Sie mir, der Typ war unbelehrbar. Ich nahm ihn einige Male fest, aber das brachte auch nichts. Einmal verprügelten ein Kollege und ich ihn, aber der Typ lachte nur dämlich. Er wollte einfach nicht aufhören. Ein paar Tage danach hatte ein Bekannter von ihm wohl endgültig die Schnauze voll und er schnitt ihm mit einem Rasiermesser die Kehle durch. Das war bei einem ihrer unzähligen Kneipenbesuche, bei dem der Typ manchmal sogar geprahlt hatte, wie gerne er doch zuhause zuschlägt. Sein Bekannter, der zugestochen hat, bleibt seelenruhig neben dem Arsch sitzen und sieht ihm beim Sterben zu. Ich glaube, er hat dabei sogar noch sein Bier leer getrunken. Als ich eintraf, hat er sich ohne Widerstand festnehmen lassen. Ich spürte großes Mitleid und Schuld für ihn und zum Glück sah das der Richter genauso. Er verpasste ihm vier Jahre, von denen er ein einziges absitzen musste und das wohl locker auf einer Arschbacke. Heute sitzt er wieder gemütlich in der Kneipe, wo er den Familienschläger getötet hat und wird von allen als Held gefeiert. Von mir inklusive. Sie sehen, es gibt gute Dummheiten und schlechte Dummheiten. Wir alle begehen sie und jetzt würde ich gerne wissen, was Ihnen zugestoßen ist und Sie zu dieser Dummheit veranlasst hat.“
„Welche Dummheit?“, fragte ich mit schwacher Stimme.
„Das mit Ihrem Arm.“
„Das war mein Bruder, er ist, er hat sich ... er ist nicht ... nicht mehr ...“
„Was war Ihr Bruder?
„Er ist daran schuld, mit dem Arm.“
„Das glaube ich leider auch, wenn auch nur zum Teil.“
Ich starrte den Mann verblüfft an. Irgendetwas hatte er bereits herausgefunden, und wenn ich wieder besser bei Kräften war, so wäre es ein Leichtes, ihm die ganze Wahrheit zu sagen. Ich hörte nun sehr aufmerksam zu, als der Mann weiter sprach.
„Es ist leider nicht gerade einfach, mit Ihrem Bruder ein Gespräch zu führen. Er zeigte auch sehr wenig oder so gut wie überhaupt kein Mitgefühl für das, was mit Ihnen geschehen ist.“
Ja, der … Arsch“, fiel ich dem Polizisten kaum hörbar ins Wort, was diesen aber für kurze Zeit zum Schmunzeln brachte.
„Ihr Bruder scheint ein wirklich unordentlicher Mensch zu sein. Die gesamte Wohnung stinkt fürchterlich, im Wohnzimmer ist ein riesiger Schimmelfleck und in der Küche schwirrt das Ungeziefer nur so in der Luft herum. Kann mir nicht vorstellen, dass man sich dort wohlfühlen kann. Das Bad und vor allem das Klo spotten ehrlich gesagt auch jeder Beschreibung. Als ich Ihren Bruder darauf ansprach, war es ihm nicht einmal peinlich. Ehrlich gesagt glaube ich sogar, dass es ihm scheißegal war. Zudem muss man jedes Wort einzeln aus ihm herausquetschen. Ich glaube Ihnen sofort, dass das Zusammenleben mit ihm wohl die reinste Hölle sein muss. Ich kann Ihnen auch fast keinen Vorwurf machen, dass Sie sich bewaffnet haben. Viele hätten wohl dasselbe getan. Es war wohl die pure Verzweiflung, die Sie antrieb und es hätte auch ganz anders ausgehen können.“
Für einen kurzen Moment dachte der Polizist angestrengt nach, wobei sich seine Augen zu Schlitzen zusammenzogen. Dann schaute er zunächst auf meinen Arm oder auf das, was noch davon übrig geblieben war und dann in meine Augen.
„Können Sie mir bitte sagen, wo sich Ihr Unterarm befindet? Ich weiß, dass die Frage nervt und Sie damit im Moment nichts zu tun haben wollen, aber ich würde mich dennoch sehr über eine Antwort freuen. Zunächst gingen wir davon aus, dass der Lkw, mit dem Sie kollidierten, dafür verantwortlich sein müsste. Aber der Fahrer schwor uns auf Gedeih und Verderb, dass er sehr langsam fuhr und Sie ihm nur vorne vor die Stoßstange gelaufen waren und Sie Ihren Arm dabei unmöglich derart verloren haben konnten. Und da der Arm zudem auf der gesamten Straße unauffindbar gewesen war, hoffe ich nun von Ihnen zu erfahren, wo er sich befinden könnte. Immerhin wollen wir ja nicht, dass er von Kindern gefunden wird, die sich darüber zu Tode erschrecken. Den Hausmüll sowie alle Mülltonnen haben wir schon abgesucht, aber leider ohne Erfolg. Können Sie sich vielleicht noch daran erinnern, wo er sich jetzt in diesem Moment befindet? Wo Sie ihn sich abgeschnitten haben, war leicht zu rekonstruieren, immerhin war Ihr Zimmer voller Blut. Nur wohin Sie ihn dann gebracht haben, ist leider ein Rätsel.“
Wenn mein Körper mir wieder gehorchen würde, so wäre ich wohl aufgesprungen, hätte an dem Mantel des Polizisten gezerrt und geschrien, warum er so einen Unsinn von sich gab. Nun aber fingen meine Augen nur heftig an zu zucken und die Stelle, an der mein Arm abgerissen worden war, juckte geradezu unmenschlich.
„Mein B ... B ...Bruder“, stotterte ich. „Er hat ihn. Er war das.“
Die Augen des Polizisten blieben kalt und fixierten mich nun sehr genau.
„Nein, das glaube ich nicht“, sprach er, wobei seine Stimme sehr hart und dröhnend in meinen Ohren erklang.
„Ich und alle anderen, die mit diesem Fall betraut sind, glauben, dass Sie sich Ihren Arm selbst abgeschnitten haben. Das dazu passende Messer lag sogar noch in Ihrem Zimmer. Wir gehen davon aus, dass Sie aufgrund des andauernden emotionalen Stresses aus Studium und ihrer schwierigen privaten Situation einen Zusammenbruch immer näher kamen. Sie suchten einen Ausweg ... irgendeinen ... . Sie bewaffneten sich, aber anstelle Ihres blöden Bruders, den Sie zweifelsohne mit einer Schrottwaffe bedroht hatten und anscheinend sogar mehrmals abdrücken wollten, richtete sich Ihr verzweifelter Hilferuf nun gegen sich selbst. Der Nachbar über Ihnen sprach von einem großen Lärm mitten in der Nacht, so als wären Sie gegen alle Wände gesprungen. Wenn Sie meine Meinung hören wollen, ich glaube, Sie haben Ihren Arm mit dem Messer allein nicht durchtrennen können, weswegen Sie so lange damit gegen die Wände schlugen, bis er an einer Stelle brach. Den Rest erledigten Sie dann mit dem Messer.
Ich kann Ihre Verzweiflung nachvollziehen, die Sie zu dieser Wahnsinnstat verleitet hat, aber eine Riesendummheit ist nun mal eine Riesendummheit. Bleibt zu hoffen, dass Ihnen zumindest jetzt geholfen wird - von wem auch immer. Aber Sie müssen auch meine Lage verstehen und deswegen noch einmal: Ich bitte Sie, wo ist der Rest Ihres Arms?“
„Bei meinem Bruder in seinem Zimmer“, gab ich mit fester Stimme zurück. Ich wusste zwar nicht, in welchem Zustand der Arm nun war, aber dennoch sprach ich nichts als die Wahrheit, und diese Tatsache ließ auf meinen Lippen ein kleines Lächeln erscheinen.
„Na gut“, sagte der Mann schließlich, wobei er resigniert beide Arme von sich warf.
„Dann werde ich bei Ihrem Bruder noch einmal nachfragen müssen. Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie noch einmal aufsuche, wenn ich noch weitere Fragen habe oder ...“
Den Rest bekam ich nicht mehr mit. Das kurze Gespräch und die Fragerei hatten mich sehr geschwächt und die Informationen, die ich erhielt, waren für mein Gehirn wohl zu viel gewesen, weswegen es das Licht ausschaltete.
Als ich wieder erwachte, war es schon dunkel draußen. Dann wurde Licht gemacht und eine Krankenschwester entschuldigte sich unnötigerweise, mich geweckt zu haben. Ich nickte nur und dachte noch einmal über das heutige Gespräch mit dem Polizisten nach. Unter dem Verband juckte mein Arm unaufhörlich. Als ich mit dem anderen Arm, den ich nun wieder besser bewegen konnte, daran kratzte, wurde ich auch sogleich von der Schwester lautstark ermahnt, damit aufzuhören. Das Jucken war so heftig, dass es mich von meinen geliebten Träumen fernhielt. Die Realität zwang sich mir ungebremst auf und ich hatte keine Lust auf sie.
Wie langweilig der Polizist heute doch gewesen war. Mit etwas Fantasie wäre er der Wahrheit schon auf die Sprünge gekommen. Na ja, dafür bekam er ja nun eine zweite Chance. Wenn er es schaffte, in das Zimmer meines Bruders zu gelangen, dann … ja, was eigentlich? Was würde er finden? Ehrlich gesagt wusste ich es in diesem Moment selbst nicht so genau. Stattdessen kamen mir die Worte des Mannes wieder schreckhaft in den Sinn. Sie plagten mich fast mehr als mein juckender Armstumpf, der allein mich schon fast wahnsinnig machte.
Arm selbst abgetrennt ... völlig verzweifelt ... was für ein Schwachsinn. So was kann auch nur einem Bullen einfallen. Was für eine lächerliche Antwort auf eine Frage, die zu stellen er sich wohl nicht traute, weil er einfach zu feige oder zu faul oder zu ...
Tränen stiegen mir in die Augen, die ich schnell unterdrückte. Auf keinen Fall wollte ich, dass mich die Krankenschwester weinen sah.
Als sie meinen Blick bemerkte, schien sie für einen Moment in Gedanken zu sein. Dann sagte sie mir kurz und bündig, dass mein Bruder vor einigen Stunden versucht hatte, mich zu besuchen, aber da ich seelenruhig schlief, er nicht zu mir gelassen wurde.
Stattdessen habe er aber einen Brief abgegeben, welchen ich so schnell wie möglich lesen sollte. Sie hätte ihn bereits auf meinen Nachtschränkchen gelegt.
Für mehrere Minuten würdigte ich den Brief keines Blickes. In der Tat war er mir fast gleichgültig. Die Worte des Polizisten strapazierten wieder mein Gehirn. Warum war er nur so selbstgefällig gewesen? Niemand wusste alles. Und mich als verzweifelt zu beschreiben ging nun wirklich zu weit. Bei meiner Universität wurde sogar ein Kurs angeboten, wie man Lernen und Privates in Einklang bringen und mit seinen Problemen besser klarkommen konnte. Selbstlernkurs hieß er. Leider war er freiwillig und ich war insgesamt nur einmal da gewesen, aber immerhin, und außerdem war ich auch gar nicht der Typ, der so leicht den Kopf oder den Verstand verlor und zu riesigen Dummheiten neigte. Oder doch?
Ich blickte einmal kurz nach links und nahm mit einer gleichgültigen Handbewegung den Brief an mich. Irgendetwas stimmte damit nicht, denn meine Hand wurde sogleich klebrig, nachdem ich ihn darin hatte. Er war nicht zugeklebt und so konnte ich mit wenig Mühe das einzige Blatt Papier daraus entnehmen.
Als ich ihn mir vor Augen hielt, stieg mir widerlicher Gestank in die Nase. Zudem bemerkte ich mehrere rote Tropfen sowie Schleim, der nun meine linke Hand hinuntertropfte.
Mit einem Blick auf das kaum zu entziffernde Gekrakel, das durch den Schleim oder Speichel oder was auch immer nur schwer zu entziffern war, wusste ich auf der Stelle, was in dem Brief stand, ohne ihn auch nur ein einziges Mal gelesen zu haben; was ich allerdings kurz darauf Dutzende Male hintereinander tat. Im Brief stand wortwörtlich:

halo ge nich zu bolizei un sag nieman etwas. Tut mir leit mit die arm wenn du ihn widerhaben willst lege ich ihn in dein zimma. Er is aber gans abgenagt. Habe das jetzt beser im grif. Bin kein gefar mer. Sage nieman. Ansonsten hase ich dic un du bis nich mehr mein bruda

 

Hallo jonni500,

das ist jetzt schon die dritte Version deiner Geschichte und ich frage mich ernsthaft, warum du nicht von Anfang an jeweils die erste Version einfach überarbeitet hast, anstatt hier immer neue Versionen einzustellen.
Die ganze bisherige Arbeit der Kommentatoren geht so doch nur verloren und ich persönlich habe keine Lust, mir immer das (fast) gleiche durchzulesen und zum wiederholten Male zu kommentieren, ohne zu wissen, was du am Text überhaupt überarbeitet hast.

Wäre schön, wenn du das beim nächsten Mal berücksichtigst. Danke und einen schönen Restsonntag.

Beste Grüße,
GoMusic

 

Hallo Go Music,
Ich war ein paar Wochen verreist gewesen und hatte Tserk geschrieben, dass er die Geschichte deswegen löschen kann und ich sie eventuell ein paar Wochen später erneut reinstelle. Darauf gab es keine Antwort, weswegen ich dachte, dass das in ordnung wäre. Nächstes Mal werde ich die Geschichte ausschließlich im Korrekturzentrum korrigieren.

Viele Grüße

Jonni500

 

Hallo jonni!

Du würdest sicher mehr Kommentare bekommen, wenn du einerseits auf Kommentare auch antworten (sonst denken wir Kommentatoren, dass dir unsere Kritik am Arsch vorbeigeht) und andererseits selbst auch Kommentare zu Texten anderer schreiben (Geben und Nehmen. Das kennst du sicher?) würdest.

Zu diesem Text: Wie auch schon zu deinen anderen Texten geäußert wurde, solltest du kürzen. Sehr viel kürzen! Bring die Dinge, die du erzählen möchtest, auf den Punkt. Sonst fangen die Leser an, sich zu langweilen und springen ab.

Allgemein rate ich dir auch kürzere Sätze an. Die lesen sich meist viel besser.

Dann: Show, don't tell. (Wenn du nicht weißt, was das bedeutet, dann googel dir das.) Hierbei ist es natürlich megawichtig, die richtigen Dinge zu zeigen.

Beispiel: Ist eine Diskussion um Zahnpasta wirklich wichtig für den Text? Kann das nicht raus? Und wenn nicht, muss es Show sein oder reicht Tell?

So, das waren ein paar Tipps zum Anfang. Mach was draus!

Grüße,
Chris

 

Hallo Chris Stone,
danke für deinen Kommentar. Natürlich hast du recht mit dem Antworten. Leider wurde bis jetzt jede einzelne Geschichte von mir direkt ins Korrekturzentrum verbannt. Ich dachte von dort aus könne man gar nicht antworten, ansonsten hätte ich es sicherlich getan. Das mit der Zahnpasta würde ich eigentlich drinnen lassen, da es einiges über die Brüder aussagt und es nur ein kurzer Dialog ist. Go Music nannte diese Stelle sogar die Spreu unter jeder Menge Weizen oder so ähnlich. Ansonsten ließ er aber kaum ein gutes Haar an der Geschichte. Es ist also geschmackssache. Ich würde aber doch eher an anderer Stelle kürzen.


Viele Grüße
Jonni

 

Hallo jonni!

Auf deiner Geschichtenliste stehen (mit diesem) doch ganze vier Texte, sonst hätte ich das mit dem Nicht-antworten auch gar nicht gewusst (aus dem KC wird ja nach vier Wochen gelöscht).

Klar ist vieles Geschmackssache. Probier doch einfach mal aus, deine Texte zu überarbeiten, zu kürzen usw. Dabei lernt man vieles, vielleicht findest du Gefallen an der neuen Version? Probier es einfach mal aus.

Grüße,
Chris

 

Hola jonni500,

zufällig begegne ich dieser Stelle in Deiner Antwort an Chris Stone:

Das mit der Zahnpasta würde ich eigentlich drinnen lassen, da es einiges über die Brüder aussagt und es nur ein kurzer Dialog ist. Go Music nannte diese Stelle sogar die Spreu unter jeder Menge Weizen oder so ähnlich.

Es sieht so aus, als ob Dir diese Redensart ‚die Spreu vom Weizen trennen’ nicht geläufig ist.
Das soll heißen, Wertloses von Wertvollem trennen – also Spreu (Spelzen, Hülsen usw.) vom guten Weizenkorn (nach dem Dreschen) zu trennen. Spreu ist Abfall.

Freundlicher Gruß

José

 

Nächstes Mal werde ich die Geschichte ausschließlich im Korrekturzentrum korrigieren.

Bitte nicht, lieber Jonni!

Das Forum ist dafür da, dass du deine Geschichten korrigierst und überarbeitest. Und das immer - außer dir ist eine ganz besonders gute, oder außergewöhnlich schlechte, gelungen. Das Korrekturcentrum ist hingegen ein Ort für besonders fehlerbehaftete Geschichten. Nur weil eine Geschichte im Kurzgeschichtenforum ist, heißt es nicht, dass sie schon gut ist. Manchmal finden sich sogar ganz besonders grauenhafte Geschichten hier im KG-Forum, welche sich aber zu richtig guten entwickeln. Weißt du warum? Weil sie überarbeitet werden. Und das meistens in einem wechselseitigen Prozess zwischen Autoren und Kritiker.

Was solltest du also nun als erstes machen?
Deine ganzen Geschichten anschauen und die unbeantworteten Post seitens der Kritiker beantworten. Und dann googlest du nach 'show don't tell' und überlegst, wie du das in dieser Geschichte umsetzen kannst.

Ich zeige dir ein Beispiel, was ich zeigenswert finde.

Zugegeben, wir redeten stets wenig miteinander, seit er in die Wohnung unserer Eltern zurückgezogen war, in der ich alleine lebte und auch hoffte, weiterhin allein leben zu können.
Unsere Eltern waren vor mehreren Jahren nach Spanien gezogen, und als mein Bruder ihnen schrieb, dass sein Geld zu neige ging und er sich kaum noch seine Miete leisten konnte, kamen sie auf eine Idee, die ihre beiden einzigen Kinder wieder näher zusammenbrachte. Mein Bruder, immerhin vier Jahre älter als ich - zeigte von Anfang an, wer nun wieder das Sagen hatte und nach mehreren teils heftigen Streitereien, sprachen wir nur noch das Nötigste miteinander. Meist ging es dabei ums Aufräumen. Auch wenn ich nicht der sauberste Mensch bin, so spielt mein Bruder in einer ganz anderen Liga.
Schmutz scheint er nicht einmal zu bemerken, der widerlichste Gestank ist für ihn noch erträglich und mehrere Horden Fliegen, die ihn beim Essen machen umkreisen und in sein Essen scheißen, stören ihn nicht weiter. Sobald das Klo durch mich besetzt war, hielt er es nie lange aus und seiner Notdurft entledigte er sich in seinem Zimmer in eine Tüte. Der ekelerregendste Gestank kam aus seinem Zimmer, zusammengestellt aus Essensabfällen, Schimmel und Fäkalien, weswegen ich mich zumindest in einem Punkt lautstark durchgesetzt hatte: Die Tür seines Zimmers musste stets verschlossen sein.

Hier erzählt der Protagonist dem Leser, dass das Verhältnis zu seinem Bruder beschissen ist - und er liefert gleich noch nette Beispiele. Das finde ich nicht schlecht. Besser fände ich fast noch: zeige uns die Szenen. Lass uns teilhaben an der lautstarken Auseinandersetzung, wo sich der kleinere Bruder durchsetzt. Mit Dialogen, mit Gefühlen, mit Dynamik. Ich will ja eine Geschichte lesen, nicht nur ein Bericht. Verstehst du?

Interessanterweise ist es so, dass eine Szene meist mehr zeigt, als drei Erzählungen. Will heißen: die Auseinandersetzung reicht und du kannst schon viel TELL über die Brüder und deren Beziehung streichen. Denn auch Charaktereigenschaften werden durch eine Szene deutlich.

Zugegeben, das war ein recht simples Beispiel. Aber vielleicht hat es dir etwas geholfen. Denn Texte ändern kann tatsächlich spaß machen und du wirst sehen, dass sich noch mehr Leute um deinen Text kümmern werden, wenn sie merken, dass du sie ernst nimmst.

Beste Grüße,

sonne

 
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Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:

Hallo schwarze Sonne,
vielen Dank für deine Antwort. Ich finde dein Beispiel sehr gut gewählt. Ich werde mich mal daran versuchen, einige Stellen zu ändern und natürlich zu kürzen. Der Text ist ohnehin ziemlich lang und ich danke dir, dass du dir die Mühe gemacht hast.

Viele Grüße
Jonni


Hola Josefelipe,
gracias por su respuesta. Du hast recht, ich habe das Zitat falsch wiedergegeben und wahrscheinlich auch immer falsch verstanden gehabt. Danke für die Aufklärung.

Hasta la proxima
jonni

 

Hallo jonni500,

ich hätte deine Geschichte gerne gelesen, aber deine Sätze sind zu lang und zu verdreht, es ist geradezu anstrengend. Hier zwei Beispiele:

Vielen meiner Kommilitonen ging es genauso und einer unserer Dozenten meinte, dass dies ganz normal sei, da der Abschluss des Studiums immer näher rückte, weswegen man jetzt bloß keinen Fehler mehr machen wollte und die Wahrscheinlichkeit deshalb gerade stieg, ihn doch zu tun.

Warum ist das für die Geschichte wichtig, was eine Dozentin sagt? Warum steigt die Wahrscheinlichkeit, einen Fehler zu machen, wenn man bloß keinen machen will? Das ist eine etwas schwer zu greifende Logik, in jedem Fall aber Geschwafel. Kürze radikal jedes Wort, dass nicht wichtig ist.

Angewidert war ich in mein Zimmer gerannt, welches seinem schräg gegenüberliegt und am nächsten Tag brachte ich ihm mehrere neue Insektensprays, die die Viecher in Schach hielten und auch mehrere von ihnen töteten, wie er mir sagte.

Hier musst du unbedingt zwei Sätze daraus machen, da ein zeitlicher Abstand vorliegt. Die Funktion von Insektensprays sollte bekannt sein.

Tut mir Leid, wenn dies hier kein wirklich qualifizierter Kommentar ist, da ich die Geschichte nur begonnen habe zu lesen. Dennoch dachte ich mir, dass es dich vielleicht interessiert, warum ich das Lesen abgebrochen habe. Lass dich nicht entmutigen! Du machst hier sicher vielen eine Freude, wenn du die Geschichte noch einmal grundlegend überarbeitest. Sobald dies geschehen ist, werde ich wieder einen Blick riskieren.

Viele Grüße

Ephraim

 

Hallo Ephraim,
vielen Dank für deine Antwort. Du hast völlig recht mit den zu langen Sätzen. Ich versuche das wirklich zu verbessern. Ich finde es auch sehr gut, dass du die beiden Stellen markiert hast, die dir besonders negativ aufgefallen waren. Denn auch ich finde sie fürchterlich und habe sie jetzt gestrichen. Auch andere Stellen habe ich gekürzt oder gestrichen, in denen einfach zu viel geschwafelt wurde. Wahrscheinlich werde ich noch weiter kürzen. Ich freue mich wirklich über deine anschauliche Kritik, da ich jetzt weiß, wo ich am besten ansetzen kann.


Beste Grüße
Jonni

 

Tagchen

Also ich habe mir mal die Mühe gemacht und deine - doch ziemlich lange - Geschichte gelesen.

Gleich zu Beginn: Ich werde hier nicht detailliert auf jeden meiner Kritikpunkte eingehen, weil - wie schon gesagt - die Geschichte wirklich ziemlich lang ist und ich nicht von Anfang an mitgeschrieben habe. Nimms mir nicht übel ;).

Meinen Vorrednern muss ich auf jeden Fall rechtgeben. Viele Sätze finde ich auch zu lang und verschachtelt und ich musste häufig ganze Abschnitte von vorn anfangen, weil ich irgendwann den Faden verlor. Ab und zu hast du - glaube ich - ein "nicht" oder "kein" vergessen, hier und da fehlt mal ein Komma und allgemein klingt deine Sprache oft holprig. Denke jedoch, dass sich das mit mehr Übung in den Griff bekommen lässt

Nun zum Inhalt: Der Text hat einige Plotholes. Wieso haut der Protagonist nicht einfach ab? Ich glaube kaum, dass irgendjemand freiwillig in einer Wohnung bleiben würde, in der solche Zustände herrschen. Der einzige Grund, den ich gefunden habe, der gegen das Verlassen der Wohnung spricht, wäre die Hausarbeit, die fertig geschrieben werden musste. Aber das ist dann doch eher ein dürftiger Grund.
Zweitens: So wie du die Zustände in der Wohnung schilderst, kann es doch eigentlich nicht möglich sein, dass die Polizisten, die in die Wohnung kommen und dem Protagonisten die Waffen abnehmen, nichts von allem mitbekommen.
Ich finde, dass viele Horrorgeschichten unter Plotholes leiden. Besonders Filme. Häufig würde die kleinste Veränderung im Verhalten aller Beteiligten schon ausreichen, um die ganze Geschichte nichtig zu machen und der Situation zu entkommen. Trotzdem sollten die offensichtlichsten und allgemeinsten geschlossen werden, sodass das Gesamtpaket wenigstens etwas glaubwürdig rüberkommt.

Etwas Lob habe ich aber trotzdem noch dabei ... Ich finde, dass du - wenn man über sämtliche überflüssige Informationen und Stellen, die gekürzt werden könnten, hinwegsieht - die Verwandlung des Bruders in eine Kakerlake recht gut dargestellt hast. Das veränderte Verhalten, das immer absurder wird. Die anfangs etwas widerlichen Stellen, die sich immer mehr zum Abscheulichen entwickeln. Die ganze Sache passiert nicht von jetzt auf gleich, sondern schrittweise und wirkt sogar - wenn man es so sagen kann - beinahe realistisch. Auch die Geräusche, die der Protagonist hört, erst selten, dann immer häufiger, fand ich gut.
Du hast da einige gute und durchaus unterhaltsame Ansätze drin, also lass dich nicht vollkommen unterkriegen, und immer schön weitermachen.

lg, zash

 

Hallo Zash,
Danke für deinen Kommentar. Ich freue mich sehr, dass du die Geschichte bis zum Ende durchgehalten hast. Sie ist doch ziemlich lang. Großes Kompliment und vielen Dank dafür. Ich habe sie jetzt (auch wegen deiner netten Rückmeldung) um ungefähr drei Seiten gekürzt.

Zu den Plotholes: Der Protagonist könnte natürlich auch abhauen und alles hinter sich lassen. Wenn er wüsste, wohin. Er will sein zuhause aber nicht so schnell aufgeben. "My home is my castle" oder so ähnlich. Nach der grausigen Entdeckung will er ja auch eher seinen Bruder loswerden. Er hofft auf die Hilfe der Polizei und bewaffnet sich. Vielleicht wäre er einen Tag später wirklich abgehauen, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Ohne Waffen macht das Ganze ja auch keinen Spaß.;)

Der Protagonist fleht die Beamten ja auch an, in das Zimmer seines Bruders zu gehen. Da er sich zuvor aber sehr merkwürdig benommen hat, wird er nicht mehr ernst genommen. Er sprach davon, dass sein Bruder einen Eisbären gefressen hat und eine Kakerlake ist. Zudem ist er hysterisch und hat seinen Bruder mit einer Waffe bedroht. Die Aufmerksamkeit galt deswegen viel mehr ihm, als seinem Bruder.

Natürlich kann man das aber auch anders sehen.

Nochmals vielen Dank fürs Lesen und einen schönen Abend

Jonni

 

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