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Der eigenartige Student

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25.11.2016
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Der eigenartige Student

Der eigenartige Student.

Im September 1991 begann ich mein Studium an der Mailänder Univesität Luigi Bocconi. Bereits während der ersten Wochen lernte ich einen Mitstudenten kennen, der sich mir als Federico Ciborra vorstellte. Federico machte auf seine Gesprächspartner den Eindruck eines Menschen, welcher der ganzen Welt mit einer schwermütigen Skepsis begegnet. Aber selbst Leute, die nicht in den Genuß eines tieferen Gespräches mit ihm kamen, stellten gewisse Absonderlichkeiten bei ihm fest.

So fiel Federico auf den ersten Blick dadurch auf, dass er keinen Hals besaß.
Er war allerdings nicht halslos in dem Sinne, dass der übermässige Genuss von Speise und Trank seinen Rumpf aufgebläht und seinen Kopf in ein fleischiges Etwas verwandelt hätten, so daß ein Doppelt- oder Dreifachkinn den Hals einfach überwucherten. Vielmehr lag bei ihm eine anatomische Besonderheit vor, auf die eine undisziplinierte Lebensführung keinen Einfluss hatte: Sein Kinn markierte keinen markanten Punkt in seinem Gesicht. Der Körperteil, den man bei einem gewöhnlichen Menschen als Hals bezeichnet, setzte bei Federico direkt als Verlängerung des Kopfes etwas unterhalb der Unterlippe an. Ich hatte auch nach Jahren noch das Gefühl einer optischen Täuschung zu unterliegen, wenn ich ihn betrachtete. Durch den fehlenden Kinnvorsprung schien es, als ob sich die Partie oberhalb seiner Schulter auf das Zweidimensionale reduzieren würde. Er sah gemalten Figuren aus dem Frühmittelalter ähnlich, in denen Künstler noch die Fertigkeit des perspektivischen Malens vermissen liesen. An Tagen, an denen Federico schlecht geschlafen hatte und damit noch etwas blasser war als gewöhnlich, hatte er etwas Geisterhaftes an sich.

Auf den zweiten Blick fiel Federico dadurch auf, dass er sich sehr langsam bewegte. Wenn er seinen Kopf bedächtig nach vorne streckte, fühlte ich mich an eine Schildkröte erinnert, die ihren Kopf langsam aus ihrem Panzer fährt.
Ruckartige, ungleichmässige Bewegung riefen sein Unbehagen hervorrief. Ruckartige Bewegung verursachte Unruhe, brachte Dinge aus dem Gleichgewicht und zerstörte bestehende Ordnung. Federico erinnerte sich noch gut an sein Physikbuch aus der Schulzeit. Dort hatte er gelesen:

„Eine thermodynamische Umgebung ist ein ruhendes System, das sich im thermodynamischen Gleichgewicht befindet. Ein vollständiges thermodynamisches Gleichgewicht kann nur dann herschen, wenn zwischen den Teilen der Umgebung keine Temperaturdifferenzen und Druckdifferenze herschen.“

Nun war Federico’s Interesse an theoretischer Physik begrenzt, aber der Begriff des ruhenden Systems gefiel ihm. Ruhenede Systeme waren aber sehr selten geworden in seiner Heimatstadt Mailand. Hier prägten Hektik und Lärm den Alltag. Trotzdem hatte Federico den Kampf nicht aufgegeben und dabei durchaus Erfolgserlebnisse vorzuweisen.
Ein ruhendes System, das es zu verteidigen galt, hatte er zum Beispiel in den Aulen der Univesität identifiziert. In dem Moment, in dem der Professor die Aula betrat, die Tür hinter sich zumachte und die Studenten, die eben noch wild gestikulierend und laut lachend das Zustandekommen eines ruhenden Systems unmöglich gemacht hatten, verstummten und ihre Plätze aufsuchten, begann sich Federico wohlzufühlen. Durch die geschlossene Tür war er abgeschirmt von der hektischen Aussenwelt und befand sich in einem abgeschlossenen System. Und die Rollen der einzelnen Elemente dieses Systems waren vorgegeben und wurden eingehalten. Die Studenten sassen auf ihren angestammten Plätzen, hielten still, schwiegen und lauschten den Ausführungen des Professors. Dieser hingegen sass hinter seinem Pult oder stand vor diesem und hielt die Vorlesung. Einige Professoren erlaubten sich sogar während ihres Vortrages in der Aula auf und ab zu gehen. Sie taten dies aber mit Bedächtigkeit und Gleichmässigkeit, ohne dabei Unruhe zu erzeugen.

Wenn ich Federico während einer Vorlesung beobachtete, wie er sich bisweilen nach vorne beugte, um seinen Vordermann etwas zu fragen oder den Ausführungen des Professors besser folgen zu können, dann tat er dies mit einer derartigen Bedächtigkeit, dass ich den Eindruck hatte, er wolle auf keinen Fall die Harmonie, die unser ruhendes System ausstrahlte, durch Erzeugung von ruckartigen Bewegungen und Geräuschen in Gefahr bringen. Ruckartige Bewegungen und Geräusche würden, physikalisch gesprochen, Druck- und Temperaturdifferenzen herstellen, die ihreseits das thermodynamisches Gleichgewicht zerstören würden.
Die Bedächtigkeit, mit der er Bewegungen ausführte, machte ihn zwar zu einer Schlüsselfigur bei der Verteidigung der Stellung innerhalb der geschlossenen Aula, hatte in seinem Alltagsleben ausserhalb der Aula aber bisweilen fatale Kosequenzen. So war Federico bereits dreimal bei der Führerscheinprüfung durchgefallen. In dem hektischen Verkehr in und um Mailand herum wirkte er überfordert. Der Fahrlehrer hatte seine Reaktionsfahigkeit am Lenkrad als ungenügend eingestuft.
Federico war wie ein König auf dem Schachbrett, der umgeben und geschützt von eigenen Figuren den Schwerpunkt jeder Verteidigungstellung bildet, der aber auf dem freien Feld aufgrund seines eingeschränkten Bewegungskreises der wendigeren Dame, den Türmen und den Springern des Gegners ungeschützt ausgeliefert ist.

Zu der Bedächtigkeit seines Bewegunsablaufes, ergänzte sich ausgezeichnet eine weitere Besonderheit: Sie betraf seine Stimme. Jedesmal wenn er sprach fühlte ich mich an eine Episode aus meiner Kindheit erinnert: Wenn wir unsere alten Kinderschallplatten mit 45 Umdrehungen Spielgeschwindigkeit hörten, so machten wir uns einen Spass daraus die Spielgeschwindigkeit von 45 Umdrehungen auf 33 Umdrehungen herunterzuschalten. Dadurch wurde die Stimme des Erzählers verzerrt, nämlich extrem langsam und tief.
Genauso hörte sich Federico an:

„ Mi – scu-si,--po-treb-be—per—pi-a-ce-re—re-spie-ga-re—il—dif-fe-ren-zi-a-le—to-ta-le“
(„Entschuldigen Sie, würde Sie mir bitteschön nochmals die Ableitungsregel erklären.“)

bekam zum Beispiel unserer Mathematikprofessor zu hören. Professor Salsa reagierte auf Federico’s Fragen bisweilen mit Ironie:

„ Per piacere, potrebbe abbassare la sua voce e parlare un pó piú lentamente“
(„Seien Sie doch bitte so nett und sprechen Sie etwas tiefer und langsamer“).

Bei einem Abendessen löste Federico’s Stimme hingegen ein Missverständnis aus. Beatrice, die Kusine meines Freundes Matteo, machte an diesem Abend die Federico's Bekanntschaft. Nachdem sie sich einige Zeit unterhalten hatte, unterbrach sie ihn ärgerlich bei einer seiner Ausführungen und sagte:

„Federico, mi hai preso abbastanza in giro, per piacere continua a parlare normalmente“ („Federico, du hast mich jetzt lange genug zum Narren gehalten. Sprech’ doch bitte endlich normal“).

Federico zog daraufhin bedächtig seinen Kopf zurück wie eine Schildkröte, die Gefahr wittert und sich deshalb vorsichtshalber in ihrem Panzer versteckt, und sprach:

„Ma—io—so-no—in—bu-o-na—fe-de.“
(„Aber ich habe doch ein reines Gewissen“).


Eine tiefe Stimme, langsames Sprechen, bedächtige Bewegungen und ein Kopf ohne Hals waren aber nur äusserliche Besonderheiten, die eine Schale um den eigentlichen Kern seiner Existenz bildeten. Das zentrale Thema in Federico’s Leben war sein Bemühen den Lauf der Dinge, die seinen Weg bestimmten, bis in das Detail vorsehbar zu machen. Struktur und Regeln sollten sein Leben ingesamt durchdringen und dafür sorgen, dass sich dessen Alltag nach wohlvertrauten, sich wiederholenden Schemen abspielte. Unabwägbarkeiten waren der wahre Feind dieses Lebens. Sie beinhalteten die Möglichkeit, dass sich etwas anders entwickelte als es Planungen vorsahen und schafften damit ein Gefühl der Unsicherheit.
Deswegen liebte es Federico am liebsten gerade aus zu laufen, Strecken, die gut übersehbar waren, zurückzulegen. Die nächste Strassenecke bereitete ihm bereits Unbehagen. Denn hinter dieser konnte etwas Unerwartetes lauern.
Federico entfaltete in seinem Alltag zahlreiche Aktivitäten, um gegen Unabwägbarkeiten abgesichert zu sein:

Er hob Kassenzettel sorgfältig auf und zwar für sieben Jahre. Er tat dies aber nicht nur, um für den Fall gewappnet sein, dass eine Ware schadhaft war und ihm dieser Schaden beim Kauf nicht aufgefallen war. Denn dies rechtfertigte nicht die Aufbewahrungsdauer. Selbst wenn ihm ein Mangel erst nach sieben Jahren aufgefallen wäre so hätte er sie nicht mehr umtauschen können. Anhand der langen Aufbewahrungsfrist konnte Federico aber einen genauen Überblick darüber behalten, wann er welche Ware wo und zu welchem Preis eingekauft hatte. Federico hatte die Kassenzettel als Karteikarten zunächst nach Warenart und als Unterkriterium nach Örtlichkeit gegliedert. Wenn er eine Hose kaufen wollte, zog er den Register „Textilien“ und konnte dann feststellen in welchen Geschäften und zu welchen Preisen er Hosen während derletzten sieben Jahre gekauft hatte. Hiermit schien sichergestellt, dass er keine unnötigen Wege zurücklegen musste, sondern zielgerichtet ein Geschäft ansteuern konnte. Ein Rest Unabwägbarkeit blieb freilich: Erschienen Federico in einem Geschäft die Preise gemesssen an seinem letzten Einkauf zu hoch und beschloss die Ware woanders zu erweben, so hatte er zwar vermieden das Opfer von ungerechtfertigten Preiserhöhungen zu werden, gleichzeitig den Weg aber umsonst zurückgelegt. Es konnte aber eine noch ungünstigere Fügung des Schicksals eintreten, nämlich falls das aufgesuchte Geschäft nicht mehr existierte. In diesem Fall bliebe Federico nicht einmal der Triumph den Verkäufer der Preistreiberei entlarvt zu haben.

Desweiteren hatte Federico für einen Studenten von Anfang 20 eine ertaunlich hohe Anzahl von Versicherungsverträgen abgeschlossen. Für Federico waren Versicherungsverträge eine der genialsten Erfindung in der Geschichte der Menschheit. Die Natur, die mit ihrer Unberechenkeit eine Bedrohung für die Menschen darstellte, durch vertragliche Regelungen zu zähmen, indem diese jene Unberechenheiten in ein „Wenn...dann“ Schema zwängten, ja dies war wahrlich eine zivilisatorische Errungenschaft, die Federico ruhiger schlafen lies. Der reissende Fluss des Lebens mit seinen zahlreichen Untiefen und Stromschnellen wurde in den Augen Federico’s mit jedem abgeschlossenen Versicherungsvertrag ein Stück mehr begradigt und in ein Bett gezwungen, das ihn gleichmässiger dahinfliessen liess.

In seiner Manie das Leben vorsehbar zu machen, wurden Federico freilich auch Grenzen aufgezeigt. In Form von Statistikvorlesungen, die im Rahmen unseres Studiums obligatorisch waren, wurde Federico mit einer Welt konfrontiert, die ihm unheimlich war. Wenn Professor Regazzini während der Vorlesung den Begriff „Variable alleatoria“ ( Zufallsvariable) aussprach, verdrehte Federico angstvoll die Augen. Professor Regazzini versuchte Federico immer wieder klarzumachen, dass die Statistik nicht dem Zufall gehorche, sondern klaren Gesetzesmässigkeiten folge, die sich immer und immer wieder bei entsprechender Skalierung der statischen Experimente bestätigen würden.

„Lei deve capire che la statistica é la scienza, che rende le cose piú trasparenti e perció prevedibili“.
(„Sie müssen doch begreifen, dass die Statistik eine Wissenschaft ist, die dazu beiträgt, die Dinge transparenter und vorhersehbarer zu machen.“)

Er hob dabei beschwörend die Hände vor Federico. Federico zog misstrauisch seinen Kopf ein Stück zurück. Er wollte nicht experimentieren und dabei jedesmal die Ungewissheit des Ausgangs des Experiments ertragen zu müssen, nur um dann aus einer grossen Anzahl von Ergebnissen eine gewisse Tendenz lesen zu können. Nein, Vorsehbarkeit musste konkret und in individuellen Begebenheiten das menschliche Leben bestimmen. Eine abstrakte, wahrscheinlichkeitstheoretische Gesetzmässigkeit war für sein Wohlbefinden nicht ausreichend.
In seiner Verzweiflung brachte Professor Regazzini schliesslich eines Tages einen Würfel mit in die Aula, legte ihn vor Federico und sprach.

„Lei sa che la speranza matematica di un lancio di dado é tre e mezzo.
„Adesso, mi faccia il piacere di lanciare 100 volte questo dado e dopo ci raconti se trova confirmata questa legge probabilistica“
(„ Sie wissen, dass der Erwartungswert eines Würfelwurfes 3,5 beträgt. Seien Sie bitte so nett und würfeln Sie 100 mal. Dann teilen Sie uns mit, ob Sie dieses statistische Gesetz bestätigt finden.“)

Federico wich angstvoll zurück, hob schützend die Hand und sprach:

„No ,-- no,-- no,-- con –tut – to - i l – mi – o - ris – pet - to,- per - ró - non – so - no - un - gio – ca-to-re—di- da-di.“
(„Nein, nein, nein, bei allem Respekt, ich bin keine Spielernatur“)

Das natürliche Widerstreben sich auf Experimente mit ungewissen Ausgang einzulassen, hatte über den Respekt vor der Autorität, die Professor Regazzini besass, gesiegt.

Seinem Bestreben Unabwägbarkeiten aus seinem Leben zu verbannen setzte Federico durch sein alltägliches Einkaufsverhalten die Krone auf. Er ging dreimal die Woche, nämlich Montags, Mittwochs und Samstags bei der Supermarktkette S-lunga einkaufen. Der Supermarkt befand sich dreieinhalb Minuten zu Fuß von seiner Wohnung in der Via Archimede entfernt. Um den Zeitverbrauch beim Einkaufen zu minimieren,

 stellte Federico jedesmal eine Liste mit den zu kaufenden Waren auf;
 fertigte er einen maßstabsgetreuen Plan von den Regalen und Durchgängen des Supermarktes an;
 beschriftete er die Regale mit den Waren, die sie enthielten;
 schnitt er kleine Kreise aus rotem Tonpapier aus und legte die roten Punkte jeweils auf das Warenregal, das gerade mit Sonderangeboten warb. Einmal die Woche, nämlich nach dem Montagseinkauf, studierte er den Plan wie ein General, der vor einer Schlacht entscheiden muß, welche Streitkräfte er wo massiert, und verschob die roten Punkte bis sie den aktuellen Begebenheiten angepasst waren.


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Die Tragödie

Einmal kam jedoch alles anders. Eines Mittwochs, nachdem sich Federico die aktuelle Karte eingeprägt hatte, machte er sich auf den Weg zu S-lunga, die Liste in der Tasche und wohlwissend, was er wo zu welchem Preis zu kaufen hatte. Er betrat den Supermarkt, beschaffte sich einen Einkaufswagen, lenkte diesen langsam aber zielsicher durch die Gänge und begang seine Liste abzuarbeiten.
Dem ersten roten Punkt begegnete er bei dem Regal, in dem sein Lageplan das grobkörnige Salz markierte. Dies traf sich gut denn Letzteres ging zuhause der Neige zu und musste deshalb neu aufgefüllt werden. Er griff also in das Regal, um drei Packungen grobkörniges Salz in seinen Einkaufswagen zu legen. Als er die Packungen in der Hand hatte, hielt er einen Moment lang inne, schob seinen Kopf etwas näher an die Ware, hielt nochmals einen Moment inne und murmelte dann vor sich hin:

„Stra-no—stra-no.“
(„Seltsam, seltsam“).

Irgendetwas war hier ungewöhnlich, aber Federico konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was genau ihn beunruhigte. Er setzte seinen Weg durch den Supermarkt fort, arbeitete die verbliebene Liste ab und näherte sich schließlich der Kasse. Aber die innere Ruhe, die ihn noch auf seinem Weg zu dem Supermarkt gekennzeichnet hatte, war dahin.
Langsam und etwas verunsichert legte er die Waren auf das Kassenband. Er registrierte dabei kaum das freundliche „Buon giorno“ der Verkäuferin als diese begann die Waren einzeln mit dem Magnetstreifenleser einzugeben. Dabei wiederholte sie mit mechanischer Stimme, quasi als Bestätigung der Arbeit des Magnetstreifenlesers:

„Sei bottiglie di acqua fa 4.200 [Lire], tre etti di prosciutto di Parma sono 5.150, tre pacchetti di zucchero fa 2.700...“.

Federico, der trotz seiner Verunsicherung die Worte der Verkäuferin in seinem Kopf genau prüfte, erschrak bei den letzten Worten der Kassenangestellten. Zucchero? Er hatte keine drei Packungen Zucker gekauft, sondern grobkörniges Salz. Die Verkäuferin musste sich geirrt haben. Außerdem war der Preis für die drei Packungen nicht 2.700 Lire, sondern 1.600 Lire. Jede Packung kostete 800 Lire und beim Kauf von mindesten drei Einheiten gab es eine gratis. Er hatte doch erst vor zwei Tagen, am Montag Abend, die roten Punkte aktualisiert. Nein, ein Irrtum seinerseits war ganz und gar ausgeschlossen.
Nachdem er sich wieder gefasst hatte, schob er seinen Kopf langsam in Richtung der Verkäuferin und begann leicht ärgerlich, aber dennoch, ob der erlittenen Ungerechtigkeit, Haltung bewahrend, zu protestieren:

„Mi—scu-si,--Lei--si—sbagl-i-a:--Non—ho—com-pra-to—zuc-che-ro,--ma—sa-le—gros-so.—E—il—prez-zo—non—é—2-7-0-0,--ma—1-6-0-0,--per-ché—é—in—of-fer-ta—tre—per—du-e.“
(„Entschuldigen Sie, aber Sie irren sich: Ich habe keinen Zucker, sondern grobkörniges Salz gekauft und der Preis beträgt nicht 2700, sondern 1600 Lire, da es gerade im Angebot ist“).

Die Verkäuferin war ob des Gesagten und dessen Art und Weise leicht irritiert, bewahrte aber die Fassung und entgegenete freundlich:

“No guardi Lei ha comprato zucchero (Sie hielt ihm dabei mit einem freundlichen, leicht tiumphierenden Lächeln die Zuckerpackungen entgegen) e lo zucchero attualmente non é in offerta.“
(„Nein, sehen Sie hier, Sie haben Zucker gekauft und der ist momentan nicht im Angebot“.)

Federico war nun völlig außer sich. Dadurch wurde er beim Sprechen aber keineswegs schneller und aufgeregter, sondern seine Stimme nahm lediglich einen bleiernden, kraftlosen Ton an. Er entgegenete:

„No—no—no,--Le—pos-so—di-mos-tra-re—tra-mi-te—la--mia—map-pa,--che—i—pac-chet-ti—de-vo-no—es-se-re—sa-le—gros-so—e—in—piú—so-no—in—of-fer-ta.—So-lo—il—lu-ne-di—scor-so—ho—ac-tu-a-liz-za-to—i—pun-ti—ros-si.“
(„ Nein, nein, nein, ich kann Ihnen anhand meines Planes beweisen, dass die Packungen grobkörniges Salz enthalten müssen und im Angebot sind. Erst vergangenen Montag habe ich die roten Punkte neu gesetzt“.)

Die Verkäuferin hatte nun ihre Fassung verloren und stammelte: „Co-co-come, mi..mi scusi?“
Einige Momente lang herschte Stille und die Zeit schien stehen zu bleiben. Dann aber eilte eine andere Verkäuferin, welche die Unterhaltung zwischen dem eigenartigen Kunden und ihrer Kollegin mitbekommen hatte, zu Hilfe.

„Mi scusi, Signore, peró c’é una spiegazione molto semplice perché Lei non ha trovato il sale grosso al suo solito posto. Abbiamo spostato alcuni scaffali durante questi giorni e come consequenza lo zucchero si trova adesso dove prima stava il sale grosso.”
(“Entschuldigen Sie, mein Herr; es gibt eine ganz einfache Erkärung dafür, dass Sie das grobkörnige Salz nicht an seinem üblichen Platz gefunden haben. Wir haben in diesen Tagen einige Regale umgestellt und aus diesem Grund finden Sie den Zucker jetzt dort, wo früher das grobkörnige Salz stand“).

Federico öffnete und schloss zwei-, dreimal seinen Mund und schnappte dabei nach Luft wie ein Fisch, dem der Sauerstoff ausgeht. Die Kraft auf diese Vorfälle weitere strukturierte Erwiderungen zu geben fand er nicht mehr. Unter größter Anstrengung bezahlte er die gekauften Waren, wankte wie ein getroffenes Schlachtschiff dem Ausgang entgegen und brummte dabei in sich hinein:

„De-vo—ri-ni-zi-a-re—da—ca-po...--....la—map-pa...--...tut-to—da—ri-fa-re“
(„Ich muss ganz von vorne anfangen....der Plan.....alles nochmal“)

und seine Stimme wurde während der letzten Worte immer tiefer und lebloser.

In der folgenden Nacht träumte Federico schlecht:
Er hatte einen neuen Plan des Supermarktes angefertigt, in dem sämtliche Veränderungen, die sich bei den Umstellungen ergeben hatten, berücksichtigt waren. Einige Tage hatte er darauf verwendet sich die Veränderungen genau einzuprägen. Dann machte er sich guten Mutes eines Montags mit einer Einkaufsliste auf den Weg zu S-lunga.
Als er in die Via Fratelli Bronzetti bog und sich langsam dem Supermarkt näherte, wunderte er sich über das Fehlen des gewöhnlich regen Kundenbetriebes. Schließlich stand er direkt vor der Eingangstür des Supermarktes, die aber entgegen ihrer sonstigen Gepflogenheit keinerlei Anstalten machte sich automatisch zu öffnen. Statt dessen grinste ihn ein grosses Schild an, auf dem zu lesen stand:

PER LAVORI DI RESTAURO TEMPORANEAMENTE CHIUSO. LA GENTILE CLIENTELA É PREGATA A RIVOLGERSI ALLE NOSTRE LOCALITÁ IN VIA MURATORI.

(Aufgrund von Umbauarbeiten vorübergehend geschlossen. Die verehrten Kunden werden gebeten solange in unserer Filiale in der Via Muratori einzukaufen.)

Federico war wie gelähmt. Der neue Plan...alles umsonst. Es war noch nicht einmal angegeben, wie lange die Arbeiten dauern sollten. Während diesem Zeitraum sollte er gewungen sein in einem Supermarkt einzukaufen, dessen Räumlichkeiten ihm gänzlich unbekannt waren? Er hatte durchaus immer Vorräte zuhause eingeplant, aber auf so einen langen Überbrückungszeitraum war er nicht vorbereitet. Wie ein mittelalterlicher Heeresführer, dessen Stadt von übermächtigen feindlichen Kräften belagert wurde, überlegte er wie lange er wohl durchhalten könne. ..Nein, nein die Lage war aussichtslos.
Und außerdem: Wer garantierte ihm denn, dass nach Abschluss der Umbauarbeiten die Aufstellung der Regale wieder an seinem Plan ausgerichtet würden? Ja, es war sogar sehr unwahrscheinlich, dass dies der Fall sein würde, nämlich wenn alles beim alten – oder besser gesagt – bei seinem neuen Plan bleiben würde, gäbe es ja keinen Grund für die Durchführung von Umbauarbeiten. Und selbst wenn er nach Abschluss der Arbeiten – und wann dies sein würde war sehr ungewiss – einen weiteren - den dritten – Plan anfertigen würde, wäre dies nach dem Erlebten noch lange keine Garantie dafür, dass jetzt alles endgültig so bleiben würde.

Schweißgebadet erwachte Federico aus diesem Alptraum und murmelte noch im Halbschlaf ein tiefes und trauriges

„Bri-gan-ti“
(„Schufte“).

Die Welt meinte es nicht gut mit ihm. Er wähnte sich Opfer einer Dynamik, die von äusseren Kräften heraufbeschworen worden war und ausserhalb seiner Kontrolle standen. Federico fühlte sich wie ein Komet, der ruhig auf seiner vorgegeben Umlaufbahn dahinzieht und plötzlich durch äußere Krafteinwirkung aus dieser gestossen wird.

Er beobachte nun alles, was um ihn herum geschah mit Mißtrauen und entwickelte dabei eine Übersensibilität gegenüber Begebenheiten des Alltags, die uns keiner Aufmerksamkeit wert schienen. Als wir einmal für einer Vorlesung kurzfritsig die Aula wechseln mussten, konnten mein Freund Ivan und ich ihn nur mit Mühe davon überzeugen, dass der durch den kurzfristigen Aulawechsel verursachte Zeitverlust von höchstens fünf Minuten zwar ärgerlich aber keinesfalls dramatisch sei und dass sich dahinter kein geheimer Plan von höherer Stelle verberge, uns um unsere wohlverdiente Vorlesung zu bringen.

Ein weiterer Vorfall bestärkte ihn in seiner Verschwörungstheorie: Als wir eines abends in unserer Lieblings-Pizzeria „Topkapi“ in der Via Ponte Vetero saßen und eine Pizza aus der Speisekarte auszuwählen, zog Federico eine Liste aus seiner Brusttasche, auf der für eine große Anzahl von Lebensmitteln die Kalorienmenge angegeben war. Er wählte nämlich seine Pizza nicht wie wir nach unseren Vorlieben aus, sondern nach der Kalorienanzahl. Mehr als eine bestimmte Menge von Kalorien wollte er nicht zu sich nehmen. Er stellte einige Berechnungen an und entschied sich danach für eine Pizza Vegetariana. Diese enthielt laut Speisekarte neben dem Tomaten und Mozzarella-Belag Zucchini, Auberginen und Radicchio Trevisano . Nachdem wir die Pizzen bestellt hatten und der Kellner diese wenig später brachte, entschuldigte er sich bei Federico: Bedauerlicherweise sei der Radicchio Trevisano aus, dafür habe er die Vegetariana aber reichlich mit roten Paprikastücken belegt.

Federico erschrak. Dabei zog seine Reaktion eigenartigerweise das ganze Restaurant in seinen Bann: Die gerade noch lebhaften Gespräche an den Tischen um uns herum verstummten. Wir selber wagten vor Anspannung kaum noch zu atmen. Und der Kellner, der die Unglücksbotschaft hatte überbringen müssen, stand wie angewurzelt vor unserem Tisch. Die Zeit stand still. Schliesslich gewann Federico wieder die Fassung: Langsam zog er seine Kalorientabelle aus der Brusttasche und fand seine böse Vorahnung bestätigt: Die Paprika enthielten deutlich mehr Kalorien als eine vergleichbare Menge an Radicchio. Doch damit nicht genug. Hierdurch wurde die Höchstgrenze an Kalorien, die er sich selbst auferlegt hatte, überschritten.

Wieder mal hatte man ihm einen bösen Streich gespielt. Seine sorgfältig ausgearbeitete Ernährungsstrategie war durch eine Laune des Schicksal über den Haufen geworfen worden. Eine Laune des Schicksals? Nein. Hatte er nach den ersten Missgeschicken noch daran geglaubt, dass sein Feind die Unabwägbarkeit, der Zufall waren, so zeichnete er jetzt ein dramatischeres Bild von seiner Situation. Ihm fiel die Statistik und Professor Regazzini ein:..."nicht dem Zufall gehorche", ....."klare Gesetzesmässigkeiten, die sich bei entsprechender Skalierung der statischen Experimente bestätigen würden".... Die Missgeschicke, die ihm seit einiger Zeit mit Regelmässigkeit zustiessen, konnten kein Zufall, sondern mussten das Werk einer systematisch und strukturiert arbeitenden Gegenkraft sein. Federico war nun der Überzeugung, dass eine unsichtbare Hand unaufhaltsam daran arbeite sein wohlgeordnetes Leben zu zerstören.

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La grande finale

Die innere Isolation, in die sich Federico zurückzog wurde intensiver. Eines abends schritt er bedächtig in dem salotto seiner Wohnung in der via Archimede auf und ab und sann nach. Er fühlte sich als Trutzburg gegenüber bösen Kräften, die alles zersetzten und damit der Welt und dem menschlichen Dasein jede Art von Struktur nahmen. Die beschwichtigenden Worte seiner Freunde von der Universität waren zwar gut gemeint, aber nutzlos. Diesen fehlte der Blick für die größeren Zusammenhänge. Aber er sah die nahende Apokalypse. Noch aber widerstand er diesem universalen Zersetzungsprozess.
Er dachte an das Castello Sforzesco im Zentrum von Mailand, das über Jahrhunderte alle Kriege, Fremdherrschaften und sogar die sogenannten Segnungen der Moderne mit dem infernalischen Verkehr, der sich tagtäglich durch Mailand schob, überlebt hatte. Sicher, die Abgase nagten an dem alten Gemäuer und zersetzten es jedes Jahr ein bißchen mehr. Aber noch stand es dort. Stolz wie eh und jeh.
War er, Federico, nicht die menschliche Inkarnation des Castello Sforzesco? Dazu bestimmt den Kräften des Chaos die Stirn zu bieten? Wohl war, es war ein aussichtsloser Kampf, den er führte. Aber wenn sich schon die Welt gegen ihn verschworen hatte, so wollte er ihr doch ein würdiges Finale liefern.....

Es wurde Februar in Mailand. Das bedeutete tempo di carnevale. Und wenn der Fasching der lombardischen Metropole auch nicht ganz so berümt ist wie der der Serenissima , so ertrinkt die Stadt doch für einige Tage in Heiterkeit und Farbenpracht, was einen bemerkenswerten Gegensatz zu dem grau bildet, in das sich Mailand sonst während der Wintermonate hüllt. Außerdem ist der Höhepunkt der Faschingsfeierlichkeiten eine Woche später als in den anderen italienischen Städten. Mailand bleibt es somit vorbehalten den Schlusspunkt unter die Karnevalsfestivitäten zu setzen: „La finale grandiosa spetta a noi“ sagen die Mailänder stolz.

Das Zentrum des Faschingstreiben bildet die Piazza del Duomo. Dieser gewaltige, rechteckige Platz mit der stolzen Reiterstatue von Vittorio Emanuele II bildet das würdige Pendant zu der imposanten neugothischen Fassade des Duomo. Auf dem Piazza tummelt sich deshalb an dem letzten Faschingswochenende eine unüberschaubare Anzahl von maskierten Menschen: Menschen, die als Hexen, Teufel, Berlusconi oder Frankenstein, als Clown oder Hofnarr, als Indianer, als schweizer Gardist, als der Mailänder Herzog Ludovico el Moro, der im Jahre 1499 von den Franzosen aus seinem geliebten Castello getrieben wurde, oder als mittelalterlicher Ritter verkleidet durch die Mailänder Innenstadt ziehen.
Die Menschen spielen die jeweilige Rolle überzeugend: Die Hexen kreischen, der Hofnarr springt unruhig herum und schneidet dabei Grimassen, Ludovico el Moro steht würdig im Zentrum des Platzes und lächelt huldvoll, den Blick dabei verklärt gen sein Castello gerichtet, das sich nur wenige hundert Meter westlich von der Piazza del Duomo befindet, und der Ritter in seiner schweren Rüstung umschreitet bedächtig die Piazza, gerade so als fühlte er sich für den Herzog verantwortlich und wolle diesen bewachen. Dabei bewegt er sich wie ein Turm auf dem Schachbrett. Er läuft immer geradeaus bis er eine Seite der Piazza abgeschritten hat. Dann macht er langsam eine Drehung um 90 Grad und beginnt die nächste Seite abzuschreiten. Nie käme es ihm in den Sinn den vorgegebenen Kurs zu verlassen und die Piazza wie ein Läufer diagonal zu überqueren. Dies wäre ein klarer Regelverstoss.

Daneben wird die Piazza von einer Vielzahl von Touristen belebt, die aufgeregt ihre Kamera ziehen, den einen oder anderen Maskierten bitten, für ein gemeinsames Foto zu posieren, um so das Erlebte festzuhalten.

Das Faschingswochenende ging zu Ende und am nächsten Tag war das bunte Treiben aus den Strassen verschwunden. Der Nebel hatte Mailand wieder fest in seiner Hand. Er war so dicht, dass die Spitze der Domfassade nur umrissartig zu erkennen war. Dennoch so schien es, war ein Stück Fasching verblieben, dass standhaft dem Alltag zu trotzen versuchte.
Der Ritter in seiner schweren, bleiernen Rüstung zog weiter seine Kreise – das heisst natürlich seine Rechtecke – um die Piazza del Duomo. Zuerst hielten die Menschen das Ganze für einen Werbegag. Als er der Ritter aber auch noch am dritten Tag nach Beendigung der offiziellen Karnevalsfestivitäten marschierte, begannen die Leute sich doch zu wundern. Dabei war nicht nur die Tatsache, dass er weiter marschierte erstaunlich, sondern auch die Art und Weise wie er es tat: Diese unheimliche Gleichmäßigkeit, das Monotone in seinem Schritt. Er wirkte wie ein Wesen aus einer anderen Zeit, dass sich durch irgendwelche Umstände in das moderne Mailand des ausgehenden 20. Jahrhunderts verloren hatte.

Bald war der Ritter Tagesgespräch in den Mailänder Bars und Cafe’s. Er stahl den Straßenkünstlern, Jongleuren, Musikern und Händlern mehr und mehr die Show. Dabei tat er überhaupt nichts um die Aufmerksamkeit der Leute zu gewinnen. Nicht der Hauch eines Überraschungsmomentes oder etwas Spektakulären lag in seinem Auftritt. Im Gegenteil: Es war diese unheimliche Bedächtigkeit, jeder Schritt, der - wörtlich genommen - genau vorherzusehen war, der dem Ritter in mitten der hektischen Lomabardenmetropole etwas Exotisches verlieh.
War es gefährlich, sich ihm zu nähern oder sich ihm gar in den Weg zustellen? Einige besonders Kühne wollten ihm den Weg versperren. Sie stellten sich dem Ritter entgegen und hofften darauf, dass der Ritter einen Bogen um sie laufen oder gar vor ihnen anhalten würde. Was für ein Triumph wäre es, sich beim morgendlichen Café in der Bar damit brüsten zu können, den marschierenden Ritter zum Stoppen gebracht zu haben!
Als dieser aber nicht die geringsten Anstalten machte auch nur einen kleinen Schritt zur Seite zu treten oder seinen Schrittrhythmus zu ändern, bekammen es seine Herausforderer doch mit der Angst zu tun und traten im letzten Moment zur Seite.
Die Spannung wuchs von Stunde zu Stunde. Schließlich wagte doch ein Heranwachsender das Ungeheuerliche: Er sprang auf den Ritter zu und schob dessen Sichtschutz nach oben, um zu sehen wer sich in der Rüstung verberge. Im nächsten Moment wich er, als ob von einer unsichtbaen Kraft weggestossen, zurück und stiess dabei einen schrillen Schrei aus. Die Leute, welche um ihn herum standen, meinten zunächst er sei vor der tiefen, dumpfen Stimme erschrocken, die aus dem inneren der Rüstung erklang.
Nachdem sich der junge Mann wieder einigermaßen von seinem Schreck erholt hatte, brachte er zunächst stotternd nur ein Wort hervor: „V..V...Vuota!“ („Leer!“). Auf näheres Nachfragen der Leute wurde er etwas konkreter „L’armatura é vuota!“ („Die Rüstung ist leer!“). Die Leute schüttelten unläubig ihre Köpfe. Jeder der Nahestehenden hatte doch eindeutig vernommen, wie aus der Rüstung, in dem Moment als der tollkühne Herausforderer den Sichtschutz nach oben geklappt hatte, eine tiefe, dumpfe, zugegeben etwas leblos klingene Stimme ertönt war:

„Bri-gan-te“.

Außerdem, wie hätte denn eine leere Ritterrüstung laufen können? Der Herausforderer beharrte aber auf seiner Version und warf ob der ungläubigen Blicke, die er weiterhin erntete, schließlich verzweifelt seine Arme nach vorne und rief ärgerlich:

„Se ci volete credere o no: si é disfatto in area“
(„Ob ihr mir glauben wollt oder nicht, er hat sich in Luft aufgelöst“).

Die abenteuerliche Behauptung des jungen Mannes hatte dazu geführt, dass die Leute für einige Momente ihre Aufmerksamkeit auf diesen richteten und dabei die marschierende Rüstung vernachlässigten. Dies änderte sich wieder schlagartig als etwas vollkommen Unvorhergesehenes passierte: Die Rüstung, die eben noch auf den Duomo zumaschiert war, blieb bei den letzten Worten ihres Herausforderes stehen, verharrte einen Augenblick, drehte sich dann langsam um und begann sich in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung zu setzen. Es war als hätte sie die Außenwelt von ihrem vorgegeben Pfad abgebracht.
Die Leute wichen respektvoll einen Schritt zurück und beobachten nicht ohne ein gewißes Unbehagen angesichts der Möglichkeit, dass hier vielleicht doch höherer Kräfte im Spiel sein könnten, wie die Ritterrüstung langsam an ihnen vorbeizog. Sie hielt entgegen aller Gewohnheit auch nicht an der dem Duomo abgewandten Ecke der Piazza an, um die übliche 90 Grad Kehrwendung zu vollziehen, sondern lief schnurrgerade über die Piazza hinaus, direkt in Via Orefici hinein. Von dort aus zog sie weiter bis zu dem Piazza Cordusio und schließlich über die Via Dante Richtung Castello Sforzesco.

Die Leute folgten ihr, nicht ohne dabei einen gewissen Sicherheitsabstand einzuhalten. Sie wurden kurze Zeit darauf Zeugen eines Bildes, das Mailand seit vielen Jahrhunderten nicht mehr erlebt hatte: Ein Ritter, der in voller Rüstung, langsam das große Haupttor des Castello Sforzesco durchschritt.
Als die Rüstung in der Mitte des riesigen Haupthofes von dem Castello angelangt war, blieb sie abermals stehen und begann sich dann einmal langsam um die eigene Achse zu drehen, so als wollte sie den alten Gemäuern respektvoll ihre Ehre erweisen. Diejenigen der Schaulustigen, die sich am nächsten an sie heran gewagt hatten, meinten sogar sie hätten dabei ein tiefes, nostalgisches Seufzen vernommen.
Dann marschierte die Rüstung weiter in den zweiten Hof, durchquerte ihn und verliess das Castello durch das dem Parco Sempione zugewandte Tor. Die Leuten beobachten wie sie durch den Parco Sempione zog und von dort weiter über die Via XX Settembre, den Viale Porta Vercellina und den Viale D’Annunzio bis sie schließlich an der Porta Ticinese angelangt war, wo der Naviglio Grande seinen Ausgangspunkt hat .

Hier hatte der Nebel die Stadt besonders fest im Griff. Die Rüstung marschierte direkt an der Uferpromade des Naviglio Grande entlang. Die hartnäckigsten Verfolger waren ihr bis hierher gefolgt, blieben aber schließlich stehen, schauten ihr nach und beobachteten wie die Rüstung sich langsam in den dichten Schwaden des Mailänder Winternebel auflöste.....

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Nachwort

Wir haben Federico seit jenen Faschingstagen nie mehr gesehen. Jahre später, ich lebte längst wieder in München und war für ein Wochenende zu Besuch bei meinem Freund Ivan, stand ich in einer der alten Strassenbahnen der Linie 9, um an der Haltestelle Via Bergamo in unmittelbarer Nähe von Ivan’s Wohnung auszusteigen. Die Strassenbahn fuhr die Viale Piave entlang, überquerte die Piazza Tricolore und näherte sich schließlich der Haltestelle Via Pasquale Sottocorno – die Haltestelle, an der Federico zu gemeinsamen Universitätszeiten immer ausgestiegen war, um in seine Wohnung in der Via Archimede zu gehen. Als die Strassenbahn die Haltestelle erreicht hatte und die alten Holztürflügel nach innen aufklappten, hörte ich eine tiefe, traurige Stimme hinter mir:

„Mi—scu-si,--mi—fac-cia—scen-de-re—per—pi-a-ce-re“.
(“Entschuldigen Sie, lassen Sie mich bitte aussteigen.”)

Ruckartig drehte ich mich um. Aber da, von wo aus die Stimme erklang, war nur Leere.

 

Hallo Ludovico!

Willkommen bei den Wortkriegern!

Auch dein Text soll endlich einen Kommentar bekommen. (Normalerweise geht das hier mit dem Kommentieren schneller, aber die meisten Wortkrieger sind im Moment mit der laufenden Challenge beschäftigt. Du könnest allerdings auch etwas tun, um darauf aufmerksam zu machen, dass es dich gibt. Lies und kommentiere Texte anderer. Macht einen guten Eindruck, Geben und Nehmen und so.)

Du schreibst in deinem Profil, dass du bereits einen Roman veröffentlicht hast (Amazon, Bod oder so?). Dann tut es ja sicher nicht nötig, dich wie einen Anfänger zu behandeln.

Okay, zu deinem Text, der sehr lang ist. Ich habe erstmal eine Frage zu dem Zweisprachigen. Warum schreibst du das Italienische (?) und dann die deutsche Übersetzung? Das Italienische liest doch ohnehin kein Schwein (nur welche vielleicht, die zufällig Italienisch können), das sind also nur Textfüller, die einzig deinen Text länger machen. Es würde doch vollkommen reichen, wenn du einmal erwähnst, wie und in welcher Sprache die sprechen und dann das Ganze auf Deutsch abzuhandeln.

Zurück zum Textanfang, der schon mein Interesse nicht wecken konnte. (Und wenn ein Textanfang mein Interesse nicht weckt, dann lese ich normalerweise gar nicht weiter. Jetzt bin ich nur etwas weiter mit dem Text mitgegangen, um dir einen Kommentar schreiben zu können.)

Du beginnst deinen Text sehr berichtend, und du referierst über Dinge, die ich total uninteressant finde. So viele Wörter zum Beispiel über Fredericos nichtvorhandenen Hals!
Du schaffst es nicht, mein Interesse am Text zu wecken - und damit bin ich raus. (Hast du dir über Spannungsaufbau Gedanken gemacht? Das finde ich unheimlich wichtig.)

Noch kurz zur Zeichensetzung: "Federico’s Interesse" => Weg mit dem Apostroph, der wird in der deutschen Rechtschrebung so nicht benutzt.

So, mit meinem Komm wandert dein Text erstmal wieder an die Spitze der KG-Liste. Vielleicht bekommst du dann weitere Kommentare.

Grüße,
Chris

 

Hej Ludovico,

ich fand das anfangs noch ganz unterhaltsam, die Beschreibung von Federicos Seltsamkeit, hab den Text aber zunehmend überflogen. Ich würde Dir empfehlen, großzügig zu kürzen und Dich nicht allein auf Deine Kunstfertigkeit zu verlassen. Auf mich wirkt das fast wie ein Monolog von jemandem, der sich zwar gut ausdrücken kann, dem die Zuhörer aber gänzlich wurscht sind.

Es wird wenig gesprochen, dadurch gibt es wenig Auflockerung, wenig unmittelbares Handeln Deiner Figur und durch die nachgeschobene Übersetzung verpufft das bisschen Lebendigkeit dann auch noch.
Wie Chris verstehe ich an dem Punkt Dein Konzept nicht.

Nebenbei gefunden:

Sprich' doch bitte endlich normal.

Viel Spaß noch hier,
Ane

 

Zunächst mal vielen Dank an alle für Euere Kommentare.
Entschuldigt bitte meine lange Reaktionszeit.

Ich gehe kurz auf die verschiedenen Kritiken ein:
Das Zweisprachige: Ich war der Meinung, Federico kommt so authentischer rüber, aber der Einwand, dass dies ohnehin niemand liest, der kein Italienisch kann, ist natürlich richtig.
Erzählungsstil: Mehr als berichtend würde ich beschreibend sagen; die vielen Worte zu Federico sollen ein möglichst präzises Bild von im vermitteln; ich akzeptiere, dass Leser diese Persönlichkeitsbeschreibung uninteressant finden; Federico sollte nicht als aufregende sondern skurile Persönlichkeit rüberkommen.
Textlänge: Es ist eine lange Kurzgeschichte, wahrscheinlich kann ich die Geschichte straffen - danke für den Hinweis.
Desinteresse am Zuhörer: Ich kenne "mein Publikum" und dessen Vorlieben nicht und habe deswegen auch nicht versucht, hier einen bestimmten Geschmack zu treffen. Hier ist wohl die grundsätzliche Frage: Schreibt man, "für jemanden" oder schreibt man weil "man etwas zu sagen hat". Donna Leon schreibt z.B Jahr für Jahr ihre Krimis "für" ein Publikum, das sie vermutlich sehr gut kennt. Am anderen Extrem der Skala könnte man Franz Kafka finden, der in seinem Testament die Anweisung gegeben hatte, alle seine Manuskripte nach seinem Tod zu verbrennen. Er hat nie "für jemanden" geschrieben. Gott sei Dank hat sich sein Nachlassverwalter nicht an die Anweisung gehalten.
Nochmal vielen Dank für Euere investierte Zeit und Kritiken.

Beste Grüsse
Ludovico

 

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