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Nächtlicher Spaziergang durch einen Friedhof

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28.11.2016
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Nächtlicher Spaziergang durch einen Friedhof

Ist es nicht romantisch? Hier liegen jene, die keines Namens mehr bedürfen. An deren Geschichten sich niemand erinnert. Für die Tränen nicht länger fließen und nach denen sich kein Herz verzehrt. Ewiger Schlaf, ewige Ruhe. Sagt, was ist Euer Begehren an einem Ort wie diesem? Was hofft Ihr hier zu finden? Trost? Nervenkitzel? Zuflucht? Antworten auf Fragen, die Ihr nicht laut auszusprechen wagt? Ach, verzeiht mir doch bitte meine Aufdringlichkeit. Jedermanns Anliegen sind seine eigenen. Ich muss schon sagen, Ihr wirkt bemerkenswert gut ausgeruht für die späte Stunde. Es ist aber auch eine ganz reizende, kleine Gaststätte an der Weggabelung dort hinten, nicht wahr? Ich hoffe, es hat Euch gemundet? Essen und Trunk dort sollen ganz ausgezeichnet sein. Der Besitzer mag zwar etwas wortkarg sein, ist aber im Grunde seines Herzens ein anständiger, wenn auch leicht einfältiger Mensch. Nicht gerade die besten Voraussetzungen für einen Gastwirt, findet Ihr? Nun, die meisten scheint es nicht sonderlich zu stören. Der Vorbesitzer hätte Euch bestimmt mehr zugesagt, war er doch wie für diesen Berufsstand gemacht. All seine Stammkunden waren sich einig, dass es selten einen wärmeren, offenherzigeren Mann gegeben hat. Jeden Abend war das Haus von oben bis unten gefüllt mit Musik und Gelächter. Doch trotz der üppigen Speisen und Auftritte herumziehender Musikanten hatten die meisten Gäste stets nur Augen für des Wirts Tochter. Urteilt jedoch nicht zu voreilig, denn Schönheit war dem Mädchen versagt geblieben. In den Jahren ihrer zarten Jugend geriet sie in die Mitte einer Auseinandersetzung zwischen zwei betrunkenen Gästen und verlor dabei das Licht in ihrem linken Auge sowie das Gefühl im rechten Arm. Sie sprach kaum mit den Gästen, doch waren sie alle hingerissen von ihrem stummen Lächeln und ihrem Fleiß und Gehorsam. Wie glücklich sich der Wirt schätzen konnte, eine solche Tochter zu haben. Euch beunruhigt die Dunkelheit doch hoffentlich nicht allzu sehr? Ich bin sicher, dass die Lady im Mond bald wieder aus ihrem Versteck hinter den Wolken hervorkommen wird. Auch in jener Nacht verbarg sie ihr Antlitz.
Die Festlichkeiten waren, wie gewohnt, in vollem Gange und das Bier wollte nicht aufhören zu fließen. Da ging die Tür auf und ein Fremder an diesem Ort trat ein. Er trug Kleidung aus feinstem Stoff und Leder. Der Mann blickte sich nur für einen Moment in der Runde um, bevor er schnurstracks auf die junge Frau zutrat und sie am lahmen Arm packte. Ein paar Stammgäste sprangen auf, um der Maid zu Hilfe zu kommen, doch sie lächelte einfach weiter in ihrer nahezu kindlichen Weise. Ohne die Miene zu verziehen, setzte sie wortlos das Tablett ab und führte ihn an der Theke vorbei in die hinteren Räume, fernab von den Blicken der anderen Gäste. Der Wirt kam hinzu und fragte, was der Grund für diesen Tumult sei. Der Fremde verkündete sogleich, dass er einen Auftrag von höchster Priorität für den Mann und seine Tochter habe. In kurzer Zeit werde ein bärtiger Geselle mit einem weiten Mantel eintreten. Wenn die Wirtstochter ihm seinen Trunk bringe, möge sie eine Handvoll dieses Puders unbemerkt hinzufügen, was einen einschläfernden Effekt auf ihn haben werde. Der Mann erkundigte sich außerdem, ob es in diesem Haus nicht noch andere Frauen von mehr Anmut und Lieblichkeit als diese gebe. Nachdem der Wirt es ihm verneinte, meinte der Mann, dass das Mädchen wohl genügen müsse. Sie solle sich in das Bett des Schlafenden legen und dort bis zum Morgengrauen verharren. Der Wirt hatte eine Ahnung, was der Fremde mit diesem merkwürdigen Wunsch wohl bezweckte, sagte aber zunächst nichts in der Hoffnung auf Vergütung. Und tatsächlich musste er nicht lange warten, bevor sich ein Sack voller Goldstücke in seinem Besitz befand. Eifrig sicherte er dem Fremden seine Mithilfe zu und schärfte seiner Tochter ein zu tun, was von ihr verlangt wurde. Das Mädchen nickte und verbarg den Beutel mit dem Puder in ihrer Schürze. Zurück in der Gaststube versicherte sie den Kunden, dass alles in Ordnung sei. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bevor ein überaus hochgebauter Mann mit struppigem Vollbart eintrat. Er bat den Wirt um ein Zimmer, welches ihm dieser mit höchster Freundlichkeit zur Verfügung stellte. Daraufhin ließ sich der Riese an einem Tisch nieder und bestellte ein Bier. Bevor sie es ihm hinstellte, ließ die Wirtstochter geschickt einen Teil des Puders hineinfallen. Der Gast leerte den Krug genüsslich in einem Zug. Nach einem Mahl aus Hasenragout schleppte er sich bald leicht torkelnd die Stiegen hinauf. Wenig später war sein Schnarchen bis auf den Gang hinaus zu hören und die junge Frau schlich sich unbemerkt in sein Zimmer.
Oh, gebt Acht, dass Ihr Euer schönes Gewand nicht an den Dornen zerreißt! Mutter Natur selbst hält Wache über die Seelen der Namenlosen hier. Wo war ich? Ach ja, die Wirtstochter saß nun also am Bett des Schlafenden. Es vergingen jedoch kaum mehr als ein paar Stunden, bevor dieser sich zu rühren begann. Die schlaue Jungfrau hatte nämlich nur die Hälfte von der ihr aufgetragenen Menge des Schlafmittels in den Trank geschüttet. Sie flüsterte sanft in sein Ohr und erzählte ihm von dem Plan des reich gekleideten Fremden. Anscheinend handelte es sich bei ihm um einen niedrigeren Adeligen, dessen Ziel es war, die Verlobte des hochgewachsenen Mannes und ihr beträchtliches Vermögen an sich zu bringen. Sicherlich hatte er bereits eine Nachricht an die Ahnungslose geschickt, dass sie am nächsten Morgen hierher kommen solle, um ihren Geliebten mit einer anderen in den Armen vorzufinden. Der bärtige Riese bedankte sich bei dem Mädchen für ihre Ehrlichkeit und gemeinsam schmiedeten sie einen Plan, um es dem falschen Anwärter heimzuzahlen. Da jener sich ebenfalls im Gasthof eingemietet hatte, würde sich die Tochter stattdessen heimlich zu ihm ins Bett legen. So könnten sie der Verlobten zeigen, dass all sein zärtliches Getue um sie nichts als Schwindel gewesen war. Zu diesem Zweck durfte ihnen allerdings der Wirt nicht dazwischenkommen. Das Mädchen überredete ihren Mitverschwörer, den Vater zu überwältigen und im Keller einzuschließen. Seine Tochter würde ihn später wieder herauslassen. Und so geschah es dann auch. Wäre das nicht ein passendes Ende für diese Geschichte? Was meint Ihr? Bloßstellung für den Lügner und Triumph von Liebe und Aufrichtigkeit, klingt das nicht schön? Doch schaut Euch nur einmal um. Ist es nicht an einem Ort wie diesem, wo Geschichten ihren wahren Schluss finden? Tatsächlich fand das Liebespaar das Zimmer des Schuldigen am nächsten Morgen leer vor, ohne jegliche Spur seines Verbleibens. Auch das mysteriöse Mädchen war unauffindbar. Der Mann beschloss seine Verlobte nach Hause zu begleiten und am nächsten Tag zurückzukehren. Doch dafür war es zu spät.
Das Wirtshaus hatte auf unerklärliche Weise Feuer gefangen, und bis es gelöscht werden konnte, war nicht viel mehr als eine verkohlte Ruine übrig. Im Keller fand man die Überreste des unglücklichen Wirts, wie er sich dem Anschein nach mit aller Kraft gegen die verriegelte Tür geworfen hatte, bevor er seinem Schicksal erlegen war. Merkwürdigerweise wurden keine anderen Leichen aus den Trümmern geborgen. Sowohl von dem jungen Adeligen als auch dem halbblinden Mädchen mit dem lahmen Arm wurde nie wieder gehört. Komisch, wie sich das Leben manchmal so abspielt. Ah, hier ist endlich, wonach ich gesucht habe! Erinnert Ihr euch, wie ich sagte, dass sich niemand mehr an die Vergrabenen hier erinnert? Ein paar Aussnahmen scheint es doch zu geben. Der jetzige Besitzer des Gasthauses, welches er mit eigenen Händen nach dem Brand wieder aufgebaut hat, scheint ein sentimentaler Zeitgenosse zu sein. Regelmäßig stellt er einen frischen Krug Bier auf das Grab des vorigen Wirts. Ich kam hierher, um mir die Ruhestätte jenes Menschen anzusehen. Wisst Ihr, dass es noch ein weiteres Ende gibt? Eines, das niemand sonst kennt. Eines, das mir meine Mutter vor langer Zeit erzählt hat. Von einer Frau, die seit ihrer Geburt nichts als Leid und Spott ertragen musste. Aufgewachsen unter Trunkenbolden, für die sie sich von morgens bis abends krumm schufften musste. Die sie priesen und lobten für ihre Verkrüppelungen als wären es wertvolle Güter, auf die man geradezu stolz sein sollte. Für Jahre ohne Ende war sie gezwungen unter dem Joch eines Mannes dahinzuvegetieren, dessen Vergnügen es war, sie jeden Tag an ihre Hässlichkeit und Schwäche zu erinnern. Niemals würde sie von ihm wegkommen, flüsterte er ihr zu, wenn sie das Bier für die Gäste von ihm entgegennahm. Könnt Ihr es erahnen, was sich in ihrem Herzen geregt haben muss, als das Inferno diesen Ort des Grauens verschlang? Wie die Flammen in dem schimmrigen Weiß ihres geraubten Auges getanzt und frohlockt haben? Kein falsches Lächeln war mehr auf ihrem Gesicht zu sehen. Nein, gejauchzt und geschrien vor Euphorie hat sie! Oh, verzeiht mir bitte meinen Ausbruch! Es hat mich einfach die Wahrhaftigkeit dieses Moments überkommen. Hier stehe ich unter dem Sternenmeer und da unten liegt er, kalt und einsam, mit niemandem außer seiner eigenen Bosheit als Gesellschaft. Die moralischen Prinzipien der familiären Bande gebieten mir, sein Andenken zu ehren, aber in meinem Herzen trage ich weder Trauer noch Mitleid um ihn. Ach, ist es nicht eine herrliche Nacht? Ich danke Euch von ganzem Herzen, dass Ihr mich bis hierher begleitet und mir als Zeuge beigestanden habt. Nun will ich Euch nicht länger von Euren eigenen Pflichten abhalten.

 

Hallo ShadowOnigiri (mmmh lecker ;)),

für mich hat sich deine Geschichte wie ein Märchen lesen lassen, was du ja beabsichtigt hast. Mir hat die Erzählung und damit auch der sprachliche Stil gefallen (erst im Nachhinein merkt man, dass der Erzähler an einigen Stellen sarkastisch war). Die Wendung am Ende fand ich beeindruckend. Erst empfindet man Mitleid für den Wirt, dann verabscheut man ihn und dadurch, dass man am Ende wieder auf sein Grab verweist, hat man eine schöne Rahmenhandlung. Ich muss zugeben, dass ich die ersten Sätze für pseudopoetische Plattitüden gehalten und hatte keine großen Erwartungen gehabt aber der stets steile Spannungsbogen hat mich positiv überrascht.

Gern gelesen

Nova

 

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