Was ist neu

Die Schnecken

Mitglied
Beitritt
16.09.2016
Beiträge
9
Zuletzt bearbeitet:

Die Schnecken

Man hatte mir gesagt, dass E. gestorben sei, aber keiner wusste, wie und warum.

Ich kannte E. aus der Schule, sie war immer sehr nett und zurückhaltend gewesen. Einmal haben wir Schnecken gesammelt und sie in einen Schuhkarton voller Gras gesetzt. Wir haben den Schnecken Namen gegeben und Wettrennen mit ihnen gemacht. In den Deckel des Schuhkartons haben wir Löcher gebohrt, und dann haben wir ihn auf dem Pausenhof versteckt. Am nächsten Morgen war der Karton umgekippt und alle Schnecken waren tot. Jemand hatte sie zertreten. Sie waren nur noch gelbe Splitter und grauer Schleim. Wenn man auf Schnecken tritt, macht es ein kleines, schönes Geräusch, als würde man auf einen Keks beißen.

Wir hatten einen Jungen in der Klasse, der anderen Kindern für die kleinen Heiligenbilder, die uns die alte Religionslehrerin gab, seinen Penis zeigte. Er war evangelisch, und die evangelische Religionslehrerin verschenkte keine Heiligenbilder. Die katholische Lehrerin war eine alte Nonne, die kaum noch laufen konnte. Sie hieß Schwester Gloria und hatte einen schwarzen Schleier, der weit über der Stirn ansetzte, so dass man ihre grauen Haare sehen konnte. Mit jedem Schuljahr wurden ihre Haare weniger und am Ende war sie fast kahl. Dafür bildeten sich lauter rote Krusten auf ihrem Kopf, und wenn sie sich kratzen musste, verrutschte ihr Schleier, und sie musste ihn abnehmen und neu aufsetzen. Früher war sie dafür vor die Tür gegangen, und die Schüler hatten die Zeit genutzt, um sich mit Papierkugeln zu bewerfen. Später war es ihr egal gewesen, dass wir sie ohne Haube sahen, und sie hatte sie vor der Klasse ab- und wieder aufgezogen. Die Heiligenbilder verteilte Schwester Gloria an besonders brave oder fleißige Schüler, weil sie am Ende aber nichts mehr sah und hörte und deswegen nicht mehr beurteilen konnte, wer brav und wer fleißig war, legte sie sie einfach auf den Tisch und jeder konnte sich nehmen wie viele er wollte. Wir haben gedacht, dass man in Klöstern mit Heiligenbildern bezahlt, und als wir Schwester Gloria einmal fragten, welche Heiligenbilder denn wie viel wert seien, wusste sie nicht, wovon wir reden, und dann verschluckte sie sich und musste husten und ihr Schleier verrutschte und alle lachten sie aus und die alte Schwester Gloria nahm ihren verrutschten Schleier ab und setzte ihn sich mit zittrigen Fingern wieder auf.

Die evangelischen Kinder waren sehr neidisch auf uns, denn sie hätten auch gerne solche schönen Heiligenbilder gehabt. Die Bilder waren sehr bunt, und auf der Rückseite standen merkwürdige Texte, die wie Zauberformeln klangen. Heiligenbildchen waren Macht: je mehr Heiligenbildchen man besaß, desto mehr Freunde hatte man. In unserer Klasse entstand also ein Tauschhandel, auf dem die evangelischen Kinder ihren ganzen Besitz hergaben, um unsere Heiligenbilder zu bekommen. Da es mehr evangelische als katholische Schüler gab, war die Nachfrage größer als das Angebot, und so konnten die katholischen Kinder beinahe alles von den evangelischen verlangen. Irgendwann wollte ein katholisches Mädchen wissen, wie ein Junge untenrum aussähe, und weil keiner es ihr zeigen wollte, kam sie auf die Idee, die evangelischen Jungen mit ihren Heiligenbildern zu bestechen. Einer ging schließlich mit ihr in ein Gebüsch und kam mit einer Hand voll Maria Magdalenas und heiliger Antons wieder heraus, und weil ihn diese leichte Methode, Heiligenbildchen zu verdienen, begeisterte, machte er schließlich ein Geschäft daraus. Bald standen alle bei ihm Schlange, erst nur die Mädchen, dann aber auch die Jungen, neugierig gemacht von den kleinen Schreien, die sie aus den Gebüschen hörten, und sogar die Evangelischen gaben ihre mühsam erworbenen Heiligenbildchen her, um einen Blick auf den Penis ihres Klassenkameraden werfen zu dürfen. E. und mir war der Penis irgendeines kleinen Jungen lange egal gewesen, aber schließlich ließen wir uns doch mitreißen und durften nach erfolgter Bezahlung in das besagte Gebüsch vordringen. In dem Moment, in dem der Junge seine Hose in die Kniekehle rutschen ließ, fand uns eine Lehrerin und schickte uns zum Direktor. Der Direktor war außer sich und schimpfte mit uns und war dabei ganz rot, und der Junge weinte wie verrückt und bat ihn, nichts seiner Mutter zu erzählen, und der Direktor sagte, dass könnte ihm so passen, und wir sollten froh sein, dass er uns nicht der Schule verweise, und dann mussten wir nachsitzen. Ich weiß nicht, was später aus dem Jungen wurde, aber irgendjemand sagte mir, er habe als Erwachsener Selbstmord begangen.

Später gingen E. und ich auf andere Schulen, aber wir blieben miteinander in Kontakt. E. war eine sehr gute Schülerin, sie gewann alle Preise ihres Gymnasiums und spielte Querflöte im Schulorchester. Ich war gut in Biologie und in sonst gar nichts. Einmal sollten wir Frösche sezieren, da musste ich mich übergeben und war danach auch den Respekt der Biologielehrerin los. Wir machten beide im selben Jahr Abitur und beschlossen dann, gemeinsam zu studieren, und wir bewarben uns beide an derselben Universität, und wir bekamen beide Plätze, und wir zogen zusammen in dasselbe Studentenwohnheim. E. studierte Psychologie, ich studierte Umwelttechnologie, weil ich dafür ein Stipendium bekam, aber es interessierte mich nicht. Nach zwei Semestern wechselte ich zu Theologie, weil meine Großmutter gestorben war und ich dachte, dass Gott mir hilft, mein Leben hinzukriegen, wenn ich mehr Zeit mit ihm verbringe. Meine Großmutter war eine sehr liebe alte Frau gewesen, sie war das einzig Liebe, an das ich mich in meiner Familie erinnern kann. Meine Mutter, ihre Tochter, war dürr und hässlich, meine Großmutter aber war dick und schön. Sie hatte sich nicht viel um meine Mutter gekümmert, als sie jung war, und deshalb war meine Mutter zu einer verbitterten Frau geworden, die sich noch vor meiner Geburt von meinem Vater scheiden ließ und ihm verbot, mich jemals zu sehen, und da ihm das alles egal war, willigte er ein. Außerdem hatte mein Großvater meine Mutter missbraucht, und dass hatte meine Großmutter nicht gestört, weil sie ihren Mann sehr liebte und dachte, dass er schon wisse, was er tue. Mit der Zeit wurde sie aber eifersüchtig auf meine Mutter, weil mein Opa viel lieber mit seiner Tochter schlief als mit ihr, und darum hatte sie meiner Mutter das Leben schwer gemacht. Schließlich war mein Großvater gestorben, meine Mutter wurde schwanger, meine Oma bekam ein schlechtes Gewissen und zog zu meiner Mutter. An mir holte sie alles nach, was sie bei ihrer Tochter versäumt hatte, sie beschenkte mich und küsste mich und bekochte mich von morgens bis abends, und deshalb wurde meine Mutter eifersüchtig auf mich und machte mir wiederrum das Leben schwer. So wiederholt sich die Geschichte, und ich bin froh, dass ich keine Tochter habe, sonst müsste ich auch auf sie eifersüchtig sein und ihr das Leben zur Hölle machen. Als meine Oma starb, schmiss meine Mutter ihre alten Sachen aus dem Fenster und lachte dabei, und als ich mit ihr sprechen wollte schlug sie mir ins Gesicht. Danach haben wir nie wieder über meine Oma gesprochen, als hätte sie nicht existiert. Ich denke, dass das der Grund ist, warum ich unbedingt Gott auf meiner Seite haben wollte, um jemanden zum Sprechen zu haben über meine Oma und um zu wissen, dass sich irgendjemand für mich interessiert. Das klingt sehr kitschig und sentimental, und bald musste ich auch feststellen, dass bei Gott nicht allzu viel zu holen war, also ging ich zu E., die ja immerhin Psychologie studierte, und erzählte ihr ein bisschen von meinen Sorgen, weil sie aber so höflich und zurückhaltend war, sagte sie mir nicht viel dazu und wechselte das Thema.

E. gelang ihr Studium sehr gut, wie ihr alles gelang, was sie sich vornahm, obwohl sie so zart war und eigentlich ein richtiger Niemand. Keiner von uns beiden war schön, aber ich viel wenigstens auf, weil ich so dick war. E. wurde von allen ignoriert, sie war unsichtbar, selbst ihre Professoren schienen sie nicht zu bemerken, wenn sie ihr ihre Preise und Urkunden überreichten. Sie war wie ein Phantom, das existieren muss, um die Durchschnittsnote der Klausuren in die Höhe zu treiben. Sie war die Quoten-Eins in den Akten des Unipersonals. Mehr war sie nicht.

Das Zimmer, das wir uns teilten, war klein, aber schön. Wir wohnten das erste Mal weit weg von Zuhause, und während ich jubilierte, war E. oft sehr traurig und hatte schreckliches Heimweh. E.s Eltern waren sehr nette und kultivierte Menschen, ihr Vater war Chemiker in einer kleinen Fabrik und ihre Mutter war Klavierlehrerin an der Musikschule unserer Heimatstadt. Eigentlich hatte ihre Mutter Archäologie studiert, und sie hatte als junge Frau lange im Orient gearbeitet, und deshalb war das Haus voller Reproduktionen sumerischer Altertümer und Fotografien orientalischer Landschaften. Ein guter Freund von E.s Vater war auch Archäologe gewesen, und er hatte ihn einmal mitgenommen zu seinen Forschungsreisen in den Irak, und dort hatte er dann seine zukünftige Frau kennen gelernt, und weil sie ihren Beruf nicht aufgeben wollte, hatten sie sich ein kleines Haus in der Nähe von Bagdad gebaut und arabisch gelernt, und dort lebten sie, und E.s Mutter arbeitete weiter in den Ausgrabungsstätten und E.s Vater unterrichtete Chemie an einer englischen Schule in Bagdad, und irgendwann wurde E.s Mutter dann schwanger, und das junge Ehepaar entschloss sich, nach Deutschland zurückzukehren, weil ein kleines Kind es dort leichter haben würde als in der arabischen Wüste. In Deutschland wollte E.s Mutter nach der Geburt an einer Universität arbeiten, aber weil sie genau so zart und zerbrechlich war, wie ihre Tochter es später sein sollte, war sie, nachdem sie E. auf die Welt gebracht hatte, sehr lange sehr krank gewesen, und entschied sich schließlich, Musikstunden zu geben. Oft hatten E.s Eltern große Sehnsucht nach dem Orient, und dann setzten sie sich an einen niedrigen arabischen Tisch und tranken arabischen Tee und aßen klebrige arabische Süßigkeiten und erzählten ihrer Tochter von ihren Abenteuern in der Wüste. Danach blickten sich alle liebevoll an und umarmten sich, und dann gingen E.s Eltern in ihr Schlafzimmer und lasen in dicken Büchern über wichtige Themen, und E. baute sich in ihrem Zimmer ein Zelt aus ihrer Bettdecke und stellte sich vor, wie der Wüstensand ihre Füße kitzelt.

Nach dem Studium arbeitete ich als Religionslehrerin, und ich musste dabei immer an Schwester Gloria und ihre Heiligenbilder denken, und ich hätte auch gerne welche verteilt, wusste aber nicht, wo ich so viele herbekommen sollte. Ich erzählte meinen Schülern Geschichten aus der Bibel, und sie hörten mir nicht zu, und ich schrieb ihnen schlechte Noten ins Heft, und so ging es jahrelang weiter.

E. schrieb lange an ihrer Doktorarbeit und kurz bevor sie sie fertigstellte lernte sie einen jungen Mann kennen, mit dem sie schlief und von dem sie schwanger wurde, und dann verließ er sie. E. kam zu mir und erzählte mir das alles und dass sie Angst hätte irgendetwas zu machen und nicht wüsste was und wie, und dann schickte ich sie zu einem Kollegen, der Biologielehrer war und eigentlich Medizin studiert hatte und der kostenlos Abtreibungen in seiner Wohnung vornahm. Er hatte mir davon erzählt, als ich ihn in meine Religionsklasse eingeladen hatte, um über die Evolution zu reden. Er dachte wahrscheinlich, dass wir jetzt Freunde wären, und als ich mit ihm danach ins Lehrerzimmer ging, hatte er mir sein ganzes langweiliges Leben erzählt, dass er sein Medizinstudium abgebrochen habe, dass seine Frau ihn verlassen habe, dass seine Mutter noch lebte und dass er sie hasste, und dass er Abtreibungen vornähme, umsonst, aus Güte. Er hatte mich auch gebeten, Werbung für ihn zu machen, und ich dachte mir, warum nicht, jeder braucht ein Hobby. E. bat mich mitzukommen, und ich wartete vor der Wohnungstür, als der alte, kleine, glatzköpfige und stinkende Biologielehrer mit E. in sein Badezimmer ging. Ich musste sehr lange warten, und als ich begann, mir Sorgen zu machen, öffnete sich die Tür und E. kam raus, ganz langsam und bleich und mit Tränenspuren auf den Wangen. Sie sprach kein Wort, und ich ging neben ihr her, bis sie auf einmal in Tränen ausbrach und sagte, dass der Biologielehrer ihr zwar das Kind weggemacht habe, aber erst, nachdem sie mit ihm geschlafen hatte. Jetzt wusste ich natürlich, warum der fette Biologielehrer so gerne kostenlose Abtreibungen machte, und ich dachte mit Bedauern an all die armen Frauen, die ich zu ihm geschickt hatte, vor allem Kolleginnen.

Ich sagte E., dass sie ihn anzeigen könnte, aber sie sagte nichts mehr. Am nächsten Tag brach sie ihre Doktorarbeit ab und zog in eine andere Stadt, zu einer Schwester ihrer Mutter. Ich habe sie nie wieder gesehen.

Jetzt, da ich wusste, dass sie tot ist, wollte ich die genaueren Umstände ihres Lebensendes erfahren, und ich fuhr zu ihrer alten Adresse, aber ihre Eltern lebten dort nicht mehr, und ich wusste natürlich nicht, wo ich sie suchen sollte. Also schlug ich im Telefonbuch nach, um die Telefonnummern irgendwelcher Verwandten zu finden, und tatsächlich fand ich eine Nummer, die ihren Eltern zu gehören schien, aber als ich anrief, waren es andere Leute. Ich rief also noch einmal die alte Studienkollegin an, die ich im Supermarkt getroffen hatte und die mir von E.s Tod erzählt hatte, und fragte sie, von wo sie denn wisse, dass E. tot sei. Da sagte sie mir, dass sie eine Totenanzeige in der Zeitung gesehen habe. Ich fragte sie, wann die Beerdigung sei, und sie sagte mir, die wäre vor zwei Tagen gewesen. Dann sagte sie mir noch, wo ich das Grab finden könnte, und ich legte auf.

Am nächsten Tag ging ich zum Friedhof und fragte den Friedhofswärter nach E.s Grab. Er zeichnete mir den Weg auf einer Mappe ein. Der Friedhof war sehr groß und voller alter, hoher Bäume, sodass er eher wie ein Wald wirkte, und ich verlief mich mehrere Male, bis ich E.s Grab fand. Es war noch frisch, und nur ein kleines Holzkreuz markierte es. Lauter Blumenkränze lagen auf der aufgeworfenen Erde. Die Blumenkränze waren schon am Verfaulen, denn es war in den letzten Tagen immer abwechselnd feucht und heiß gewesen. Es waren vor allem Lilien und Rosen. Die Lilien verbreiteten einen starken, süßen Geruch. Am Rand waren die weißen und rosa Lilienblüten schwarz angelaufen. Es sah aus, als hätte jemand Tinte über sie gekippt. Ich begann, die Inschriften auf den Schleifen zu lesen. Überall stand: „Ruhe in Frieden“, „In liebevollem Andenken“ oder „Ruhe sanft“. Keiner hatte sich für E. etwas einfallen lassen. Dann las ich die Namen der Spender. Ich kannte keinen einzigen. Die Namen ihrer Eltern waren nirgends zu finden. Sie mussten wohl schon gestorben sein. Ich war erstaunt, wie viele um E. trauerten. Sie muss viele Freunde gehabt haben. Ich fand es schön, dass sie sich in ihrer Heimat begraben lassen hatte.

Das Leben hatte sie wohl zertreten, wie eine unserer Schnecken.

 

Hi Linka,

und herzlich willkommen hier. Es freut mich sehr, dass du trotz deines Neuseins so gut schreibst. Mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen, weil sie mich berührt hat. Sie ist unterhaltsam und enthält viel Liebe zum Detail, viele kleine Perversionen, viele Überlegungen, die sie lebendig wirken lassen, obwohl es sich um eine Erzählung handelt, die wohlbemerkt gänzlich ohne Dialoge auskommt.

Ich habe tatsächlich nichts auszusetzen. Dein Schreibstil ist genau mein Ding.

Obwohl der Text ziemlich lang ist, enthält er kaum Fehler, was mich dazu animiert, die paar wenigen aufzuzeigen, die ich dann doch gefunden habe.

und dass hatte meine Großmutter nicht gestört
Das.

als ich mit ihr sprechen wollte Komma schlug sie mir ins Gesicht

aber ich viel wenigstens auf
Fiel.

Bahnbrechend finde ich zum Beispiel, dass unsere Protagonistin offenbar durch Inzest entstanden ist, und mit welcher Leichtigkeit du das aus ihrer Perspektive erzählst. Eigentlich wird es ja nur impliziert.

Tendenziell würde ich ein paar weniger Satzverkettungen mit und verwenden, aber nur, wenn ich selbst die Geschichte schreiben würde. Wenn das dein Stil ist, dann lass dich von mir nicht beirren.

Bitte weiter so!
Gutes Nächtle

imperfektionist

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Linka

Herzlich willkommen im Forum!

Ich bin zwiegespalten. Einerseits hast du tolle Passagen in deinem Text, so zum Beispiel die Sache mit dem Penis und den Heiligenbildern. Das wirkt zwar etwas übertrieben, weil du z.B. von Bilderknappheit sprichst, aber dann ein Blick dennoch fünf Bilder kostet und dann idealerweise noch vom heiligen Georg. Gibt’s den in derart unzähligen Ausführungen? Das fand ich nicht so ganz stimmig. Auch die grundlegende Idee, dass diese Bilder für die Kinder so viel Wert hatten, hat sich mir nicht ganz erschlossen, auch wenn ich es eine sehr schöne Idee finde, also diesen „heiligen Tausch“. Das ist auch gut und szenisch erzählt, die Passage hat mir am besten gefallen.

Danach erzählst du eher zusammenfassend, das kann man machen, auch wenn ich weiterhin lieber Szenen gelesen hätte. Auch in diesen Passagen hast du gute und starke Bilder drin. Dennoch finde ich den Text im Mittelteil für meinen Geschmack zu summarisch.

Womit ich nicht klar komme, ist die Stringenz der Geschichte. Das betrifft zwei Punkte, die miteinander zusammenhängen:

1. Du setzt den Fokus ständig neu, schweifst ab.
Wo es um die Heiligenbilder geht, erzählst du zunächst, wie Schwester Gloria aussieht. Das kann man machen, aber ich habe das schon als eine Art Exkurs empfunden.
Wo es um die weitere Ausbildung der Erzählerin und E. geht, rutscht plötzlich so eine Erinnerung ans Frösche sezieren rein, danach wechselst du fast unvermittelt zur Grossmutter und dann zum Missbrauch in der Familie. Spätestens da wurde mir der Text zu assoziativ, habe ich einen roten Faden vermisst, der über das rein Chronologische hinausreicht. Auch später im Text ging es mir so.

2. Du erzählst zwei Leben, wechselst hin und her zwischen E. und der Erzählerin. Aber ich sehe da wenig von einer gemeinsamen Vergangenheit, von einer gemeinsamen Geschichte. Du hast die Schneckenszene, die Heiligenbilder, die gemeinsame Wohnung. Aber du sprichst nie über die Interaktionen zwischen den beiden, ich kann mir überhaupt kein Bild machen, wie die zu einander standen.
Vielleicht war das deine Absicht. Für mich hat es den Text zerrissen. Mir ist nicht klar geworden, was genau du erzählen willst. Also, meiner Meinung nach müsste man das ausbauen, im selben Duktus wie die Heiliigenbilder-Szene weitererzählen, da hast du am Ende eine lange Erzählung, vielleicht einen Roman. Oder zu fokussierst auf E., erzählst ihre Lebensgeschichte aus der Wahrnehmung der Erzählerin, aber da fällt dann deren eigene Lebensgeschichte (Theologiestudium, Grossmutter etc.) weg.

Das ist natürlich nur meine Sichtweise, andere mögen vielleicht das zerfranste Erzählen, ich gebe dir einfach mal meinen Eindruck wieder.

Denn, das will ich noch mal betonen, innerhalb der einzelnen Passagen gefällt mir deine Erzählweise sehr gut, das macht Lust auf mehr.

Zum Schluss noch was Technisches. Die Kommata. Zuweilen fehlen welche, zuweilen finden sich – vor „und“ unnötig gesetzte. Ich zeige mal die aus dem ersten Abschnitt:

Man hatte mir gesagt, dass E. gestorben sei, aber keiner wusste [K] wie und warum.
Wenn man auf Schnecken tritt [K] macht es ein kleines, schönes Geräusch, als würde man auf einen Keks beißen.
Mit jedem Schuljahr wurden ihre Haare weniger, [Kein Komma] und am Ende war sie fast kahl.

Ich schlage vor, den Text diesbezüglich nochmal durchzugehen.

Insgesamt habe ich den Text gerne gelesen!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo Linka,
ich habe deine Geschichte gerne Gelesen, sie strotzt vor Ideen, und inspiriert mich – ich musste an meine eigene Schulzeit/Ausbildung denken, ich werde wohl auch mal ein paar Dinge daraus niederschreiben.

Was ich mag, sind tatsächlich die vielen „Franzen“ in deinem Text, also die Assoziationen und Nebensächlichkeiten. Was mir noch nicht so gut gefällt, sind die blassen Charaktere, E. wird für mich kaum sichtbar, bleibt ein Phantom, wie für ihre Mitmenschen, in diesem Fall auch für den Leser. Das gleiche gilt für die Erzählerin, oder den Biolehrer undundund, obwohl da genug Potential vorhanden ist – vor allem Talent ;)

Dramaturgisch sind viele Zutaten im Text verstreut, mit ein wenig Fleiß, arrangierst du sie neu und erhältst einen roten Faden, der uns, also die Leser zu einer Pointe führt, die im Moment noch fehlt – oder anders ausgedrückt, verpatzt wurde.

Mein Vorschlag hinsichtlich des Arrangements ist: Nutze den Weg, den die Erzählerin auf dem Friedhof zurücklegt, dort kann sie die Anstöße für ihre Erinnerungen (Heiligenbilder, tote Babys, etc.) erhalten. Der Weg über den Friedhof, mit all seinen Irrungen und Wirrungen, wäre wie ein Weg zurück in die Vergangenheit eines Lebens, das geprägt ist von eben diesen. Wichtig ist dabei, das du dir überlegst, warum erzählst du bestimmte Dinge und wie helfen sie dir, dieses (dein) Ziel im Text zu erreichen. Im Moment wird das an vielen Stellen nicht klar, also, wozu die Penisgeschichte, oder wozu die Abtreibungsgeschichte usw., wie hängt alles zusammen und was soll erzählt werden.

Ich wünsche dir noch viel Spaß beim Schreiben und Lesen – dein Text ist vielversprechend, da geht noch mehr. Ich freue mich auf weitere.

Schöne Grüße
Lem Pala

 

Hallo imperfektionist, Peeperkorn und Lem Palma,

vielen Dank für eure hilfreichen Kommentare! Es ist schön, dass ihr meinem ersten Beitrag gleich mit solcher Wertschätzung entgegentretet!!!

Zuerst zu dir, imperfektionist:

Mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen, weil sie mich berührt hat. Sie ist unterhaltsam und enthält viel Liebe zum Detail, viele kleine Perversionen, viele Überlegungen, die sie lebendig wirken lassen, obwohl es sich um eine Erzählung handelt, die wohlbemerkt gänzlich ohne Dialoge auskommt.

Ich habe tatsächlich nichts auszusetzen. Dein Schreibstil ist genau mein Ding.


Eine solche Kritik kann man sich ja nur wünschen. Ich müsste lügen, wenn ich verschweigen wollte, wie sehr mir deine warmen Worte (und auch noch als allererste Wortkriegerkritik!) gefallen haben. Es ist ein unglaubliches Gefühl, zu wissen, dass ich einen fremden Menschen mit meiner Geschichte berühren konnte. Vielen, vielen Dank!

Es freut mich, dass du das Fehlen der Dialoge herausstellst. Dialoge spielen in den meisten meiner Erzählungen eine sehr untergeordnete Rolle, entgegen aller Stilratgeber, und ich bin mir oft unsicher, ob ich damit nicht eine stilistische Todsünde begehe. Du hast mich in meinem Weg bestätigt. Noch mal: Danke. :)

Jetzt du, Peeperkorn:

Ich freue mich über deine differenzierte Kritik.

Einerseits hast du tolle Passagen in deinem Text, so zum Beispiel die Sache mit dem Penis und den Heiligenbildern. Das wirkt zwar etwas übertrieben, weil du z.B. von Bilderknappheit sprichst, aber dann ein Blick dennoch fünf Bilder kostet und dann idealerweise noch vom heiligen Georg. Gibt’s den in derart unzähligen Ausführungen? Das fand ich nicht so ganz stimmig. Auch die grundlegende Idee, dass diese Bilder für die Kinder so viel Wert hatten, hat sich mir nicht ganz erschlossen

Mit dem heiligen Georg hast du recht. Ich habe es gleich geändert. Den großen Wert, den die Kinder den Bildchen beimessen, halte ich nicht für übertrieben; dieser wilde Tauschhandel mit Bildchen ist tatsächlich ein Detail aus meiner eigenen Grundschulzeit (wenn es auch damals nicht ganz so drastisch und ohne Striptease ablief). Ich denke, dass gerade bei Kindern schnell eine Gruppendynamik entstehen kann, die aus einfachsten oder banalsten Dingen einen richtigen Hype entstehen lässt.

Du setzt den Fokus ständig neu, schweifst ab.

Das ist gewollt. Ich will versuchen, die Erinnerung meiner Protagonistin ungefiltert darzustellen. Scheinbare Nebensächlichkeiten stehen neben traumatischen Erlebnissen. Aber sind diese Erinnerungen, wie der Schleier der alten Nonne, tatsächlich so nebensächlich, wie sie scheinen? Warum erinnert sich die Protagonistin an den Frosch? Wieso erzählt sie uns vom roten Kopf des Direktors, und nicht von ihren Gesprächen mit E.? Hat sie Angst vor den "wichtigen" Ereignissen ihrer Vergangenheit? Lenkt sie ab? Oder sind all die kleinen Szenen und Bilder Symbole für ihre Seele? - Ds sind Fragen, die ich mir beim Schreiben gestellt habe und die ich an den Leser weitergeben wollte.

Du erzählst zwei Leben, wechselst hin und her zwischen E. und der Erzählerin. Aber ich sehe da wenig von einer gemeinsamen Vergangenheit, von einer gemeinsamen Geschichte. Du hast die Schneckenszene, die Heiligenbilder, die gemeinsame Wohnung. Aber du sprichst nie über die Interaktionen zwischen den beiden, ich kann mir überhaupt kein Bild machen, wie die zu einander standen.
Vielleicht war das deine Absicht. Für mich hat es den Text zerrissen. Mir ist nicht klar geworden, was genau du erzählen willst.

Ja, das Zerfaserte war, wie gesagt, meine Absicht. Ich sehe aber ein, dass ein wichtiger Aspekt, der Aspekt, auf dem die Geschichte aufbaut, nämlich das Verhältnis zwischen der Protagonistin und E., nicht so richtig rüberkommt. Mit dem Schweigen, dass die Protagonistin darüber breitet, wollte ich ausdrücken, dass die Erinnerungen an E. schmerzhaft sind. Das ist wohl, wie ich auch in der Kritik von Lem Pala lesen konnte, nicht rübergekommen. Ich denke, dass ich die Geschichte tatsächlich zu etwas Größerem ausbauen werde.
Danke auch dir noch mal für die vielen Tips!

Lem Pala:

Wie schön, dass ich dich inspirieren konnte!
Besonders gefällt mir, dass dir die "Nebensächlichkeiten" gefallen, denn sie sind wesentlich für meine Komposition der Geschichte. Genauso dankbar bin ich, dass du mich auf Schwachstellen der Komposition hinweist.

Dramaturgisch sind viele Zutaten im Text verstreut, mit ein wenig Fleiß, arrangierst du sie neu und erhältst einen roten Faden, der uns, also die Leser zu einer Pointe führt, die im Moment noch fehlt – oder anders ausgedrückt, verpatzt wurde.

Dein Vorschlag mit dem Weg ist sehr gut, ich werde ihn mir durch den Kopf gehen lassen. Allerdings ist es nicht mein Ziel, die Geschichte zu einer Pointe zu führen. Ich erzähle von einem Leben, das ohne Pointe erlischt.

Wie ich bei Peeperkorn auch schon lesen konnte, hinterlassen meine Charaktere bei den Lesern offenbar kein scharfes Bild. Ich habe ihre Wesen bewusst in Nebel gelassen, auch ausgedrückt durch das Fehlen eines Namens für die Protagonistin oder die entpersonalisierte Initiale "E" für ihre Freundin. Ich werde mich aber intensiv damit beschäftigen, ob ich durch diese nebulöse Charakterisierung nicht mein Ziel verfehle und pure Schablonen, Typen, statt tatsächlicher Charaktere schaffe. Es ist schwierig, den Leser eine emotionale Bindung zu Menschen, die, wie die Icherzählerin, Angst vor Emotionalität haben und die Welt dementsprechend ohne Emotionen schildern, aufbauen zu lassen. Danke, dass du mich darauf hingewiesen hast, und natürlich freue ich mich über die mutmachende Schlusseinschätzung! :)

Viele Grüße,

Linka

 
Zuletzt bearbeitet:

Linka

Ja, wie du sagst, die Stilratgeber würden dir nicht raten, auf Dialoge zu verzichten. Ich selber liebe Dialoge und wickle mittlerweile den Großteil meiner Handlung darüber ab. Deshalb war ich auch so überrascht, dass es bei dir so gut funktioniert und dass es mir absolut gefallen hat. Wie kommt es, dass du generell auf Dialoge verzichtest?

Mich hat es auch nicht gestört, dass E. und die Protagonistin "entpersonalisiert" werden. Ich habe die beiden als Durchschnittsmenschen mit Durchschnittsambitionen wahrgenommen, weder hübsch noch klug oder in irgendeiner Hinsicht begabt. Sie lassen sich da hintragen, wo das Leben sie eben hinträgt. Das finde ich keineswegs verwerflich, denn 1. gibt es solche Menschen zuhauf, und 2. ist das von dir geschilderte Leben ja unterhaltsam genug. Spannende Charaktere mit bemerkenswerten Eigenschaften hätten mich hier eher gestört.

Peeperkorn

Mit jedem Schuljahr wurden ihre Haare weniger Komma und am Ende war sie fast kahl.
Das Komma zwischen zwei vollendeten Hauptsätzen mit jeweils eigenem Subjekt und Prädikat mag dem einen oder anderen Leser veraltet vorkommen, aber weder ist es falsch noch erschwert es die Lesbarkeit ... ganz im Gegenteil. Ich kann deinen Kritikpunkt nicht bestätigen und will einen Kurzen auf jedes derartige Komma trinken. Prost!

 
Zuletzt bearbeitet:

imperfektionist

"Regel 119: Werden gleichrangige selbstständige Teilsätze durch Konjunktionen wie „und" oder „oder" verbunden, so setzt man in der Regel kein Komma."

Die Ausnahme bilden Situationen, wo es darum geht, mögliche Missverständnisse zu vermeiden, die Gliederung besonders deutlich zu machen.

Das ist beim fraglichen Satz m.E. nicht der Fall. Ich habe explizit geschrieben, dass ich das Komma als unnötig (nicht: als falsch) erachte.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Peeperkorn

Gut, das mit dem unnötig kam bei mir falsch an. Wahrscheinlich, weil ich schon ein paar Kurze zu viel auf Kommata getrunken hatte.

Woher stammt diese Regel? Wäre ganz nett zu wissen, auch zum selber Nachschlagen.

Grüße

 

imperfektionist

Woher stammt diese Regel? Wäre ganz nett zu wissen, auch zum selber Nachschlagen.

Ich war zwar nüchtern, aber müde, daher die vergessene Quelle. :)

Ich habe die Passage von der Duden-Homepage übernommen:

http://www.duden.de/sprachwissen/rechtschreibregeln

In den amtlichen Regeln handelt es sich um die Paragraphen 72&73:

http://www.duden.de/sites/default/files/downloads/amtliche_Regelungen.pdf

So, jetzt hoffe ich doch sehr, dass Linka dank (trotz) unserem Komma-Intermezzo noch weitere Kommentare erhält. Die Geschichte hätte es verdient.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Linka,

deine Geschichte hat mir gut gefallen. Irgendwie hat mich dein Stil, die lakonische Verknüpfung von banalen mit aus der Reihe fallenden Ereignissen, besonders auch der Umgang zwischen katholischen und evangelischen Kindern an Ludwig Thoma erinnert. Seinen Protagonisten Hansi Kraus hat er in den "Lausbubengeschichten" ganz ähnlich erzählen lassen. Der ist (auch so) ein Chaot, assoziativ denkend, dabei manchmal fatalistisch. 'Es ist halt so'. Und dazu ist er eine ordentliche Portion unberechenbar. Irgendwie widersprüchlich.

Dein Stil hat einen ganz eigenen Sound, auch wenn es wenig Handlung gibt, die Ereignisse, auch die Tragödien, wie nebenbei aufgelistet werden, keine Dialoge den Erzählfluss rhythmisieren, so habe ich doch gern zu Ende gelesen. Nur hätte ich gerne gewusst, wie das Innenleben dieser "Freundschaft" ausgesehen hat. Das bleibt mir weitgehend verschlossen. Andererseits passt dies zur Prota. Ein Text, der in meinem Gedächtnis kleben bleibt.

Freundliche Grüße.
wieselmaus

 

Hallo Linka
Ich mag auch Geschichten, die erzählen und mit wenig Dialogen auskommen. Diese Geschichte ist sehr assoziativ und geschrieben, das hast du beabsichtigt. Man merkt, dass du schreiben kannst. Aber gerade wenn sexueller Missbrauch und Religion oder Kirchen thematisiert wird, finde ich diese Form zu schreiben, einfach nur verstörend.
Sorry, hat mir nicht gefallen, sprachlich hast du mich mitgenommen, gefühlsmäßig nicht.
Liebe Grüße, Goldene Dame

 

Hallo Wieselmaus, Goldene Dame und Bea Milena,

danke, dass ihr euch für meine Geschichte interessiert!

Wieselmaus:
Ich sehe, die Freundschaft muss ich ausbauen. Dich stört, wie beinahe alle Leser, die meine Geschichte kommentierten, das Fehlen einer Beschreibung der emotionalen Bindung zwischen der Protagonistin und E. Es freut mich aber sehr, dass meine Geschichte so einen positiven Eindruck bei dir hinterlassen hat. Besonders interessant finde ich, dass du Thoma erwähnst. ICh erinnere mich noch gut daran, wie mein Deutschlehrer uns zu Beginn der Gymnasialzeit einzelne der "Lausbubengeschichten" vorlas. ICh muss gestehen, dass ich nicht viel für sie übrig hatte, aber offenbar ist doch etwas übriggeblieben. ICh interessiere mich tatsächlich sehr für die Provinz als Mikrokosmos aller menschlicher Typen und Charaktere, und ich denke dass hier tatsächlich eine Parallele zu den klassischen "Heimatdichtern" liegen kann, wenn ich auch versuche, diesen Begriff zu hinterfragen und vielleicht sogar zu dekonstruieren.

Goldene Dame:
Es tut mir Leid, wenn du dich von der Geschichte moralisch, emotional oder ästhetisch abgestoßen fühlst. Es ist bestimmt nicht mein Ziel, Leser zu schockieren. Verstören ist aber genau das, was ich im Sinn habe. ICh möchte, dass der Leser sich fragt, was ihn am Gelesenen so sauer aufstoßen lässt. Ich weiß, dass nicht jeder mit dieser Art der Literatur viel anfangen kann, sie ist aber mein Weg, die Welt zu interpretieren und zu verstehen.

Bea Milena:
Vielen, vielen Dank für dein hilfreiches Lektorat!
Den dritten Punkt, den du anführst, habe ich bei fast jedem meiner Kritiker gelesen. Ich kann an dieser Stelle noch einmal mein Ziel, gewissrmaße "leere" Charaktere zu schaffen, betonen, deren Emotionalität gerade in ihrer Kälte zum Leser sprechen soll. Ich werde dennoch in der gerade im ENtstehen begriffenen ausgebauten Version der Geschichte gerade der Freundschaftsthematik bzw. -problematik mehr Platz einräumen.
Dein zweiter Punkt hat mir zu Denken gegeben. Ich möchte noch einmal betonen, dass die Frauen in meiner Geschichte keine schwachen Frauen sind, die sich aus eigener Charakterschwäche nicht wehren können, sondern starke Frauen, die in einer patriarchalen Gesellschaft auf Schritt und Tritt männlicher Gewalt ausgeliefert sind. Es ist die Wahrheit, das 91% Prozent der Vergewaltigungsopfer Frauen und 99% der Vergewaltiger Männer sind. In unserer Gesellschaft sind Frauen Männern sehr oft hilflos ausgeliefert (es reicht, an die niedrige Zahl weiblicher CEOs zu denken, und an die dementsprechend hohe Zahl weiblicher, von männlichen CEOs abhängiger Angestellter). Das hat nichts mit der Schwäche der Frau zu tun, sondern mit der Schwäche der Gesellschaft, und ich will in meinen Geschichten die Augen davor nicht verschließen.

Viele Grüße,

Linka

 

Liebe Bea,

ja, der Weg, sich aus Missbrauch zu befreien, ist tatsächlich eine sehr interessante Geschichte, und ich erzähle in meiner Geschichte von dem Scheitern dieses Weges. Alles, was du bemängelst, die fehlende Selbstreflexion, Suche und vor allem Erkenntnis ist das Ergebnis eines, wie du selber schreibst, nicht zwangsläufig positiv endenden Prozesses der inneren Auseinandersetzung mit Missbrauch und Gewalt. Die Protagonistin endet in stumpfer Emotionslosigkeit. Die Welt hat sie zu sehr verletzt, als dass sie jene noch in ihrer ganzen Fülle wahrnehmen könnte (und wollte). Und da ich auch E.s Leben aus ihrer Perspektive erzähle, spiegelt sich dort diese große innere Leere.

E. ist der Protagonistin nicht egal, sie liebte sie vielleicht mehr, als ihr bewusst war, und gerade aus Furcht vor ihrer eigenen Emotionalität herrscht in ihrem Erzählen diese lakonische, bittere Kälte vor. Die Protagonistin ist ein verletztes kleines Kind, das die Welt nur durch ihre zynische Art ertragen kann.

Ich arbeite gerade an einer weiteren Fassung der Geschichte, und ich bin froh über deine Kritik; ich sehe ein, dass ich deutlicher in meiner Absicht werden muss, keine, wie ich bereits schrieb, schwachen Frauen, sondern eine schwache Gesellschaft darzustellen. Das "Augenverschließen" vor Missbrauch etc. seitens der Frauen sehe ich aber nicht als Fehler der betroffenen Frau, sondern als Fehler unseres Rechtsystems, in dem ein Vergewaltigungsopfer zum einen noch einmal mit dem Verbrechen konfrontiert und zum anderen schnell mitverantwortlich für die Tat gemacht wird, was zusätzlich traumatisiert.

Du hilfst mir in der Tat weiter!

Viele Grüße,

Linka

 

,

Goldene Dame:
Es tut mir Leid, wenn du dich von der Geschichte moralisch, emotional oder ästhetisch abgestoßen fühlst. Es ist bestimmt nicht mein Ziel, Leser zu schockieren. Verstören ist aber genau das, was ich im Sinn habe. ICh möchte, dass der Leser sich fragt, was ihn am Gelesenen so sauer aufstoßen lässt. Ich weiß, dass nicht jeder mit dieser Art der Literatur viel anfangen kann, sie ist aber mein Weg, die Welt zu interpretieren und zu verstehen.


Hallo Linka, ich fühle weder das eine noch das andere in dieser Geschichte, außer Widerwillen, dass mir ein Autor aufzwängen will, was ich zu denken habe.

 

Hallo Goldene Dame,

an welcher Stelle zwänge ich dem Leser eine Meinung auf?

Viele Grüße,

Linka

 

Hallo Goldene Dame,

an welcher Stelle zwänge ich dem Leser eine Meinung auf?

Viele Grüße,

Linka

Hier:
ICh möchte, dass der Leser sich fragt, was ihn am Gelesenen so sauer aufstoßen lässt. Ich weiß, dass nicht jeder mit dieser Art der Literatur viel anfangen kann, sie ist aber mein Weg, die Welt zu interpretieren und zu verstehen.

 

Hallo Goldene Dame,

diese Stelle ist nicht aus meiner Geschichte, sie ist also nicht an "den Leser", sondern an dich gerichtet. Darüber hinaus spreche ich ganz deutlich von meinem Weg, die Welt zu verstehen.
Es ist überhaupt kein Problem, dass dir meine Geschichte nicht gefällt! Es ist aber nicht wahr, dass ich irgendjemandem irgendetwas aufzwingen will. Im Gegenteil lasse ich absichtlich so viele Freiräume in der Geschichte, damit sich der Leser sein eigenes Bild und seine eigenen Gedanken machen kann. Und dass ich will, dass der Leser sich etwas "fragt", wie ich es in der Antwort auf deine Kritikpunkte formuliert habe, ist keine Meinungsaufdrängung, sondern Sinn und Zweck einer Veröffentlichung, nämlich den Leser in Dialog mit einem Text zu bringen.

Viele Grüße,

Linka

 

Hallo Imperfektionist,

Ja, wie du sagst, die Stilratgeber würden dir nicht raten, auf Dialoge zu verzichten. Ich selber liebe Dialoge und wickle mittlerweile den Großteil meiner Handlung darüber ab. Deshalb war ich auch so überrascht, dass es bei dir so gut funktioniert und dass es mir absolut gefallen hat. Wie kommt es, dass du generell auf Dialoge verzichtest?

Eigentlich verzichte ich nicht "generell" auf Dialoge, sie entwickeln sich einfach nicht so oft, wenn ich Geschichten schreibe. Ich kann dir gar nicht so richtig sagen, warum. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich so für in irgendeiner Art und Weise ge- oder verstörte Charaktere interessiere. Die Isolation, Verzweiflung, und den Zynismus, die viele meiner Charaktere ausmachen, kann ich besser in einen großen Wortstrudel kleiden, der keinen Platz lässt für Gespräche, weil die Personen so sehr in ihrer eigenen Welt gefangen sind, dass sie nicht wirklich in Dialog mit ihrer Umgebung treten können. (Wie war das gleich mit der Regel, niemals seine eigenen Werke zu interpretieren...;))

Ich will noch einmal betonen, wie schön ich es finde, dass dich meine Geschichte berührt!

Viele Grüße,

Linka

 
Zuletzt bearbeitet:

Linka, deine Absichten mögen ja richtig und gut sein, aber irgendwann wirst du feststellen, dass eine manipulative Erzählform nur für den Autor wichtig ist und dass es den Leser überhaupt nicht interessiert, was du damit wolltest.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom