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Ein Dienstag

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30.11.2016
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Ein Dienstag

I

Ein tiefer Gong klingt dumpf durch den Boden. Die Standuhr der Vermieter schlägt fünfmal in der Wohnung eine Etage tiefer. Ich wache auf. Mein Kopf ist schon darauf eingestellt, hat das erwartet. Trotzdem ist es im Bett gemütlich. Außerdem, die Uhr da unten geht vor! Sie korrigieren das nie. Also habe ich noch … Mein Tablet und das Smartphone beginnen gleichzeitig zu spielen, das eine einen klingenden, sanften Weckruf, das andere eine schnelles Techno-Pop-Lied … "Hier ist alles super! …" Das ist aus einem Film. Das war mal witzig gewesen. Wenigsten die beiden wecken mich immer synchron. Fünf Uhr. Zeit aufzustehen!
Ich öffne die Augen. Meine Hand greift zu den beiden Störenfrieden und stellt sie ab. Der erste Fuß steht schon auf dem Boden. Es ist noch dunkel. Die ersten zwei Schritte sind noch unsicher. Dann geht es. Ich komme morgens immer schnell in Fahrt, bin nach dreißig Sekunden richtig wach! Ich mache das Licht im Flur an und gehe mit dem Tablet in die kleine Toilette. So beginnt jeder Tag. Während ich da sitze, beginne ich zu lesen … Neue Emails? Das sind bloß die automatischen Benachrichtigungsmails aus dem Büro. Ich lösche sie, wie jeden Morgen … Neue Chat-Nachrichten? Tina hat noch ein winkendes Smiley geschickt. Das habe ich nachts wohl schon nicht mehr mitbekommen …Nachrichten der Welt? Nachts war offenbar nichts Aufsehenerregendes auf dem Globus passiert. Die Regierung hatte bis spät in den Abend ein Spitzentreffen, ohne nennenswerte Ergebnisse offensichtlich. Irgendwo am anderen Ende der Welt hat es ein Zugunglück gegeben. Die Meldung ist nur kurz. Das Bild ist halt interessant, macht Schlagzeile und verkauft sich. Flüchtlingskrise? Heute nicht mehr in den Schlagzeilen. Das hat die ganze Gesellschaft in eine Krise gestürzt. Grundfeste, die so sicher galten, geraten überall ins Wanken. … Neues im Forum? Auch da hat niemand etwas Interessantes gepostet. Aber da bin ich auch nicht mehr mit dem Eifer unterwegs, wie früher. Die Diskussionen wiederholen sich ständig …
Offenbar soll das so ein normaler, spannungsloser Tag werden. Alltag im gleichen Trott.
Fertig! Ich stehe auf, spüle und gehe ins Wohnzimmer. Der Fernseher ist schon an, Zeitschaltung. Da flimmern die letzten Minuten einer Comedyserie über den Schirm. Natürlich eine Wiederholung. Die Serie hatte ihren Höhenpunkt im letzten Jahr. Jetzt ist das nur billiges Füllmaterial. Die morgendlichen Zuschauer sind ebenso unwichtig wie genügsam. Das passt schon … Ich nehme meine Brille vom kleinen Tisch und schaue ein wenig zu. Die Serie ist ja auch nicht schlecht. Ich ertappe mich dabei, dass ich doch noch schmunzle.
Gut, die Uhr bleibt nicht stehen. Ich gehe in die Küche. Kaffee! Früher mochte ich das Gebräu nie. Heute ist es tatsächlich mein tägliches Genussmittel. Ich liebe Kaffee, ohne Zucker aber mit Milch … ich brauche diesen bitteren Geschmack, ich mag das weiche Gefühl im Mund. Die Dose steht im Kühlschrank. Ich nehme zwei Löffel der griechischen Mischung, streue sie in den Metallbecher, gieße kaltes Wasser ein, mische es und stelle den Becher auf den Herd. Ich stelle die Hitze auf mittlere Stufe und hole schon mal die Milch aus dem Kühlschrank.
Unten steht mein Auto, gut geparkt. Vor ein paar Tagen war es noch eng gewesen. Da hatte eine Baustelle in der Nachbarstraße eine ganze Reihe Parkplätze gesperrt. Die waren alle hierhin ausgewichen.
Ein Fahrrad fährt vorbei. Das ist der Zeitungsausträger. Wobei, das sind ja keine Zeitungen, das sind nur Werbepamphlete, die sich den Anstrich „Lokalzeitung“ geben, nur um möglichst viel Werbung ungefragt in allen Briefkästen platzieren zu dürfen. Aber der Mann da unten tut auch nur seinen Job, jeden Morgen, bei jedem Wetter. Manchmal begegnen wir uns, wenn er spät dran ist und ich besonders früh dran bin.
Im Becher wächst langsam ein blasig-cremiges Gemisch. Ich warte, geduldig. Es riecht gut. Ich schütte das obere Drittel in meine Tasse und lasse den Rest nochmal richtig aufkochen. Erst dann kommt der ganze Kaffee in die Tasse … und ein Schuss Milch. Das gehört nicht zum Original, aber das ist mein Rezept. Ich gehe wieder ins Wohnzimmer.
Jetzt hat das Frühstücksfernsehen begonnen. Morgendlich freudige, aufgeweckte und sommerlich gekleidete Moderatoren sitzen da auf einer Couch und strahlen in die Kameras. Perfekt gestylte Typen. Zwei Pärchen, Mann-Frau-Mann-Frau. Belangloser Smalltalk. Normalerweise sehe ich das schon nicht mehr. Ich wäre eigentlich bereits aus dem Haus. Jetzt nehme ich einen Schluck aus der Tasse. Den ersten Kaffee habe ich sonst immer erst im Büro. Im Fernsehen machen sie einen Witz, den ich nicht mitbekomme. Irgendetwas stört mich da … ‘sommerlich‘ … es ist doch schon viel kälter und feuchter draußen. Warum kleiden die sich immer noch so? Andererseits … es ist nett anzuschauen und passt zur Stimmung auf dem Bildschirm. Es ist nur nicht meine Stimmung.
Im Haus gegenüber gehen oben die Lichter an. Die junge Tochter macht sich fertig. Unten sitzt schon deren Katze vor der Tür, auf der Treppe und beobachtet die Straße. Als wäre das ihr Revier … dabei ist die dreibeinige Katze vom anderen Haus nebenan ganz offensichtlich die uneingeschränkte Herrscherin hier. Nicht nur, dass sie jeden Kampf gewinnt … sie such das richtig und macht jeder anderen Katze Stress! Einmal hatte ich sie gesehen, wie sie mit ihren drei Beinen ganz behänd rüber gehumpelt ist, genau auf die andere Katze zu, und hat ihr einfach eine verpasst … Jedem, der sie sieht, tut die Kleine leid. Nur ihr selbst macht das fehlende Bein offenbar überhaupt nichts aus. Sie bringt im Sommer sogar regelmäßig eine Maus mit …
Im Treppenhaus wird es unruhig. Eine Tür fällt zu, ein Schlüssel dreht sich im Schloss, leichte Füße hüpfen die Treppe runter. Das ist Daria, die Nachbarin, offenbar auch schon auf dem Weg zur Arbeit. Bei ihr ist letzte Woche der Freund eingezogen, ganz freundlich, ganz zuvorkommend. Der war schon früher immer Gast. Jetzt steht sein Name mit auf dem Briefkasten. Sie hat auch zwei Katzen. Die leben nur in der Wohnung und kommen nie raus. Manchmal schauen sie scheu durch den Türspalt und springen sofort weg, sobald man ihnen Aufmerksamkeit schenkt.
Ich sitze immer noch da und schaue das belanglose Frühstücksfernsehen. Jetzt ist es schon so weit, dass sie sich wiederholen. Dieselben Themen, dieselben Berichte werden anmoderiert. Offenbar sollte die erste Gruppe der Frühaufsteher jetzt durch sein, fertig und unterwegs in den Arbeitstag. Ich sitze noch. Draußen wird der Himmel heller. Die Sonne wird bald aufgehen. Die Leute aus der Nachbarschaft gehen mit ihren Hunden raus, in den Park gleich nebenan. Zwei Jogger sind auch schon unterwegs. Ihre Münder blasen kleine Wölkchen in schnellem Rhythmus in die Luft. Offenbar ist es kalt da draußen. An den Scheiben hat sich von innen auch Kondenswasser abgeschlagen. Alle zwei Tage gehe ich dort auch laufen. Ich bin aber kein „Morgen-läufer“ und mache auch nicht die großen Strecken, bin dafür aber sehr zügig unterwegs. Jetzt, im Winter, fällt es mir manchmal schwer mich zu motivieren. Nach der Arbeit wird es schnell dunkel und es ist eben meistens kalt. Sobald Schnee liegt, wird der Park aber richtig malerisch. Ob das heute noch so ein Tag wird?
Jetzt fahren immer mehr Autos unten vorbei. Sie biegen in die Sackgasse ein und halten weiter hinten. Dort ist ein Kindergarten, noch kein Jahr in Betrieb. Die Eltern bringen ihre Kinder. Als ich klein war, hatten wir das noch zu Fuß gemacht … Sie blockieren die Straße. Wenn jetzt der Krankenwagen von der anderen Seite los muss, oder der große Löschzug der Feuerwehr, wird es eng in der schmalen Straße. Aber nach dreißig Minuten ist das auch wieder vorbei. Dann wird es wieder ruhig in der Straße.
Gegenüber steht die junge Tochter auf dem Balkon. Sie raucht und bläst ihren Qualm lässig in die Luft … ganz Ritual, ganz wie die Großen. Da schüttle ich nur den Kopf. Zum Glück ist das an mir vorbei gegangen. Ich rauche nicht. Als Kind hatte ich einmal einen einzigen Zug von der Zigarette meines Vaters. Wir waren im Keller gewesen. Er hatte irgendetwas gesägt. Ich sehe das Mundstück noch vor mir und wie ich es zögernd und mutig zugleich aufnehme. Ein Zug, einen einzigen … und nie wieder! Wenigstens schnippt sie da drüben die Kippe nicht mehr auf die Straße, sondern drückt sie in einen Aschenbecher.
Die Sonne ist ganz aufgegangen und wirft endlich ihr Licht auf die erstarrte Landschaft an diesem klaren Wintermorgen. Man kann die Kälte förmlich ‘sehen‘. So sieht die Welt nur aus, wenn sie kalt ist, wenn sie gefroren ist.
Ich bringe meine Tasse in die Küche, wasche sie noch ab und stelle sie zum Trocknen hin. Warum eigentlich? Dann gehe ich ins Bad und beginne das kurze Ritual der Morgenwäsche. Ich putze die Zähne und betrachte mich im Spiegel. Die Jahre zeigen sich. Ich bin nicht mehr so jung, zumindest nicht so, wie ich mich fühle. So geht es wohl jedem. Man fühlt sich doch immer ok, aber man wird immer älter und älter. In der alten Wohnung war ich eines Tages den beiden Nachbartöchtern begegnet … und die hatten mich einfach gesiezt! Das war hängen geblieben … so viel zur Eigen- und Fremdwahrnehmung! Heute bin ich noch einen ganzen Zacken älter. Aber wirklich schlecht gealtert bin ich nicht.
Ich spüle mein Gesicht ab. Das heiße Wasser erfrischt. Die Haut wird richtig rot. Es perlt an meinem mehrtägigen Bart ab. Früher, in der Armee, musste ich mich jeden Tag rasieren. Heute nicht mehr! Einmal die Woche noch! Manchmal seltener.
Ich halte die Haare unter den Wasserhahn, bis der Schopf richtig nass ist. Ich rubble schnell das Handtuch darüber. Die Haare stehen jetzt. Ich kämme sie in eine ordentlich Linienformation. Dann drücke ich sie in die richtige Form nach vorne. Sieht gut aus! Heute frage ich mich, wie ich als Student unendlich viel Zeit und Aufwand in dieses Prozedere stecken konnte? Und wenn es schief gegangen war, am besten gleich nochmal von vorne begonnen! Das wirkt heute so absurd. Ob so oder so, man sah doch immer irgendwie gleich aus.
Ich putze meine Zähne. Morgens mache ich das klassisch, mit einer einfachen Zahnbürste. Normalerweise kommt das auch erst im Büro, nach dem ersten Kaffee. Abends nutze ich eine elektrische Zahnbürste. Einen echten Grund hat das nicht. Ich will wohl einfach beide Welten nutzen. Fertig. Ich spüle den Mund aus und nehme einen Schluck Wasser.
Die Brille! Erstaunlich, wieviel Dreck sich in vierundzwanzig Stunden auf den paar Quadratzentimetern Glas sammeln kann, sogar hartnäckig anhaften kann. Ich muss wieder in die Küche. Mit Wasser spüle ich erstmal den groben Dreck weg. Dann nehme ich einen Klecks Spülmittel auf Daumen und Mittelfinger, nehme die Brillengläser zwischen die beiden und reibe das dickflüssige Gel auf. Während ich reibe, gehe ich wieder ins Bad und reiße dort einen Fetzen Toilettenpapier ab. Dann nochmal unter das Wasser, die Brille abspülen. Das Wasser perlt perfekt ab. Jetzt ist sie sauber, streifenfrei. Nur noch ein paar Wasserperlen hängen an den Gläsern. Die tupfe ich vorsichtig mit dem Papier ab. Jetzt nur keine Flecken auf das Glas drücke, oder irgendwelche Streifen ziehen. Fertig. Die Brillengläser sind klar und trocken. Letztes Jahr habe ich das noch falsch gemacht: heftiges Reiben mit einem Tuch oder Toilettenpapier. Das zerkratzt den Kunststoff und macht eine feine Riefelung ins Material, nicht in die harte Deckschicht auf der Oberfläche. Da hält so ein Glas bestenfalls drei Jahre, eher weniger. Im Winter stören dann Lichthöfe um jede Lichtquelle in der Dunkelheit. Danke an den Optiker, der es mir endlich erklärt hat.
Die Brille sitzt. Ich gehe ins Schlafzimmer. Hinter der Tür hängt meine Kleidung. Ich ziehe die Jeans an, ein fein gemustertes, blaues Hemd, einen dunklen Pullover aus Kaschmirwolle. Im Winter ist dieser Stil mein Standard. So oder so ähnlich sieht man mich meistens im Büro. Ob unsere Sekretärin schon gemerkt hat, dass ich nicht da bin? Oder der Direktor? Mit ihm liefere ich mir morgens ein Wettrennen, wer zuerst die dritte Etage betritt … naja, nicht wirklich.
Fertig! Ich gehe wieder ins Wohnzimmer. Jetzt röhrt draußen ein Porschemotor. Das ist einer der Nachbarn zwei Häuser weiter, dem sein lautes Statussymbol offenbar wichtiger ist als jeder Gedanke an die Nachbarn. Unten steigt das Paar von oben in ihre beiden Autos. Auch die haben zwei Katzen, die ich aber noch nie gesehen habe. Ich habe das auch nur von anderen gehört. Er trägt denselben Namen wie ich. Vor kurzem haben beide geheiratet. Aber echten Kontakt zu denen habe ich nicht. Sein Junggesellenabschied war eine ordentliche Überraschung gewesen. Ich selbst hatte unten das Fahrrad repariert. Als er aus der Tür kam und ich gerade so ein „Hallo …“ über die Lippen gebracht hatte, schossen plötzlich drei Autos laut hupend um die Ecke. Maskierte Typen sprangen raus, machten richtig Stress und Terror und haben ihn gefangen … und dann verschleppt … alles unter dem Kameraauge seiner grinsenden Freundin.
Offenbar lebe ich inmitten von Katzen. Über mir, in der Wohnung nebenan, in den Nachbarhäusern. Mindestens sechs Stück leben hier. Letztes Jahr waren es sieben gewesen. Die Schwarze war verschwunden. Selbst die Vermieter haben „Katze“ im Namen! Ich selbst mag Katzen, habe aber keine. Keine Zeit und nur in der Wohnung sollte sie auch nicht leben.
Jetzt wird es still. Bin ich der Letzte im Haus? Die Straße ist leer. Keine Bewegung mehr. Alle sind ausgeflogen. Alle haben einen neuen Tag begonnen. Was ist heute? Ein Dienstag.
Ich setze mich hin. Den Fernseher nehme ich schon nicht mehr wahr. Die Zeit verstreicht weiter, ohne dass ich bewusst denke. Ich merke es gar nicht. Ich sitze einfach und bin … bin bei mir. Eine ruhige Leere, das spüre ich jetzt, das bin ich jetzt. Das fühlt sich einfach an, klar. Das ist einfach und klar. Wie ein Gleichgewicht. Da ist nicht mehr. Da bin nur noch ich.
Ich hole Luft. Es ist Zeit. Warum noch länger warten? Das ändert nichts. Ich möchte auch nichts mehr ändern. Ich stehe auf, ziehe meine schwarze Jacke an, binde den karierten Schal um den Hals, schlüpfe in die dunkelbraunen Schuhe. Ich habe schon den Schlüssel in der Hand. Aber der Fernseher läuft noch. Ich gehe die paar Schritte zurück und mache ihn aus.
Wieder ein paar Schritte in die andere Richtung und ich bin zur Tür hinaus. Sie fällt ins Schloss, ich schließe zweimal ab und ziehe nochmal am Knauf nach, dass der Riegel richtig einspringt. Mit schnellen Schritten springe ich die Treppe hinunter, vorbei an der Tür der Vermieter, an der Tür zum Garten, an den vier kleinen Grafiken und dem alten Bild, an der Kellertür. Ich gehe hinaus. Die Luft ist kalt und trocken. Sie prickelt auf der Haut, gar nicht unangenehm. Die Augen tränen sofort. Mein Atem formt feine Wölkchen. Totes Laub liegt noch auf der Straße. Die Bäume sind ganz kahl in der kalten Luft. Es liegt noch immer kein Schnee. Dabei wäre es an der Zeit und auch kalt genug. So wirkt die Wiese im Park irgendwie verwundbar, offen, verletzt, wie meine Haut an der kalten Luft.
Um die Ecke steht mein Auto. Nichts Besonderes. Fünf Türen, dunkles Metallicrot, ganz praktisch. Das war ein guter Kauf gewesen. Ich öffne die Tür. Und jetzt zögere ich doch einen Moment. Nein, nicht zögern, einfach nur innehalten und diesen letzten Moment wahrnehmen. Ich blicke mich um. Die Straße ist leer. Nur noch ein Auto steht weiter unten. Der Himmel ist richtig blau. Die Sonne wirft ein gleißendes Morgenlicht herab. Ich schaue nochmal nach oben, zu den Fenstern meiner Wohnung. Am Himmel zieht ein Flugzeug einen Kondensstreifen durch die kalte Luft. Dann steige ich ein.
Meine Hand reicht zum Armaturenbrett. Ich drücke den Startknopf …


II​
Ich atme. Ich atme ganz bewusst. Mein Herzschlag beruhigt sich. Gerade hat es noch richtig im Hals gepocht. Ich lehne gegen eine Wand, den Kopf leicht nach oben geneigt. Jetzt ist es schon besser. Ich schaue mich um. Ich lausche. Alles läuft wie in Zeitlupe. Ich erlebe jeden Atemzug, spüre fast jeden Herzschlag. Und gleichzeitig ist alles andere um mich unklar. Nicht verschwommen, aber irgendwie belanglos, uninteressant, gedämpft. Meine Zeit läuft langsamer ab, aber ich nehme nicht mehr wahr.
Draußen ist es laut. Jemand ruft etwas. Rufen sie mich? Egal! Jetzt habe ich alle Zeit und spüre gar keine Eile. Was immer ich jetzt tue, es wird über mein Schicksal entscheiden. Das ist wichtig. Trotzdem bin ich entspannt. Es ist mir sogar egal. Ich bin wieder im Gleichgewicht. Ich bin. So oder so, jetzt ist es zu Ende.
Ich blicke in den Raum. ‘Schrecklich‘, das war wohl eine passende Vokabel. Auf jeden Fall kam sie mir zuerst in den Sinn. Würde man es so benennen? Oder würde man noch mehr erfinden? Da ist eine Frau. Sie schaut mich ängstlich, entsetzt an. Sie zittert. Sie hat geweint. Aber jetzt sind ihre Augen trocken. Sie zittert nur noch. Genug. Ich drehe mich um und gehe runter. Auf dem Boden finde ich ein paar Spuren. Die Frau ruft noch etwas. Ich verstehe es nicht. Ist auch egal. Ich gehe weiter. Papier liegt rum. Glasscherben sind über den Teppich verstreut. Ein Stuhl steht mitten im Weg. Ein Tisch ist umgestürzt, wie eine Barrikade … chaotisch.
Da ist eine Sirene. Draußen. Und eine Stimme am Megaphon plärrt über alles hinweg. Sie rufen mich. Sie kennen sogar schon meinen Namen.
Die Türen am Eingang sind groß. Durch das Glas sehe ich hinaus. Die Straße draußen ist leer. Ich öffne die innere Tür. Die Stimme im Megafon wird deutlicher. Nach zwei Schritten bin ich an der Außentür. Gegenüber reflektiert eine Fensterscheibe das Sonnenlicht. Ich blinzle. Dann drücke ich die Außentür auf und mache einen großen Schritt hinaus. Wieder umfängt mich die kühle Luft. Der erste Atemzug füllt meine Lunge, trocken und kalt.
Zwei alte Bäume ragen vor dem Eingang in die Höhe. Links und rechts auf der Straße stehen Polizeifahrzeuge. Sie blockieren die Straße. Ihre Blinklichter leuchten ein aufgeregtes Lichtstakkato. Ich erkenne ein paar Personen, in schwerer Einsatzkleidung uniformiert, Waffen im Anschlag. Dahinter ist die Straße komplett leer. Weiter hinten sehe ich noch mehr Fahrzeuge, Ambulanzen und eine Menschentraube. Alle schauen die Straße hinunter, zu mir. Ob eine Kamera auf mich gerichtet ist? Mindestens ein Handy wird irgendwo mitlaufen und eine wackelige Dokumentation liefern.
Einer der Uniformierten hält das Megafon. Es sinkt langsam von seinen Lippen. Unsere Blicke treffen sich. Offenbar ist er verblüfft und schweigt kurz. Sie alle sind überrascht, dass ich jetzt hier stehe, genau und mitten vor ihnen. Er führt das Gerät wieder zum Mund. Ich blicke nach oben. Der Himmel ist immer noch blau. Oben zieht wieder ein Flugzeug vorbei. Die Leute dort oben haben keine Ahnung.
Ich hebe meine Hand. Sie hält immer noch die Waffe …

 

Zu der kleinen Geschichte, oder besser die Art, wie sie (nicht) erzählt, hat mich der Film "Capote" inspiriert. Dort hatte ich mittendrin die Idee: Wie würde der Film funktionieren, wenn sie den Moment Xnicht zeigten? ... sondern nur den Rahmen setzten und den Moment X komplett dem Zuschauer überließen ... jeder kann/muss sich dann selbst ein Bild zusammensetzen. Funktioniert das? Macht es den Film besser oder schlechter? Leider ist der Film dann doch "Hollywood-like" geblieben und hat doch noch alles aufgedeckt und inszeniert.

 
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Hallo schillrich

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Wie würde der Film funktionieren, wenn sie den Moment Xnicht zeigten? ... sondern nur den Rahmen setzten und den Moment X komplett dem Zuschauer überließen ... jeder kann/muss sich dann selbst ein Bild zusammensetzen. Funktioniert das?

Ja, ich denke, das funktioniert. Allerdings muss ich sagen, dass es da ja nicht wahnsinnig viel zusammenzusetzen gibt. Grad viele Möglichkeiten sind nicht denkbar.

Was m.E. nicht funktioniert, ist der ganze Teil I. Ich gehe mal davon aus, dass du den Alltag des Prots bewusst so detailliert erzählst, damit der Leser dessen Belanglosigkeit und Monotonie spürt. Das führt in meinen Augen aber dazu, dass der Text selbst belanglos wirkt. Ich habe schon im zweiten Abschnitt zu überfliegen begonnen. Weil das, was geschieht, halt einfach furchtbar langweilig ist.

Was tun? Entweder (1) massiv kürzen oder (2) Brüche einbauen, die den Leser irritieren und neugierig machen. Vorwegnahmen des Unheils. Wenn wir den Film als Vergleich nehmen, müsste mal die Kamera wackeln, das Bild unscharf werden.
Oder dir gelingt es (3), die Langeweile sprachlich so zu gestalten, dass der Leser am Ball bleibt. David Foster Wallace vermag es, zwanzig absolut fesselnde Seiten darüber zu schreiben, wie jemand auf seinen Dealer wartet und dabei einen Käfer beobachtet. Das schafft er dank seiner sprachlichen Brillanz. Für uns Normalsterbliche kommen wohl nur die Varianten 1 und 2 in Betracht.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo Peeperkorn,

danke für deine Gedanken. Option 3 wäre schön, wenn sie gelänge ... ;). Kürzen möchte ich her nicht. Ich möchte bewusste eine "Länge" in Teil I und Kürze in Teil II. Dann blieben die Brüche. Aber die sollten nicht zu zahlreich und nicht zu dramatisch sein. Denn Teil II ist ja der eigentliche Bruch ...

Ich muss mal darüber nachdenken.


Gruß
Daniel

 

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