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Zion, mein Zion

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02.11.2001
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Zion, mein Zion

O mein Vater, der du wohnest hoch in Herrlichkeit und Licht,
wann kann ich doch Aug zu Auge wieder schaun dein Angesicht?
War in jenen lichten Räumen nicht bei dir mein Heimatland?
In der Seele Jugendzeiten pflegte mich nicht deine Hand?

Ach, für eine weise Absicht pflanztest du mich in die Welt
und versagtest mir Erinn´rung an mein frühres Lebensfeld.
Doch zuweilen flüstert´s leise, ahnungsvoll im Herzen mir:
"Bist ein Fremdling auf der Erde, deine Heimat ist nicht hier."

Ob ich gleich dich Vater nannte durch des Geistes heilgen Trieb,
bis es du mir offenbartest, mir es ein Geheimnis blieb.
Sind im Himmel Eltern einzeln? Die Vernunft weist solches fort,
und sie sagt mit Kraft und Klarheit: "Du hast eine Mutter dort!"

Wenn vorüber dieses Leben, dieser Leib dem Staube gleich,
dann werd ich mit Freuden jauchzen, Vater, Mutter, treffen euch.
Dann, o Wonne, ist vollendet alles Mühn der Sterblichkeit,
und ich werde froh und selig mit euch sein in Ewigkeit.


Die letzten sanften Töne verhallten und gingen dann in ein anderes Kirchenlied über, das Miriam ebenfalls seit ihren frühesten Kindertagen vertraut war.
Es hatte eine Zeit gegeben, da traten ihr die Tränen in die Augen und ihre Stimme brach beim Gesang, wenn ein starkes, warmes Gefühl sich ihrer bemächtigte und ihr die Gewißheit gab, daß dies alles wahr war, daß mehr dahinter steckte als die strengen Gebote und Verhaltensregeln, die man ihr von klein auf eingepflanzt hatte, mehr als all die Ermahnungen und eindringlichen Warnungen, die ihr Verhalten bestimmten und ihr Zeit ihres Lebens das Gefühl gegeben hatten, unwürdig, unfähig zu sein und nur eine Chance auf Errettung zu haben, wenn Gott großzügig genug war, über ihre Unzulänglichkeiten hinwegzusehen und seine Gnade über sie auszugießen, auch wenn sie es nicht verdient hatte, schmutzige, unverbesserliche Sünderin, die sie doch war.

Gedankenverloren starrte Miriam auf die goldumrahmte Fotografie, die über dem Schreibtisch hing und bewunderte wieder einmal die Eleganz des Gebäudes, seine ausgeklügelten Proportionen, die Perfektion, mit der es sich in die umgebende Landschaft fügte und den schlanken Turm, auf dessen Spitze die goldene Statue des Engel Moroni in die Posaune blies.
Obwohl jeder Tempel anders aussah, strahlten sie doch alle dieselbe majestätische Schönheit und überwältigende Vollkommenheit aus. So auch der Frankfurttempel, der seine beeindruckende Wirkung auf sie trotz allem nicht verloren hatte. Mit gerunzelter Stirn erinnerte sie sich an die merkwürdigen und überwältigenden Dinge, die sie in diesen Mauern erlebt hatte, an die Eide, die sie geschworen, das Schöne und Beängstigende, das sie gehört und gesehen, die geheimen Zeichen, die sie gelernt, die Rituale, die sie vollzogen hatte. Der Name, den ihr eine fremde Frau zugeflüstert hatte, nachdem sie sie der rituellen Waschung unterzogen, sie gesalbt und ihr Schwindelerregendes verheißen hatte, hallte in ihrem Kopf wider wie ein Echo aus fremden Welten. Der Name, mit dem ihr Mann sie einst rufen sollte, damit sie in die Herrlichkeit Gottes eintreten konnte, ihr neuer Name, den außer ihm niemand jemals erfahren durfte...

Ein Stockwerk höher glitten die Finger der Organistin unermüdlich über die Tasten und entlockten dem Instrument zarte und energische, melancholische und fröhliche Klänge, als sie ein Kirchenlied nach dem anderen spielten.
Miriam saß in dem kleinen kühlen Kellerraum und lauschte der Orgelmusik mit gemischten Gefühlen. Die meisten der Melodien waren wunderschön, kraftvoll und so vertraut wie der Klang ihres eigenen Namens. Viele der Texte hatten ihr in schweren Stunden Trost gespendet, viele davon hatte sie hunderte Male gesungen. Sie fühlten sich vertraut an, gaben ihr auch jetzt noch Geborgenheit und Wärme, doch nun schwang ein scharfer Schmerz mit. Das Bewußtsein über die Endgültigkeit ihrer Entscheidung ließ sie nicht los.

Was Miriam gewagt hatte, war so unglaublich, so unvorstellbar, daß es ihre Familie zerbrochen und ihr Leben so grundlegend verändert hatte, wie kaum etwas anderes jemals zuvor: Sie hatte sich auf die gefährliche und furchterregende Suche nach ihrem eigenen Weg gemacht, jenseits der erprobten Pfade der Mormonenkirche. Seither war sie mehr als einmal durch die Hölle gegangen und niemand war da, dem sie sich hätte anvertrauen können.
Jeder Mormone hätte entsetzt auf ihren völligen Abfall vom einzig wahren Glauben reagiert und viel Energie auf den Versuch verwendet, sie wieder in die liebenden Arme der Gemeinde zurückzuführen. Sie kannte das Prozedere, viele Anrufe, Einladungen zu verschiedenen Aktivitäten, immer wieder dieselben Fragen mit dem Ziel, sie in eine freundliche Diskussion zu verwickeln, die sie für die Einflüsterungen des heiligen Geistes öffnen, ihr die Wahrheit des Evangeliums wieder nahebringen und sie davon überzeugen sollten, daß sie sich durch ihre Versündigungen nur selbst schadete, während Gott doch mit offenen Armen darauf wartete, sie wieder in den glücklichen Kreis seiner Schäfchen aufzunehmen. Aber die Schäfchenmentalität war Miriam noch nie im nötigen Maße zu eigen gewesen.
Hätte sie offen gesagt, daß sie nicht nur am Mormonenglauben zweifelte, sondern zu der festen Überzeugung gekommen war, daß er schlicht und ergreifend falsch war und nur durch Vertuschung der Vergangenheit, Verdrehung der Tatsachen und Irreführung der gläubigen Mitglieder am Leben erhalten werden konnte, hätte die Gemeinde mit kollektivem Entsetzen reagiert. Sie wußte, daß sie schon jetzt regelmäßig Gegenstand vieler Gebete war, daß ihr Name immer wieder in die Gebetslisten der Tempel eingeschrieben wurde, daß viele sich fragten, was sie dazu bewegt haben konnte, wieder inaktiv zu werden und - was das Wichtigste war - wie sie zur Rückkehr, zur Umkehr bewegt werden konnte, um sie den Klauen des Satans zu entreißen und vor ihrem eigenen Untergang zu schützen.

Natürlich würde selbst der hartnäckigste Mormone früher oder später aufgeben und sie auf die Liste der hoffnungslosen Fälle setzen, aber Miriam stand gerade an einem bedeutenden Wendepunkt ihres Lebens. Die Auseinandersetzung mit ihrem sterbenden Glauben und der verzweifelte Versuch, das riesige Loch zu füllen, das durch den schrittweisen Verlust eines so großen Teils ihrer Identität entstand, kostete sie immense Kraft und sie hatte nicht die Energie, sich auf endlose Diskussionen mit Menschen einzulassen, die mit allen Mitteln versuchen würden, sie von ihrem Weg abzubringen, den sie als Irreführung des Teufels und Abfall vom einzig wahren Glauben sahen, die ihr Höllenfeuer und Verdammnis predigen und schließlich um den Verlust ihrer unsterblichen Seele weinen würden.

Mit Außenstehenden konnte sie sich ebenfalls nicht aussprechen, da der Glaube, mitsamt seinen Gebräuchen, Regeln und Gepflogenheiten auf sie bizzar und unverständlich wirken mußte. Ihre schweren inneren Konflikte, ihre immense Zerrissenheit konnten sie nicht nachvollziehen, da sie keine Vorstellung davon hatten, was es hieß, diese Dinge schon als Kind eingeimpft zu bekommen, damit aufzuwachsen und sie als völlig normalen Bestandteil des Lebens, ja sogar als einzige Möglichkeit, glücklich zu leben, wahrzunehmen.
Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage war Zeit ihres Lebens ein Teil ihrer selbst gewesen. Wie konnte jemand, der dies oder ähnliches nie erlebt hatte verstehen, daß sie nicht nur dabei war, sich von einem absurden und geradezu lächerlich naiven Glauben abzuwenden, sondern durch ihren Ausstieg einen bedeutenden Teil ihrer selbst in Frage stellte, ablehnte, verleugnete und am Ende für immer hinter sich lassen würde? Es fiel Miriam sehr schwer loszulassen, was so lange eine absolut zentrale Bedeutung in ihrem Kopf und in ihrem Herzen gehabt hatte.

Miriam wuchs in einer Gemeinde auf, die dafür bekannt war, ausgesprochen liberal zu sein, so liberal, daß manche, die von anderen Städten hierher zogen, furchtbare Schwierigkeiten hatten, sich einzugliedern, weil sie es gewohnt waren, daß jeder ihrer Schritte vorgegeben, selbst ihr Privatleben kontrolliert und die Einhaltung der diversen Ratschläge und Ermahnungen der patriarchalischen Kirchenführer streng überwacht wurde.
Sie konnten nicht damit umgehen, plötzlich selbst Entscheidungen zu treffen, die ihnen bisher immer von anderen abgenommen worden waren, nicht mehr unter ständiger Beobachtung zu stehen und Kontrolle über bislang völlig fremdbestimmte Teile ihres Lebens zu übernehmen.
Doch auch diese Liberalität war nur relativ, Miriams Leben war bestimmt von Gesetzen und strengen Verhaltensmaßregeln und über jeder Entscheidung schwebte die Furcht, sich bei einem Fehler die göttliche Führung und Hilfe zu verwirken.
Obwohl diese Dinge wie ein Damoklesschwert über ihrem Haupt schwebten, gelang es weder ihren Eltern noch der Kirche, Miriam zu einer Mustermormonin zu erziehen. Es fehlte ihr einfach an der nötigen Disziplin und sie entwickelte nie die Eigenschaften, die ein gutes Mormonenmädchen auszeichneten, wie Demut, blindes Vertrauen in die Worte der Kirchenführer und den Willen, den man brauchte, um beispielsweise jeden Tag eine Stunde früher aufzustehen und in den heiligen Schriften zu lesen. Zudem waren Miriams Eltern selbst nicht gerade fanatisch und nahmen vieles nicht so genau.

Doch als Miriam in die Pubertät kam und sich von einem kritischen, unbequemen Kind in eine rebellische, streitlustige und kampfbereite Jugendliche verwandelte, wurden ihre Eltern ängstlich und folgten dem Rat der Kirchenführer, indem sie Strenge walten ließen, die Einhaltung der diversen Gebote und Verbote streng kontrollierten und das Mädchen dazu zwangen, in die Kirche zu gehen. Der erhöhte Druck erzeugte nur Gegendruck und Miriam fand schnell heraus, daß die Familie sonntags unter dem lauten Keifen ihrer Mutter ohne sie das Haus verließ, wenn sie im letzten Moment mit klatschnassem Haar und Unschuldsmiene in der Badezimmertüre erschien und kleinlaut verkündete, daß sie nicht rechtzeitig fertig würde.

Auch wenn Miriam der Kirche bald dauerhaft fernblieb und allmählich begann, das ganze Spektrum der satanischen Versuchungen zu entdecken, zweifelte sie insgeheim doch nie an der Wahrheit dessen, was sie von klein auf in den vertrauten Mauern des Kirchengebäudes gelernt hatte, was man ihr aus der Bibel, dem Buch Mormon und den anderen mormonischen heiligen Schriften gepredigt hatte.
Nun sah sie sich nur noch als Sünderin, abgefallen, ausgestoßen, unwürdig. Sie sündigte bewußt gegen ihren Glauben, hatte so ziemlich jedes Gebot gebrochen, abgesehen von "Du sollst nicht töten",verachtete sich selbst dafür und war überzeugt davon, daß Gott sie ebenfalls verachtete, mit strengem Blick und fassungslosem Kopfschütteln auf sie herabsah und sich schließlich enttäuscht von ihr abwandte.

Sie war über zwanzig, am absoluten Tiefpunkt ihres Lebens angekommen, als ein großer Wendepunkt kam. Ein beeindruckendes, tiefgeistiges Erlebnis brachte sie dazu, ihr Leben von einem Tag auf den anderen völlig zu ändern. Sie trennte sich von ihrem Lebenspartner, einem Energievampir, der sie jahrelang nach unten gezogen, benutzt und ausgesaugt hatte und hörte auf Drogen zu nehmen, die ihre ohnehin schon schweren Depressionen verstärkt und sie in den vergangenen Monaten zu einem seelischen Wrack gemacht hatten.

Am darauffolgenden Sonntag zog sie sich ein hübsches Kleid an und ging in die Kirche, wo Dutzende von alten Bekannten und Freunden sie umringten, ihr weinend und lachend um den Hals fielen und ihr immer wieder unter Tränen versicherten, wie sehr sie sie vermißt hatten und wie überglücklich sie waren, sie hier zu sehen.
Sie begann wieder zu beten und zum ersten Mal verspürte sie das, was die Mormonen als Zeugnis bezeichnen: Eine tiefe, innere Überzeugung, die über einfachen Glauben hinausging.
Sie hatte ein intensives geistiges Erlebnis gehabt, das ihre Zweifel zerstreut hatte und wußte nun: Gott lebte und liebte sie, er hatte sie aus dem Dreck gezogen und ihr das Leben gerettet.
Eine tiefe, ruhige Freude erfüllte die junge Frau. Ihr Leben änderte sich völlig, die Depressionen, mit denen sie so lange gelebt hatte, besserten sich und sie begann wieder zu leben. Die strengen Gebote befolgte sie nun aus freiem Willen. Sie empfand sie nicht als Einschränkung, sondern als willkommene Richtlinien, als Stütze und Hilfe, um ihr chaotisches Leben und ihr noch viel chaotischeres Seelenleben in geordnete, übersichtliche Bahnen zu lenken.

Mit dem regelmäßigen Kirchenbesuch und dem Lesen in den heiligen Büchern der Mormonen begann Miriam nach und nach, das mormonische Gedankengut in sich aufzunehmen. Gott hatte ihr schließlich das Leben gerettet, das mindeste, was sie tun konnte, war, ihm durch Gehorsam und Glaubenstreue zu danken.
Das meiste von dem, was sie in den Büchern las und in den verschiedenen Versammlungen hörte, war einfach nur schön, stellte ihr wunderbare Segnungen in Aussicht und erfüllte sie mit stiller Freude und Dankbarkeit. Vor allem die Aussicht, nach dem Tode für immer und ewig mit ihrer Familie zusammen sein zu können, wenn sie sich nur an die Gebote hielt und bis zum Ende ausharrte, gab ihr immer wieder die Kraft, Versuchungen zu überwinden und den schweren, anstrengenden Weg der Mormonen zu gehen, ohne an den unerfüllbaren Anforderungen zu verzweifeln, denen scheinbar jeder außer ihr mit einem milden Lächeln gerecht werden konnte.

Mit der Zeit jedoch stießen ihr immer wieder verschiedene Dinge sauer auf. Sie begann, Fragen zu stellen, doch die Antworten befriedigten sie meistens nicht. Oft beschränkte man sich darauf ihr zu erklären, daß es nunmal Dinge gäbe, die der Mensch in seinem jetzigen Bewußtseinszustand nicht begreifen und die er nur durch persönliche Offenbarung erfassen könne, die man wiederum nur durch unerschütterlichen Glauben, Fasten, Beten und noch härterem Arbeiten an sich selbst erreichen könnte. Wenn sie sich nur ernsthaft genug bemühen würde, würde ihr die Erkenntnis schließlich auf die Seele träufeln wie Tau vom Himmel, prophezeite man ihr.
Doch bei Miriam träufelte nichts und all die schönen Worte halfen ihr auch nicht, mit den inneren Widerständen fertig zu werden, die einige Themen in ihr auslösten. Nach außen hin löste sie diese Konflikte auf vorbildliche Mormonenart: Sie erklärte, daß sie völliges Vertrauen zu Gott hätte und ihr die Sicherheit genügte, es irgendwann, möglicherweise erst nach ihrem Tode, begreifen zu können. Innerlich aber konnte sie sich nie damit abfinden, daß ein Gott der Liebe zürnte und wütete, bei Ungehorsam mit Vernichtung, Hölle und Verderben drohte, daß er von den Frauen verlangte, sich den Männern unterzuordnen, daß er ihnen die Polygamie zumutete, die nach dem Glauben der Mormonen einst wieder eingeführt werden wird und viele andere Dinge, deren Sinn und Grund ihr niemand jemals befriedigend erklären konnte.

Allmählich begann sie, die anderen für ihre Fähigkeit, zu gehorchen ohne zu hinterfragen zu beneiden und wünschte sich, ignorant genug zu sein, um Zweifel und Widersprüche gemäß den Warnungen der Kirchenführer, sich nicht mit kritischen Gedanken, geschweige denn kritischem Material auseinanderzusetzen, beiseite zu schieben.
Sie selbst hatte diese Fähigkeit nie besessen, hatte ihre Mutter beinahe in den Wahnsinn getrieben mit ihren ständigen Fragen nach dem Warum. "Kannst du nicht einfach akzeptieren, daß es so ist?" hatte die Mutter fast geschrien. Ein 'Ich weiß es nicht' hatte Miriam nie akzeptiert. Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis Miriam schließlich anfing, den uniformen Antworten im Mormonenjargon zu mißtrauen und die unbequeme Seite des "einzig wahren Glaubens" zu entdecken.
Fast zwei Jahre dauerte es, bis ihre Zweifel zur Gewißheit herangewachsen waren. Es war ein schmerzhafter und beängstigender Prozeß, den sie in dieser Zeit durchlief. Den Glauben, den sie einst so sehr gebraucht hatte, der ihr das Leben gerettet und ihrem Dasein einen Sinn gegeben hatte, streifte sie nun ab, wie ein Insekt seinen zu klein gewordenen Panzer.

Miriam lauschte den Orgelklängen und das Wissen, daß alles, woran sie geglaubt hatte, alles, worauf sie ihr Leben aufgebaut hatte, eine Lüge war, schnitt ihr tief in die Seele. Sie hatte das Gefühl, daß ihr etwas Wertvolles weggenommen worden war und man sie alleine auf einen finsteren Weg stieß, ohne ihr zu sagen, welche Richtung sie nun einschlagen sollte. Was würde sie am Ende erwarten? Was würde ihr noch bleiben?

Seufzend erhob sie sich, packte ihre Sachen zusammen und verließ den kleinen Kellerraum. Sie schloß die Tür hinter sich ab und stieg die Stufen empor, fühlte die Kühle des Metallgeländers unter ihrer Hand. Als sie den langen Gang entlanglief, gab sie sich ein letztes Mal der süßen Schwere hin, die sie bei den Klängen erfüllte. Leise summend stimmte sie in die Melodie der Orgel ein, während sie das vertraute Gebäude verließ.

Die Wörter waren: Turm, Freund, gebrochen, Tau, ignorant.

 

Jetzt ist mir doch noch eine Sache aufgefallen. Und zwar schreibst du weiter oben, daß Miriam sich ein Foto ansieht, das über dem Schreibtisch hängt. Dann kommen die Erinnerungen, die Fragen, die Antworten. Und am Ende verläßt sie einen kleinen Kellerraum.

Da steht ein Schreibtisch im Keller mit Fotos an der Wand?

Daß du gut schreiben kannst, weißte ja selbst. Da erzähl ich dir nichts neues!

:kuss:

 

Danke für das Lob. :)

Ich hab die Räumlichkeiten nicht weiter beschrieben, weil ich dachte, daß das für die Geschichte unerheblich ist. Könnte ich noch nachholen, falls es sonst zu Unklarheiten kommt.

:kuss:

 

Hi Sav,

Eine wahnsinns Geschichte hast du da abgeliefert. Nach dem, zugegebener Massen, schrecklichen Kirchenlied am Anfang, und den ersten zwei Absätzen befürchtete ich eigentlich das schlimmste, aber dann nimmt die Geschichte rasend an Tempo und Komplexität zu, und du hast es geschafft mich für ein Thema, welches mir normalerweise vollkommen egal ist, zu interessieren.
Eine Perfekte Darstellung des Zwiespalts zwischen Glauben und Zweifel, die besonders auch von dem neutralen Stil lebt. Sowas bräuchten wir mal im Philo-Forum.

Und? Wie lange hast du geschrieben?

I3en

Ach ja, du solltest dich nur entscheiden, ob die Protagonistin Miriam oder Hannah heisst. ;)

 

Hallo I3en,

danke für Deine Kritik und die Empfehlung, ich bin ganz gerührt... :)
Freut mich sehr, daß Dir die Geschichte gefallen hat.

Die Idee für einen Text mit diesem Thema hatte ich schon länger, irgendwann vor ein paar Wochen hab ich dann halbherzig angefangen, sporadisch dran zu schreiben, wußte aber nicht so recht, wie und was. Dann hat baddax seine Wörter gepostet und sie waren eine richtige Inspiration für mich. Plötzlich war ganz klar, wie alles laufen mußte. Danke Dir, baddax!

Was Miriam/Hannah betrifft: Verlaß dich nie auf die "Ersetzen"-Funktion...

Liebe Grüße,

Sav

 

Gern geschehen. Brot und Worte für das Volk... :D

Ich kann mich dem Lob nur anschließen. Am meisten beeindruckt mich Deine elegante Art des Schreibens. Wie nebenher wird dadurch dieses schwer zu fassende Thema (was mich wie Ben noch nie fasziniert hat) nahegebracht und der schwere Konflikt lebendig gemacht. Ihr langer Kampf ist in feinen Facetten geschildert und durch schöne Bilder abgerundet (die Musik, die 'Gemeinschaft' der Gemeinde oder auch ausdrucksvolle, na ja, fast 'Gleichungen' wie der Panzer, aus dem das Insekt ausbricht).
Obwohl das (glaube ich) die erste Geschichte ist, die ich von Dir lese - es gilt sicherlich auch sonst: Du kannst toll mit Wörtern umgehen.

Gruß, baddax

 

So wie er jetzt ist könnte der Text auch, mit wenigen Änderungen, gut für andere derartige Systeme stehen - Sekten, politische Systeme,...
Hmm, gerade das fand ich an dem Text so gut, dass es hier eigentlich nicht um die Mormonen per se geht.

 

Danke für das Lob, baddax. Und danke vor allem auch an Kris für die ausführliche Kritik! Einiges habe ich schon editiert, ich glaube aber nicht, daß ich am Inhalt selbst mehr als ein paar Kleinigkeiten ändern würde/werde. Teile der Geschichte sind autobiographisch und ich müßte zu viel von mir preisgeben, wenn ich auf die von Dir angesprochenen Stellen ausführlicher eingehen würde.

Für mich war der Text in gewisser Weise ein Experiment. Die Mormonen haben eine eigene Gedankenwelt und einen eigenen Wortschatz. Ich war nicht sicher, ob die Geschichte "funktioniert", obwohl dem Leser das "Mormonendenken" fremd ist und er von mir nicht weiter aufgeklärt wird. Ich wollte nicht näher auf Details der Religion eingehen und wie gesagt auch nicht zu viel von mir verraten.

"Inaktiv" ist ein Beispiel für "Mormonenslang". Es bedeutet, daß ein offizielles Mitglied nicht an den sonntäglichen Versammlungen und sonstigen Aktivitäten teilnimmt. Die Gründe für das Fernbleiben sind dabei völlig irrelevant. Eine bewußte Entscheidung dagegen kann es aus der Sicht eines gläubigen Mormonen nicht geben, Ursache kann letztendlich nur Sünde sein, die einen von Gott entfernt hat.

Falls Dich die Neugier plagt, erzähl ich dir gern mehr, aber im Rahmen der Geschichte würde ich mich dabei unwohl fühlen.

Liebe Grüße,
Sav

 

Hallo raven,
Deine Geschichte hat mich sehr beeindruckt.

Vieles kenne ich aus der "Neuapostolischen Kirche". Ganz sicher unterscheiden sich die verschiedenen Sekten im Endeffekt nicht voneinander, was den immensen Druck betrifft, den sie auf ihre Mitglieder ausüben.

Da ich mich auf den kg-Seiten erst zurechtfinden muß, habe ich eine Frage: Müssen bei der Wörterbörse nicht alle vorgegebenen Worte im Text auftauchen?
gebrochen und Freund (im Singular) konnte ich nicht finden. Oder habe ich da etwas falsch verstanden?

Gruß
Barbara (al-dente)

 

Ich glaub, die müssen schon alle vorkommen, ich hatte selbst nämlich mal eine ähnliche Frage.
Könnte mir aber vorstellen, dass da beim editieren (die Geschichte wurde ja offenbar mehrmals bearbeitet) etwas weggefallen ist.

 

Huch... :o

Tatsächlich, "gebrochen" muß ich bei diversen Editieraktionen irgendwann verdusselt haben...
Daß es drin war, weiß ich mit Sicherheit, mal sehen, wo ich es wieder reinflicke.

Die Wörter dürfen beliebig dekliniert und konjugiert werden, deswegen ist "Freunde" zulässig.

Danke fürs aufmerksame Lesen und für die Kritiken!

lg Sav

 

Hej Sav!

Wow. Du hast hier eine Geschichte geschrieben, die ich in kleinerem Stil selber erlebt habe. Bei mir war es "nur" eine ganz normale (?) evangelisch-lutherische Gemeinde, aber das hat auch gereicht.
Ich bin zur Zeit an dem Punkt, wo ich mich völlig neu orientiere und alles alte hinter mir lasse.

Deine Geschichte geht unter die Haut und ist meiner Meinung nach auch gut ohne besonderes Hintergrundwissen über die Mormonen verständlich.

Ähnlich wie Kristin würde ich mir an manchen Stellen noch mehr Details, mehr Tiefe wünschen, kann aber Deinen Wunsch, nicht zu detailreich zu werden, um nicht zu viel von Dir preiszugeben, gut verstehen.

Ich werde mich mal aufmachen und mehr von Dir lesen, ich glaube, ich hab Deine Geschichten bisher ein bisschen vernachlässigt...

Lieben Gruß

chaosqueen :queen:

 

Wie schön! :)

Danke für die Kritik, chaosqueen. Vor allem natürlich für das Lob. :D

Vielleicht werde ich die Story irgendwann doch noch überarbeiten und etwas vertiefen. Ich denke, mit etwas Abstand zu der Geschichte und zu der Mormonensache bekomm ich das bestimmt hin.

Liebe Grüße
Sav

 

Hallo Sav!

Ich kann mich dem Lob der Vorredner nur anschließen, stilistisch und sprachlich ist die Geschichte absolut spitze!
Die Thematik hat mich ebenfalls sehr mitgenommen. Die Loslösung von einer so beieinflussenden Gemeinschaft und gleichzeitig die Charakterisierung einer starken Frau auf dem eigenen Weg. Ganz toll!
Besonders gut gefallen hat mir gerade auch der Anfang, die Stimmung mit dem Kirchenlied, die Erinnerungen, das hast du toll eingefangen.
In einem Kritikpunkt muss ich Kristin allerdings recht geben, auch wenn ich Deine Haltung dazu verstehen kann: für die Geschichte läuft der Teil mit der Wiederhinwendung zum Glauben zu schnell. Lebenspartner, Drogen, Depressionen all das in einem Absatz abgehandelt, das einschneidende Ereignis nur nebenbei erwähnt, das geht mir als Leserin zu schnell, vor allem, wenn man den Stil der restlichen Geschichte bedenkt, wo nichts so hastig abgehandelt wird. Falls Du die Geschichte in dieser Hinsicht tatsächlich nocheinmal überarbeitest, würde ich sie sehr gerne noch mal lesen.

Auch wenn Miriam der Kirche bald dauerhaft fernblieb und allmählich begann, das ganze Spektrum der satanischen Versuchungen zu entdecken, zweifelte sie insgeheim doch nie an der Wahrheit dessen, was sie von klein auf in den vertrauten Mauern des Kirchengebäudes gelernt hatte, was man ihr aus der Bibel, dem Buch Mormon und den anderen mormonischen heiligen Schriften gepredigt hatte.
Nun sah sie sich nur noch als Sünderin, abgefallen, ausgestoßen, unwürdig. Sie sündigte bewußt gegen ihren Glauben, verachtete sich selbst dafür und war überzeugt davon, daß Gott sie ebenfalls verachtete, mit strengem Blick und fassungslosem Kopfschütteln auf sie herabsah und sich schließlich enttäuscht von ihr abwandte
– gerade hier an der Stelle wird der riesige Zwiespalt sehr deutlich, die Zerrissenheit. Sehr gut und überzeugend.

Miriam lauschte den Orgelklängen und das Wissen, daß alles, woran sie geglaubt hatte, alles, worauf sie ihr Leben aufgebaut hatte, eine Lüge war, schnitt ihr tief in die Seele. Sie hatte das Gefühl, daß ihr etwas Wertvolles weggenommen worden war und man sie alleine auf einen finsteren Weg stieß, ohne ihr zu sagen, welche Richtung sie nun einschlagen sollte. Was würde sie am Ende erwarten? Was würde ihr noch bleiben?
auch diese Stelle hat mich sehr beeindruckt. Etwas hinter sich lassen zu können, zu müssen, weil man es als falsch erkannt hat und aber dabei in eine ungewisse Zukunft zu schauen, erstmal ohne Orientierung und auf sich alleine gestellt.

Eine sehr beeindruckende Geschichte….
Liebe Grüße
Anne

 

Was Miriam gewagt hatte, war so unglaublich, so unvorstellbar, daß es ihre Familie zerbrochen und ihr Leben so grundlegend verändert hatte, wie kaum etwas anderes jemals zuvor: Sie hatte sich auf die gefährliche und furchterregende Suche nach ihrem eigenen Weg gemacht, jenseits der erprobten Pfade der Mormonenkirche.

Wie ich sehe, hat der plakative und kurze Titel zum ähnlichen Thema wie hier noch die Wirkung wie in seinen ersten Jahren, dass ich gar nicht herum komm, diesen wenig besprochenen und dennoch einer ähnlichen, wahrscheinlich sogar gleichen Intention unterliegende Titel aufleben zu lassen, bei dem es eigentlich egal ist, ob es nun die Church of Jesus Christ of Latter-Day-Saint eines J. Smith 1830 (Mormonen), Zeugen Jehovas (1878) – wobei ich deren Engagement gegen Hitler & Co. bewundere - oder 1954 durch einen SF-Autor, L. R. Hubbard, als Scientology® auftreten - wobei beim letztgenannten Religionsgründer vor allem die Geschäftstüchtigkeit auffällt.

Schon allein, weil hier die Sprache eine gänzlich andere als im Kinderficker ist. Und,

liebe raven,

schon allein die Sprache lässt einen kühler, distanzierter ans Thema herantreten: Ausbruch aus festgefügten und vorherbestimmten Bahnen. Es sollte sich auch jeder überlegen, wie weit schon google & co. das Leben der großen Zahl bestimmt. Ich entscheid immer noch ganz gerne selbst, was für mich gut sei und ich brauch auch weder Wiki… oder GoogleGlass, wenn ich vorm Kölner Dom stehe. Aber ich hab ja auch was zu verbergen …

Sie trennte sich von ihrem Lebenspartner, einem Energievampir, der sie jahrelang nach unten gezogen, benutzt und ausgesaugt hatte und hörte auf Drogen zu nehmen, die ihre ohnehin schon schweren Depressionen verstärkt und sie in den vergangenen Monaten zu einem seelischen Wrack gemacht hatten.
Man ersetze Mormonen durch die heilige Kirche des Konsums (den Begriff des Konsumismus wird der flüchtige Leser möglicherweise als Kommunismus lesen, wie der klassische Gebildete immer wieder "angenommen" mit Agamemnon verwechselt) und die Macht der Kulturindustrie und der Massenmedien, die inzwischen Gleichschaltungsorgane sind. Als Hitler und Konsorten zehn Jahre nach dem ersten Putschversuch Macht und Meinungshoheit übernahmen, war der Jubel groß … Nicht umsonst wird Journalismus zur Journaille, Marketing für Information gehalten.
Allmählich begann sie, die anderen für ihre Fähigkeit, zu gehorchen ohne zu hinterfragen zu beneiden und wünschte sich, ignorant genug zu sein, um Zweifel und Widersprüche gemäß den Warnungen der Kirchenführer, sich nicht mit kritischen Gedanken, geschweige denn kritischem Material auseinanderzusetzen, beiseite zu schieben.

Diesmal hätt ich denn doch zwo Anmerkungen:

Hier wäre nach dem Zitat ein Leerzeichen einzufügen

, abgesehen von "Du sollst nicht töten",[…]verachtete sich selbst dafür …

Und wäre hier nicht - wie an andern Stellen auch - für eine Zweifelnde statt des Indikativs der Konjunktiv der korrekte Modus?, wobei gar nicht so viel geändert werden müsste, denn wer dann Konjunktiv II mit dem Präteritum verwechselt stellte sich ein Armutszeugnis aus:
Es hatte eine Zeit gegeben, da traten ihr die Tränen in die Augen und ihre Stimme brach beim Gesang, wenn ein starkes, warmes Gefühl sich ihrer bemächtigte und ihr die Gewißheit gab, daß dies alles wahr [sei//m. E. besser: wäre], daß mehr dahinter steckte als …

Gruß und angenehmen Restsonntag vom

Friedel

 

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