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Das Erbe

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10.07.2007
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Das Erbe

Ich wünschte, ich könnte euch eine gute Geschichte erzählen. Eine, die wärmt und Licht spendet wie ein Lagerfeuer in der Dunkelheit und die euch besser schlafen lässt. Aber die Zeiten sind schlecht, und wir müssen die Geschichten nehmen, die wir bekommen können. Ich habe in all den Jahren immer dieselbe erzählt, die Geschichte meines Stammes. Ich bin der Letzte, und ich habe ein Versprechen gegeben. Aber je älter ich werde, desto weniger richtig erscheint mir das. Es ist die Geschichte von Kara, die erzählt werden sollte. An sie erinnere ich mich am besten, obwohl sie gar nicht richtig zu uns gehörte.
Wir waren die Rabenfelsenleute, und Karas Stamm waren die westlichen Wasserleute. Das war ein Teil des Problems. Der Großvater sagte immer, es ist wichtig, Frauen von anderen Stämmen zu nehmen, sonst bekommt man dumme Kinder. Aber nach Großvaters Ansicht gab es eben die richtigen und die falschen Stämme. Die Ziegenfelsenleute zum Beispiel, oder die südlichen Waldleute, gehören zu den richtigen. Sie tragen ihre Haare anders als wir und malen sich andere Muster auf die Haut, aber sie wissen trotzdem, was sich gehört. Aber diesen Wasserleuten kann man nicht über den Weg trauen, sagte Großvater. Sie fahren mit ihren Boten überallhin, und an jedem Ort sammeln sie die dümmsten Geschichten ein. Sie haben keine festen Jagdgründe, also stehlen sie von den anderen Stämmen. Und ihre Frauen wissen sich nicht zu benehmen. Sie essen immer nur Fisch, denn es gibt keine richtigen Jäger bei ihnen, die es mit einem Hirsch oder einem Eber aufnehmen könnten. Deshalb denken ihre Frauen, sie wären Männer. All das sagte Großvater oft, und dann sagte er: Wäre es nach ihm gegangen, hätte der ganze Stamm sich von den Wasserleuten ferngehalten.
Aber es gab einen Sommer, in dem die Rabenfelsenleute und die westlichen Wasserleute zufällig aufeinander trafen. Das war auch der Sommer, als Großvaters Sohn Ono ein junger Mann war, der eine Frau suchte. Kara war eine junge Frau, die einen Mann suchte. Und beide suchten nach Gelegenheiten, ihre Stammesältesten zu ärgern.
So war Kara zu uns gekommen.
Anfangs versuchte sie, eine Rabenfelsenfrau zu sein. Vielleicht dachte sie, dass Großvater dann aufhören würde, so zu reden. Aber je mehr schwarze Federn sie trug, desto öfter musste sie sich anhören, dass man den Wasserleuten nicht trauen konnte. Schließlich hatte sie wieder damit begonnen, Wellen und Fische auf ihren Körper zu malen und das Haar in der Art ihres Stammes zu tragen.
Ono und Kara stritten viel, oft den ganzen Tag. Manchmal versöhnten sie sich am Abend, aber meistens schliefen sie in verschiedenen Ecken der Höhle. Es war immer der gleiche Streit. Er stand ihr nie zur Seite, wenn die anderen Rabenfelsenleute schlecht über sie redeten. Sie wusste sich nicht zu benehmen und ließ ihn vor den anderen wie einen Dummkopf aussehen. Ich weiß nicht, wer von beiden Recht hatte. Oder ob das überhaupt eine Rolle spielte. Mir war nur wichtig, dass Kara für mich da war.
Meine Eltern waren beide gestorben, noch bevor ich ihnen bis zum Knie reichte. Und Kara bekam in all den Jahren keine Kinder von Ono. Es war, als ob jeder von uns dazu bestimmt sei, ein Loch im Leben des anderen zu füllen. Aber ich glaube, wenn das nicht gewesen wäre, hätten wir trotzdem zusammengehört. Ich habe immer Fragen gehabt, auf die keiner der Rabenfelsenleute eine Antwort hatte. Und Kara wusste Dinge.
Als ich sehr klein war, dachte ich, sie könne sich an alles erinnern, was jemals passiert war. Später zeigte sie mir, dass die Wasserleute dafür einen Trick haben: Sie zählen die Zeit. Sie tragen Ketten mit kleinen hohlen Knochen. Darauf ritzen sie für jeden vollen Mond eine Kerbe. Und wenn etwas geschieht, an das sie sich erinnern wollen, dann machen sie eine besondere Kerbe. So wissen sie immer, wann der letzte Winter endete oder wann jemand gestorben ist. Kara konnte sogar die Monde bis zurück zu ihrer Geburt zählen, weil die Mütter der Wasserleute eine Kette für ihre Kinder machen, sobald sie auf die Welt kommen. Das habe ich immer beneidet. Ich weiß gar nicht genau, wie lange ich schon auf der Welt bin. Die Rabenfelsenleute zählten nicht, wie lange ihre Kinder auf der Welt waren, nur wie viele es über den Winter schafften. Deshalb wollte ich so oft den ältesten Knochen in Karas Kette sehen, in den ihre Mutter vor langer Zeit die erste Kerbe geritzt hatte.
Kara zählte meistens zu einem anderen Mond zurück, dem, wo sie einen winzigen Fisch und einen winzigen Raben eingeritzt hatte, weil sie dort mit Ono gegangen war und ihre eigenen Leute zurückgelassen hatte. Es machte sie traurig, dorthin zurückzuzählen, aber es schien, als könne sie nicht damit aufhören.
Ihr müsst aber nicht denken, dass Kara immer traurig war. Zusammen haben wir beide mehr gelacht als die meisten Rabenfelsenleute. Und sie konnte gut Geschichten erzählen. Ich wurde nie müde, ihr zuzuhören, auch wenn die anderen schon die Augen verdrehten.
Bei Vollmond wollte ich immer eine ganz bestimmte Geschichte hören, die über den ältesten Stamm. Das ist eine von den guten Geschichten. Die Wasserleute erzählen sie seit langer Zeit, aber für mich war sie neu.
„Der älteste Stamm lebte vor vielen Menschenleben“, erzählte Kara, wenn ich darum bettelte. „Es war ein sehr, sehr großer Stamm. Es gab so viele Menschen wie Sterne am Himmel, und sie waren mit mächtigen Geistern verbündet, die ihnen fast jeden Wunsch erfüllen konnten. Sie bauten Hütten, so hoch wie Bäume, und Pfade, so breit wie der große westliche Fluss, und alle wilden Tiere fürchteten sie. Die Menschen konnten damals fliegen, bis hinauf zu den Sternen, und manchmal wanderten sie sogar auf dem Mond.“
„Flogen sie wie Vögel?“, fragte ich dann, obwohl ich die Antwort kannte. Es war wie ein Spiel für uns.
„Nein, nicht wie Vögel. Sie bauten Boote, die fliegen konnten.“
„Und hatten sie keine Angst, dass der Mond sie verbrennt?“
„Der Mond ist kein Feuer, das angezündet wird und verlischt. Er ist eine Welt wie unsere, nur viel kleiner. Wir sehen sie nicht immer, weil sie manchmal im Schatten liegt. Leute sind in einem Boot dorthin gefahren, und sie haben da oben gestanden und ihrem Stamm hier unten zugewinkt.“
Die Rabenfelsenleute nannten sie ein Lügenmärchen, aber ich glaubte an die Geschichte. Ich wollte sie wieder und wieder hören. Kara sagte, unter den Hügeln liegen noch heute die Hütten und Boote des ältesten Stammes. Daran glaube ich auch. Manchmal findet man Dinge, wenn man im Boden der Hügel gräbt.
Damals träumte ich davon, nach einem Boot suchen, das zu den Sternen fliegen kann. Aber nicht einmal Kara wollte mir dabei helfen. Es ist besser, sich von den Hügeln fernzuhalten, sagte sie. Denn am Ende zerbrach der Pakt mit den Geistern, und der älteste Stamm wurde verflucht.
Damals hatte ich noch keine Angst vor dem Zorn der Geister. Jetzt bin ich alt und viel weiser.

***​

Die Wasserleute glauben, dass alle Menschen Nachfahren des ältesten Stamms sind. Das machte Großvater immer furchtbar wütend. Die anderen Wasserleutegeschichten hörte er sich an und schnaubte bloß verächtlich, aber diese eine Geschichte ließ ihm wohl keine Ruhe. Die Felsengeister haben die Stämme der Felsenleute geschaffen, die Waldgeister die der Waldleute, und die launischen, wandelbaren Wassergeister schufen die Wasserleute. Die Geschichten über den ältesten Stamm haben die Wasserleute sich nur ausgedacht, weil sie neidisch auf die Jagdgründe der anderen sind! Wenn er das sagte, wurde er ganz rot im Gesicht. Um ihn zu beruhigen, sagten die anderen dann Sachen wie „Das wundert mich nicht, wer will schon immerzu Fisch essen.“ Dann wurde Großvater wieder fröhlich, und Kara wieder traurig und still.
Als der Hunger kam, haben sie natürlich alle Fische und Schnecken gegessen, die Kara finden konnte. Ich finde, man kann es ihr nicht verübeln, dass sie manchmal in die Schneckenschüssel gespuckt hat.
Es ist schwer zu sagen, wann der Hunger schlimm wurde. Es gibt immer Tage, an denen man nichts Gutes zu essen findet, oder überhaupt nichts, und in manchen Jahren gibt es mehr hungrige Tage als in anderen. Aber als die älteren Jäger sagten, dass sie so ein schlechtes Jahr noch nicht erlebt hatten, und als den Müttern des Stammes die Milch versiegte und vier kleine Rabenfelsenkinder in nur einem Mond gestorben waren, da bekamen wir es alle mit der Angst zu tun.
Ich hatte zu der Zeit zehn oder elf Winter erlebt, und Kara war seit sieben Wintern bei uns. Manchmal, wenn niemand uns hören konnte, nannte ich sie Mama.
Wir machten Witze darüber, dass man unsere Rippen zählen konnte. Kara machte das jeden Abend mit mir, damit in der Nacht niemand eine stiehlt, sagte sie. Aber das Lachen war nur eine dünne Decke für die Angst. Und gegen den Hunger konnte es erst recht nichts ausrichten.

***​

Auch wenn wir Rabenfelsenleute große Angst hatten, warteten wir immer, was der Großvater zu sagen hatte. Als das vierte Baby gestorben war, zog er sich lange zurück, um nachzudenken, und als er aus der Höhle trat, sagte er, wir müssten uns neue Jagdgründe suchen. Das hatten wir natürlich gewusst, aber es gehörte sich einfach, dass man wartet, bis es der Großvater sagt.
Nur wohin sollten wir gehen? Die Jagdgründe im Osten waren noch schlimmer dran als unsere, alles war vertrocknet, auch die Menschen. Im Süden wohnten die Waldleute, und im Westen die Eulenleute und die Fuchsleute. Diese Stämme waren nicht gerade unsere Freunde, und jetzt waren sie selbst hungrig. So etwas konnte übel ausgehen. Die Männer wollten endlich ihre Speere wieder benutzen, aber für die Jagd, nicht gegen andere Jäger.
„Wir müssen nach Norden gehen“, sagte Großvater also.
Die Jäger nickten ernst, und ein paar Frauen waren schon dabei, Bündel zu schnüren, aber Kara stand da wie angewurzelt, und ihr Messer fiel ihr aus der Hand. Sie sah Großvater an, als wäre er ein Geist.
„Der Norden ist verflucht“, sagte sie. „Dorthin können wir nicht gehen.“
„Das sind nur Kindergeschichten“, sagte Großvater.
„Nein! Wir sind jetzt schon weiter im Norden, als wir sein sollten. Wenn wir noch weiter gehen, werden wir alle verflucht.“
Alle schauten auf Kara und den Großvater, schüttelten mit den Köpfen und flüsterten untereinander. Wusste sie denn nach all der Zeit immer noch nicht, dass es sich nicht gehörte, ihm so zu widersprechen? Konnte sie nicht ein einziges Mal die Märchen ihrer Leute für sich behalten? Großvater wurde oft wütend, wenn Kara so etwas machte, aber jetzt blieb er ganz ruhig.
„Wenn wir nicht weiter ziehen, werden wir alle verhungern“, sagte er.
„Bitte tu das nicht“, sagte Kara. „Was glaubst du denn, warum im Norden keine Stämme leben?“
„Vielleicht, weil zu viele dumme Geschichten darüber erzählt werden“, sagte Großvater. Dann drehte er sich einfach um und ging in die Höhle zurück, um sein Schlaffell und seine sonstigen Habseligkeiten einzusammeln.
„Der Norden ist voller Geister. Die Frevel des ältesten Stammes haben sie zornig und ruhelos gemacht, und sie sind immer noch dort. Alles dort stirbt oder wird schlecht. Sie reißen selbst jungen Leuten Haare und Zähne aus, und wenn eine Frau ein Kind in sich trägt, wird sie verflucht und bringt ein Monster zur Welt.“
Niemand außer mir hörte Kara zu. Ich hörte ihr immer zu, und außerdem hatte ich diese Geschichte noch nie gehört. Ich fand sie aufregend, aber geglaubt habe ich es damals nicht so recht. Das Boot, das zu den Sternen fliegen konnte, erschien mir überzeugender als ein Land voller böser Geister. Nach meiner Erfahrung mischten sich Geister selten in das Leben normaler Leute ein.
Sie versuchte, mit Ono zu reden. „Sag deinem Vater, wir können nach Westen. Ich habe Verwandte bei den Fuchsleuten. Sie werden uns in Ruhe lassen. Wir können bis zum Fluss wandern, und meine Leute werden uns helfen.“
Dieses Mal stritt Ono nicht mit ihr. Er sagte: „Ich habe noch nie gesehen, dass du Angst hast.“ Er streichelte sogar ihre Wange. „Denk nach“, sagte er. „Was ist am gefährlichsten - der Hunger, die Fuchsleute, die vielleicht nicht auf dich hören, oder Geister, die man nicht sehen oder hören oder anfassen kann?“
„Die Geister“, beharrte Kara. „Weil man sie nicht sehen oder hören oder spüren kann, bis es zu spät ist.“
Aber sie packte ihre Sachen wie alle anderen, und sie wanderte nach Norden wie alle anderen. Was hätte sie auch sonst tun sollen? Ohne einen Stamm ist man verloren.

Wir mussten weit wandern, aber je weiter wir nach Norden kamen, desto öfter fanden wir Spuren von Wild. Es gab immer noch viele schlechte Tage, aber es starb fürs erste niemand mehr. Die Angst wurde kleiner und zog sich in unsere Träume zurück.
Dafür wurde Kara von Tag zu Tag unruhiger. Sie aß und trank nur sehr wenig, und sie redete kaum noch mit den anderen. Wenn ich Geschichten hören wollte, musste ich lange betteln, und es machte nicht so viel Spaß wie sonst, ihr zuzuhören. Ihre Gedanken waren woanders.
„Sind die Blätter hier größer?“, fragte sie mich einmal aus heiterem Himmel.
„Größer als was?“, fragte ich. Ich machte mir Sorgen. Die anderen hatten immer behauptet, dass in ihrem Kopf etwas nicht stimmte, und ich hatte es nie für etwas anderes als böse Worte gehalten. Aber es gefiel mir nicht, wie sie in letzter Zeit an mir vorbei starrte, und wie sie manchmal vor sich hin murmelte, als würde sie mit Leuten reden, die nicht da waren.
„Größer als im Süden. Ich wünschte, ich hätte Blätter mitgenommen. Vielleicht könnten wir daran sehen, ob wir zu weit gegangen sind.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass sie größer sind.“
Sie sah mich an, zum ersten Mal seit vielen Tagen direkt in meine Augen. „Du denkst, ich bin verrückt. Wie sie.“ Sie nickte in Richtung der Rabenfelsenfrauen, die in der Nähe saßen und Pfeilspitzen für die Jäger machten.
Ich sagte nein, aber es klang wie eine Lüge.
Kara nahm meine Hände in ihre. „Die Dinge, die ich dir erzählt habe, sind nicht nur Geschichten. Es ist alles, was uns von den Leuten vor uns geblieben ist, und alles, was wir den Leuten nach uns weitergeben können. Sie sind unser Erbe. Die Kinder hören sie von ihren Müttern, und die haben sie von ihren Müttern gehört, und so weiter, bis zurück zu den Müttern, die noch zum ältesten Stamm gehörten.“
Ich verstand nicht, warum sie das sagte, aber ich war froh, dass sie mit mir redete, also nickte ich.
„Du musst alles weitererzählen“, sagte Kara, und ich nickte wieder. Ich wusste nicht, dass ich damit ein Versprechen gab.
An diesem Abend brachten die Jäger ein Hirschkalb mit, das ein verkümmertes Bein hatte. Kara weigerte sich, davon zu essen.

***​

Die Jäger wollten noch weiter nach Norden. Wir waren nicht mehr am Verhungern, aber wir wurden auch nicht satt. Wir waren noch immer zu dünn und zu müde, unsere Haut juckte und blutete und wollte nicht heilen.
Großvater sagte, dass eine kleine Gruppe vorausgehen und das Gebiet erkunden sollte, bevor der Stamm folgen würde. Und Ono sagte, dass er diese Gruppe anführen würde. Ich glaube, hinterher gab Kara sich die Schuld daran.
Nachdem Ono seine Frau von einem der falschen Stämme genommen hatte, gab der Großvater ihm immer so ein Gefühl, als müsste er beweisen, dass er noch ein richtiger Rabenfelsenmann war. Großvater war gut darin, anderen Leuten Gefühle zu geben.
Ich bekam von ihm immer das Gefühl, dass aus mir nie ein richtiger Jäger werden würde. Beinahe hätte ich deshalb gefragt, ob ich mitgehen durfte. Aber bevor ich auch nur den Mund aufmachen konnte, legte Kara mir eine Hand auf die Schulter und flüsterte: „Nein.“
Zu Ono sagte sie nichts. Es gab keinen Streit an diesem Tag. Vielleicht hatte sie nicht mehr die Kraft dazu. Jedenfalls fehlte es ihr nicht an Liebe, das weiß ich. Ich erinnere mich, wie sie geweint hat, nachdem die Jäger fortgezogen waren.
Ich bin den beiden an diesem Abend gefolgt. Vielleicht wollte ich Kara umstimmen, sie überzeugen, dass ich alt genug war, um mit den Jägern zu gehen. Oder vielleicht habe ich auf irgendeine Art gewusst, dass es mein Schicksal sein wird, die Geschichte zu erzählen.
Sie zog Ono in den Schatten eines Baumes, dessen Blätter vielleicht zu groß waren, nahm einen spitzen Knochen, und zeichnete in die Erde zu ihren Füßen. Etwas, das aussah wie ein Vollmond, und drei abgebrochene Pfeilspitzen, die darauf zeigten.
„Wenn ihr das seht, müsst ihr umkehren“, sagte sie. „Das ist das Zeichen des ältesten Stammes für den Sitz der Geister.“
Ono lachte. „Ein Stamm, den es nie gegeben hat, malt Bilder von Geistern, die es nicht gibt. Lass das nicht den Großvater hören.“
„Versprich es mir“, sagte Kara nur.
Und er versprach es ihr. Warum auch nicht, dachte er sicher, es gab doch gar kein Zeichen und keine Geister. Wegen so etwas musste man nicht an verschiedenen Enden der Höhle schlafen.

***​

Die Zeit danach war schlimm. Ono und drei andere Jäger waren fortgezogen, und an ihrer Stelle wohnte die Angst wieder bei uns. Es gab mehr Tote, nicht nur Kinder. Nach so langer Zeit weiß ich nicht einmal mehr ihre Namen. Ich erinnere mich nur an die Gesichter: bleich und eingefallen, als hätten böse Geister sie gequält. Wir begruben sie so schnell wie möglich.
Das Wasser im Umkreis der Höhle war schlecht, sagten die Rabenfelsenleute. Alle fühlten sich schwach, müde und krank. Alle hatten diese kleinen Wunden, die scheinbar ohne Grund auftauchten und schwer wieder heilten. Alle hatten weniger Haare, außer dem Großvater, der ohnehin nicht mehr viele auf dem Kopf hatte.
Ich fragte Kara, ob sie glaubte, das Wasser sei schlecht. Ihre Leute kannten es ja schließlich am besten. Sie schüttelte den Kopf. „Es ist alles schlecht hier, Kleiner. Es ist alles verflucht. Der Fluch ist im Wasser, in der Luft, in den Tieren, in den Bäumen. Auch wenn du Blut trinkst oder Regen, es wird dir nicht helfen.“
„Vielleicht finden Ono und die anderen gutes Wasser“, sagte ich.
„Nein“, sagte sie leise. „Nicht da, wo sie hingegangen sind.“
Die Rabenfelsenleute erinnerten sich an Karas Warnungen, aber es schien, als wären sie ihr böse. Sie hätte den Großvater nicht so ärgern dürfen, dann wären wir vielleicht nie nach Norden gegangen, sagten die einen. Vielleicht hat sie uns verflucht, nur damit sie Recht behält, sagten die anderen. Ich machte mir Sorgen um Kara, es ist gefährlich, wenn man einen ganzen Stamm gegen sich hat. Aber es passierte nichts weiter. Niemand hatte Kraft dafür übrig.
Seit die Jäger fortgezogen waren, hatte Kara schon eine neue Kerbe in ihren Zeitknochen geritzt, und der nächste volle Mond stand kurz bevor.
Wir sahen jeden Tag zu den Hügeln, hinter denen die Kundschafter verschwunden waren. „Heute kommen sie sicher zurück“, sagten wir. Aber jeden Tag glaubten wir weniger daran.
An dem Tag, als Kara auf die Hügel zeigte und sagte: „Dort oben ist jemand“, sahen zuerst alle hin, denn sie hatte sehr scharfe Augen.
„Ich glaube, es ist Ono“, sagte Kara, und zum ersten Mal seit langem sah ich sie lächeln. Ich erinnere mich daran, weil es auch das letzte Mal war.
Tatsächlich schien es, als bewegte sich etwas zwischen den Bäumen, langsam und vorsichtig. Aber niemand kam den Hügel herunter, und bald wandte sich der Stamm wieder anderen Dingen zu, und manche tuschelten und tippten sich an Stirn, wenn Kara nicht hinschaute.
Sie starrte weiter zu Hügeln, sah, wie die Schatten wanderten, weil die Sonne höher stieg, und wurde unruhig. „Warum kommt er nicht zu uns?“, fragte sie. Ich folgte ihrem Blick, und ich wollte glauben, dass es dort drüben jemanden gab, weil ich nicht wollte, dass er nur in Karas Kopf war. Aber ich konnte niemanden sehen.
„Ich gehe hin“, sagte sie.
„Dann komme ich mit“, sagte ich.
Wir machten uns auf den Weg, die Blicke der anderen im Rücken. Als Kara neu bei uns war, hätte der Großvater sicher etwas gesagt, vielleicht hätte er es sogar verboten. Inzwischen kümmerte er sich meistens nicht darum, was sie machte, und der Rest des Stammes hielt es auch so.
Die Bäume auf dem Hügel standen nicht sehr dicht, aber es war trotzdem schattig und kühl dort, und der Wind raschelte in den Blättern, dass es wie ein Flüstern klang.
Kara ging schnell, ich musste mich anstrengen, um mit ihr Schritt zu halten. Anfangs rief sie immer wieder Onos Namen, aber es kam keine Antwort, und nach und nach wurde sie still. Irgendwann drehte sie sich zu mir um, und es war so ein Schmerz in ihrem Blick, dass ich wusste, sie würde sagen, dass wir umkehren sollten, noch bevor sie den Mund aufmachte. Ich wusste, was die anderen sagen würden, wenn wir zurückkehrten. Und Kara wusste es auch.
„Lass uns noch bis zu dem kleinen Fluss gehen“, sagte ich schnell. „Vielleicht hat er Durst bekommen und ist dann dort eingeschlafen.“
Ich gab mir große Mühe, zu glauben, was ich sagte, und ich muss es wohl genug geglaubt haben, denn Karas Blick war voller Dankbarkeit.
Ich ging langsam, dachte darüber nach, wie ich sie trösten könnte, wenn wir nichts fanden.
Dann stach mich etwas in die Nase, und plötzlich hatte ich selbst wieder ein bisschen Hoffnung. „Rauch“, sagte ich und griff nach Karas Hand. „Er muss ein Feuer gemacht haben!“
Wir folgten dem Geruch. Mein Herz schlug schneller, aber auf eine gute Art, wie auf der Jagd. Wir hatten eine Spur. Und sie führte wirklich zum Fluss.
Dort fanden wir ein kleines Häufchen Äste, das nur noch leicht schwelte, im Schatten unter einem Baum am Ufer. Daneben lag jemand, weiß und reglos.
Ich musste schlucken. Er sah nicht aus wie ein Schlafender, sondern wie ein Toter.
„Wer ist das?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort wusste. Ich wollte es nicht aussprechen, nicht wahr sein lassen. Er sah aus wie Großvater, nur sehr krank. Und er atmete nicht.
Kara sagte nichts, sie hatte die Augen geschlossen und hielt ihre Fingerspitzen an seinen Hals. Sie blieb lange so. Ich wagte nicht, sie zu fragen, ob sie einen Herzschlag fühlte.
Ich starrte auf den Boden, weil ich den toten oder beinahe toten Mann nicht erkennen wollte. Die Blätter unter ihm waren zur Seite geschoben. Komisch, dachte ich, es ist doch besser, auf etwas Weichem zu liegen. Und da sah ich, dass neben ihm etwas in den Boden geritzt war. Seine Hand lag darauf.
„Er hat ein Zeichen gemacht“, sagte ich zu Kara.
Sie sah mich an, als würde sie aus einem Traum erwachen. „Was redest du denn da?“, sagte sie.
„Hier.“ Ich nahm die Hand weg. Sie war sehr kalt, und ich habe heute noch Träume, in denen er sich plötzlich bewegt und seine eisigen Finger mein Gesicht berühren. Das sind die Nächte, in denen ich schreie.
Es war das Zeichen, das Kara ihm gezeigt hatte, bevor die Jäger aufgebrochen waren. Der Vollmond mit den abgebrochenen Pfeilspitzen.
Kara sah nur kurz hin, dann schob sie einen Arm unter den leblosen Körper. „Hilf mir“, sagte sie. „Zu zweit können wir ihn tragen.“
Kara war stark. Ich glaube, wenn ich nicht dabei gewesen wäre, hätte sie Ono ganz allein bis zur Höhle zurückgeschleppt. Aber als wir dort ankamen, war es, als wäre all ihre Kraft verbraucht. Sie saß auf dem Boden, die Arme um sich geschlungen, als ob sie frieren würde, und sprach mit niemandem.
Ich versuchte den Großvater und die anderen zu überzeugen, dass sie mitkommen und sich das Geisterzeichen ansehen sollten, das Ono in die Erde geritzt hatte. Niemand hörte mir zu.
Sie begruben das, was die Geister von Ono übrig gelassen hatten. Sie sangen die Todeslieder und warfen Rabenfedern in den Wind. Dann legten sie sich schlafen.
Ich schlief nicht. Ich dachte an die Geschichten, daran, was unter den Hügeln lag. Was hatte Ono gefunden? Ein Geheimnis, das die Geister bewachten? Wenn sie einen Jäger wie ihn getötet hatten, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis sie den Rest von uns holten.
Der Mond war fast rund, und ich dachte daran, dass er eine Welt war, die wir nur wegen des Schattens nicht richtig sehen können, und dass ich gerne ein Boot hätte, um dorthin zu fahren. Von dort oben muss unsere Welt schön aussehen.
Dann schob sich Karas Gesicht vor das Licht. „Ich gehe weg von hier“, sagte sie. „Du kannst mitkommen.“
Ich überlegte nicht lange.
Im Mondlicht war der Pfad, der von der Höhle wegführte, gut zu sehen. Nur die Bäume und Gebüsche waren schwarz, und wir sahen nicht, was sich hinter ihnen verbarg. Deshalb machte mein Herz einen kleinen Sprung, als Großvater plötzlich da stand.
„Zurück zu deinen Leuten?“, fragte er.
„Ja“, sagte Kara. Sie war ganz ruhig. Falls ihr Herz auch einen Sprung gemacht hatte, merkte ich nichts davon.
„Wie du willst“, sagte Großvater. „Aber der Kleine gehört zu uns.“
Mein Herz machte wieder einen Sprung, und diesmal tat es weh. Er hatte recht. Ich hatte Rabenfedern in meinem Haar getragen, seit ich denken kann. Ich hatte die Lieder des Stammes zusammen mit der Milch meiner Mutter getrunken. Aber er hatte auch unrecht. Wenn ich versuchte, mich an das Gesicht meiner Mutter zu erinnern, konnte ich nur Kara sehen.
Ich wollte Großvater von dem Zeichen erzählen, das Ono in die Erde geritzt hatte, bevor die Geister ihn geholt hatten, und von dem Fluch, den der älteste Stamm über uns gebracht hatte. Ich wollte ihm sagen, dass wir an anderen Orten vielleicht hungern würden oder kämpfen müssten, aber dass ein Ort auch ohne diese Dinge tödlich sein konnte. Ich hatte das Gefühl, die richtigen Worte tanzten in meinem Kopf, aber sie wollten einfach nicht herauskommen.
„Wir sterben hier“, sagte ich zu Großvater.
„Vielleicht sterben wir hier, oder wir sterben woanders. Aber wir sterben mit den Leuten, die zu uns gehören.“
„Kara gehört zu uns“, sagte ich.
Großvater schwieg. Es war schlimmer, als wenn er nein gesagt hätte.
„Ich gehöre zu ihr“, sagte ich.
Er sah mich lange an. Seine Augen glitzerten im Mondlicht.
„Dann geh mit ihr“, sagte er.
Wenn man ein Kind ist, denkt man, es braucht eine große Zeremonie, wenn ein Junge zum Jäger wird oder wenn ein Mädchen das erste Mal blutet, weil man dann aufhört, ein Kind zu sein, und das kommt einem geheimnisvoll und furchterregend vor. Aber kein Kind mehr zu sein, ist ganz einfach. Ich weiß genau, wann ich damit aufhörte: Es war dieser Moment.
Ich wollte weinen, aber ich tat es nicht.

***​

Ohne einen Stamm ist man verloren. Das habt ihr schon oft gehört, aber wenn ihr noch nie von euren Leuten getrennt wart, wisst ihr nicht, was es bedeutet. Zwei Menschen sind kein Stamm, auch wenn sie zusammengehören. Alles ist schwerer, wenn es auf nur vier Schultern verteilt ist. Die Nachtwache, die Suche nach Essbarem, das Vertreiben der schlimmen Gedanken. Jede Nacht hockten wir an einem kleinen Feuer, oft hungrig, manchmal halbwegs satt. Wir konnten nur abwechselnd schlafen, deshalb sprachen wir wenig. Aber in manchen Nächten hielt ich die Stille nicht aus.
Unser Lager hatten wir am Ufer eines kleinen Sees aufgeschlagen. Kara hatte ein paar kleine Fische gefangen und Muscheln gefunden. Alles schmeckte nach Schlamm, aber ich war hungrig und dankbar.
„Wie finden wir deine Leute?“, fragte ich.
„Wir finden den großen Fluss, dann finden sie uns“, sagte Kara.
„Und dort werden wir vor den Geistern sicher sein?“ fragte ich.
Kara schwieg, lange. Sie spielte mit ihrer Knochenkette, fuhr mit den Fingern immer wieder über die letzten Kerben, mit denen sie die Zeit gezählt hatte, seit wir die Rabenfelsenleute verlassen hatten. Ich dachte, sie würde nicht antworten.
„Du solltest keine Frau nehmen“, sagte sie plötzlich. „Wenn der Fluch in dir ist, wirst du ihn an deine Kinder weiter geben.“
Ich nickte. Daran hatte ich schon gedacht.
Kara starrte ins Feuer. „Ich habe seit drei Monden nicht mehr geblutet“, sagte sie.
Ich erschrak. Über solche Dinge hatten wir nie gesprochen. Erwachsenendinge. Frauendinge. Mein Gesicht wurde heiß. Außer mir gab es niemanden, mit dem Kara sprechen konnte, und ich war ein denkbar schlechter Ratgeber.
„Was willst du tun?“, fragte ich.
„Ich sorge dafür, dass du in Sicherheit bist. An etwas anderes denke ich nicht.“
„Aber was ist, wenn …“
„An etwas anderes will ich nicht denken“, sagte Kara.
Danach redeten wir nicht mehr viel, und bald legte sie sich schlafen. Ich war an der Reihe, Wache zu halten. Aber wir waren an diesem Tag weit gelaufen, und es war alles ruhig. Wenn ich nur einen Moment die Augen schließe…, dachte ich.
Dann wachte ich auf, weil Kara schrie.
Es waren Hunde, fünf große, zottige Bestien. Es gibt eine Geschichte über der Zeit des ältesten Stammes, die sagt, dass Hunde und Menschen damals Freunde waren. Ich glaube viele Geschichten, aber diese muss ein Märchen sein.
Der größte Hund war nur eine Armeslänge von Kara entfernt, die anderen waren dicht hinter ihm. Sie knurrten, und von ihren Zähnen tropfte Geifer. Kara schwenkte einen brennenden Zweig hin und her. Die Muskeln der Tiere zuckten. Noch wagten sie nicht, anzugreifen, aber es war nur eine Frage der Zeit.
„Lauf!“, schrie Kara zu mir. Aber ich konnte nicht weglaufen. Es war meine Schuld, dass die Hunde uns so nah gekommen waren. Ich griff nach meinem Speer, der nicht mehr war als ein angespitzter Ast.
Ich war sicher, dass ich sterben würde, und ich glaube, deswegen hatte ich keine Angst. Ich sprang auf den größten Hund zu, schrie aus vollem Hals und zielte zwischen seine Augen.
Die Hunde sprangen ebenfalls, knurrend und bellend. Es gab einen Moment, der nur aus Fell und Zähnen und Schreien bestand.
Dann war es plötzlich vorbei.
Ich hatte schlecht gezielt. Der Speer traf das aufgerissene Maul des Tieres und drang tief in den Rachen ein. Der Hund machte ein schreckliches Geräusch, dann starb er.
Die anderen rannten jaulend davon.
Ich drehte mich zu Kara um, merkwürdig stolz, schließlich hatte ich nur Glück gehabt.
Kara saß auf einem Stein, hatte einen Fuß auf ihr anderes Bein gelegt und sich darüber gebeugt. In der Hand hielt sie noch immer den brennenden Zweig. Es war noch mitten in der Nacht, aber der Feuerschein reichte aus, um die dunklen Löcher zu sehen.
Mit einem Schlag war mein Stolz verschwunden. „Sie haben dich gebissen“, sagte ich.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte sie. „Sie kommen nicht zurück. Du hast den Großen getötet.“
Der Biss eines Hundes ist tödlich. Ich habe Leute gekannt, die das große Fieber bekamen und nicht daran starben, und Leute, die einen Arm oder ein Auge verloren und trotzdem lange lebten. Ich selbst habe im verfluchten Land gelebt und bin trotzdem ein alter Mann geworden. Aber im Maul eines Hundes wohnt der sichere Tod. Die Wunden verfaulen und das Fieber tötet in wenigen Tagen.
Ich wusste das, aber ich war noch vor kurzem ein Kind gewesen. Deshalb dachte ich daran, dass der älteste Stamm alle Wunden und Krankheiten heilen konnte und dass die Wasserleute das Wissen des ältesten Stammes bewahren, indem die Kinder von ihren Müttern lernen, was die von ihren Müttern gelernt haben, bis zurück zu den ältesten Müttern.
„Kannst du laufen?“, wollte ich fragen, aber aus meinem Mund kam nur ein ersticktes Geräusch.
„Es ist nicht mehr weit bis zu meinen Leuten“, sagte Kara. „Dort wirst du in Sicherheit sein.“
„Was ist mit dir?“, brachte ich heraus.
„Ich gehe zu meiner Mutter“, sagte sie. „Schlaf ein bisschen. Bald geht die Sonne auf.“
Ich atmete auf. Karas Mutter war eine weise Frau, eine Großmutter. Bestimmt wusste sie, was zu tun war, dachte ich. Wegen des Hundebisses und wegen der anderen Sache. Der Frauensache.
Kara sang ein Lied für mich.
Ich schlief ein, weil ich glaubte, am Morgen würde alles gut sein.

***​

Die Sonne stand schon weit oben, als ich aufwachte. Ich hob die Hand vor die Augen, weil das Licht blendete, und fühlte etwas in meinem Gesicht, als würde eine dünne, hautlose Geisterhand darüber streichen. Ich schreckte hoch und sah Karas Kette, sorgfältig um mein Handgelenk gewickelt. Die letzte Kerbe darauf war neu. Es war eine Welle.
Lange Zeit später bin ich einmal in das verfluchte Land zurück gekehrt, um zu sehen, was aus den Rabenfelsenleuten geworden war. Ich fand Gräber, und die Knochen derjenigen, die nicht mehr begraben werden konnten. Der Fluch hat niemanden verschont. Damals, und auch sonst nie wieder, habe ich nicht soviel Schmerz gefühlt wie in diesem Moment.
Sie hatte neben mir sorgfältig das Gras ausgerissen, ein Stück vom Ufer entfernt, wo das Wasser des Sees es nicht überspülen würde. In den kahlen Boden waren Zeichen geritzt. Hier der See, dort die Berge, und der große Fluss, mit einem Pfeil. Diese Richtung. Sie hatte auch das Geisterzeichen hinzugefügt. Vergiss nicht. Erzähl die Geschichte.
Ich fand ihren Körper, nachdem ich lange das Ufer abgesucht hatte. Als erstes trat und schlug ich nach ihr. Ich war wütend, vor allem auf mich selbst. Sie hatte mich nicht angelogen. Für ihre Leute ist das Wasser auch eine Mutter. Die Quelle des Lebens, von der alles kommt und zu der alles zurückkehrt.
Bald war ich nur noch traurig und nicht mehr wütend. Ich dachte daran, ein Grab auszuheben, aber ich hatte nur meine Hände. Außerdem glaubte ich, dass es ihr im Wasser besser gefallen würde als in der Erde. Als die Abenddämmerung anbrach, ließ ich sie dort zurück.

***​

Ich fand den großen Fluss und wurde von den Wasserleuten gefunden. Alle waren freundlich zu mir, aber ich konnte mich an das Leben auf dem Fluss nicht gewöhnen. Ich verließ den Stamm, weil ich ohnehin verloren war.
Ich wurde ein Wanderer und ein Geschichtenerzähler. Ich warne die Stämme, die mir begegnen, vor dem verfluchten Land. Ich lehre sie das Geisterzeichen, damit sie erkennen, wo Gefahr droht. Es gibt noch andere Orte, von denen man sich besser fernhält.
Der älteste Stamm hat überall Spuren hinterlassen, die wir nicht mehr verstehen. Geschichten sind das einzige, was uns von ihnen geblieben ist, und was von uns bleibt, wenn wir nicht mehr sind. Ich wünschte, wir könnten den Leuten nach uns gute Geschichten hinterlassen. Aber die Zeiten sind schlecht, und wir müssen die Geschichten nehmen, die wir bekommen können.

 

Hallo Perdita.

"Das Erbe" habe ich gerne und zügig gelesen. Dein Schreibstil gefällt mir. Ich habe allerdings zwei Kritikpunkte.

Dass die Geschichte in einem postapokalyptischen Umfeld spielt, wird für mein Empfinden zu schnell klar. Die Geschichte verliert damit an Spannung, der Verlauf wird vorhersehbar.

Die Zeugen der untergegangenen Zivilisation müssen nahezu restlos verschwunden sein. Es gibt keine zerstörten Gebäude, Straßen, Auto- oder Schiffswracks, und auch keine kleineren Alltagsgegenstände. Wären noch Überreste sichtbar, müsste es auch bei den Rabenfelsenleuten überlieferte Geschichten hierüber geben. Zwischen Untergang des "ältesten Stammes" und der Zeit, in der die Geschichte spielt, muss damit enorm viel Zeit vergangen sein. Nach einer so langen Zeit müsste sich aber die Strahlung in den "Todeszonen" soweit reduziert haben, dass Menschen, die sich dort aufhalten, nicht sofort eine Strahlenkrankheit einfangen. Gut, die Halbwertszeiten von Plutonium und Uran sind elend lang. Für mein Empfinden ist das aber nicht ganz stimmig.

Liebe Grüße
Holger

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Perdita,

ich bin noch nicht ganz durch. Im ersten Abschnitt ist mir aber eine Stelle aufgefallen, wo du genau formulieren musst, was du sagen willst ...

...
„Der Mond ist kein Feuer, das angezündet wird und verlischt. Er ist eine Welt wie unsere, nur viel kleiner. Wir sehen sie nicht immer, weil sie manchmal im Schatten liegt.
...

Wenn du sagst "liegt im Schatten", vermute ich, dass du den Erdschatten meinst. Das stimmt dann so nicht.

reale Astronomie
Der Mond liegt allgemeine nicht im Erdschatten. Der Mond fliegt nur bei sog. Mondfinsternissen durch den Erdschatten. Die passieren selten, dauern mehrere Stunden und sind auch nicht von überall zu sehen.

Die Mondphasen kommen zustande, in dem wir je nach Position auf der Umlaufbahn die unbeleuchtete, sonnenabgewandte Seite des Mondes betrachten, also einfach seine Nachtseite, genauso wie die Erde eine Nachtseite hat.

Um hier nicht "faktisch falsch zu schreiben", solltest du die Formulierung "liegt im Schatten" am besten vermeiden.


erzählerische Astronomie
Aber was können die Protagonisten deiner Geschichte wissen? Welche Modellvorstellung von der Welt haben sie (Planetekugeln? Umlaufbahnen? Licht und Schatten?). Das ist unklar. Wahrscheinlich wissen sie nichts von Umlaufbahnen. Daher könnten sie für sich schon die begriffliche Analogie "im Schatten liegen" gebildet haben, abgeleitet aus der Alltagserfahrung mit Licht und Schatten in der Höhle ... Aber dann solltest du das noch etwas umschreiben ... "sie stellen sich das vor, wie" ... oder so ähnlich. Dann trennst du das beschränkte Weltbild der Protagonisten vom faktischen Weltbild, das wir heute haben.

 

Hallo Perdita,

Ich habe mich durch vier Abschnitte gekämpft, aber es ist mir einfach zu langweilig. Es gibt bis dahin nichts, was meine Aufmerksamkeit fesselt. Eine Schilderung des Alltags ohne Höhen und Tiefen. Das Setting könnte in die europäischen Bronzezeit oder präkolumbianische Amerika passen. An SF erinnert mich gar nichts. Dabei hatte mich gerade dieser tag hergelockt. Na wenigstens hampeln hier keine Vampire herum.
Ich gehe jetzt wieder in den Keller und lese Asimov.

Schönen Gruß
K.K.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Perdita,

das ist eine sehr schön erzählte Geschichte, die ich mit Genuss gelesen habe. Ich glaube, man könnte ihr neben "Science Fiction" auch das Schlagwort "Fantasy" geben, diese Endzeitszenarien sind ja immer so ein bisschen von beidem. Für Hardcore-Fantasy fehlen zwar die Magie und die Fabeltiere, aber für SF auch die High-Tech-Gadgets und Aliens. (Beides kein Muss, das ist klar.)

Der Erzählfluss ist sehr ruhig, fast getragen; manchem Leser wird es vielleicht langweilig erscheinen, aber ich finde es angenehm. Es passiert relativ wenig, das ist keine Actiongeschichte; sie erzählt eher davon, wie ein Junge durch ein hartes Schicksal - vielleicht vor der Zeit - erwachsen wird. Das gefällt mir gut, trotzdem habe ich mich dabei ertappt, dass ich zum Ende noch eine Art Pointe, Showdown oder Moral vermisst habe. Dass die Geschichte nach einer nuklearen Katastrophe spielt, begreift man ja sehr viel früher, und danach kommt einfach nichts Überraschendes mehr. "Vermisst" ist dabei wahrscheinlich ein etwas zu starkes Wort; vielleicht hat der (alleinige) SF-Tag gewisse Erwartungen geweckt, die gar nicht deiner Erzählabsicht entsprechen.

Zu einer meiner Geschichten (der hier) gab es mal eine Diskussion darüber, wie viel Wissen von der früheren Zivilisation nach einer großen Katastrophe wohl noch übrigbleibt und wie die Menschen damit umgehen. In deinem Falle könnte man darüber debattieren, ob es stimmig ist, dass Kara und ihr Volk zwar noch wissen, was der Mond für ein Himmelskörper ist und dass auf ihm mal Menschen gelaufen sind, dass es aber offenbar keine weiteren Ansätze für Astronomie und beispielsweise auch keine richtige Schrift mehr gibt. Aber ich denke, da hat man als Autor einen recht weiten Spielraum, und du hast deine Entscheidungen getroffen wie ich damals meine. Ich kann gut damit leben, weil es auch keine offensichtlichen Widersprüche gibt.

Dann noch ein bisschen Textkram:

Sie wusste sich nicht zu benehmen und ließ ihn vor den anderen wie einen Dummkopf aussehen.
So etwas schreibst du zweimal, einmal zu Karas Volk allgemein und einmal zu ihr selbst. Beim ersten Mal habe ich das als einen Allgemeinplatz akzeptiert, der bei den Rabenfelsenleuten halt so weitererzählt wird; aber spätestens wenn es konkret um Kara geht, möchte ich gerne an einem Beispiel o.ä. wissen, worin denn dieses schlechte Benehmen eigentlich besteht. Was tut sie z.B., um Ono wie einen Dummkopf aussehen zu lassen? Später wird geschildert, wie sie dem Großvater widerspricht, aber an dieser Stelle weiß ich das ja noch nicht und vermisse die Konkretisierung.

Das ist dir übrigens im Rest des Textes sehr gut gelungen: relativ viel zu "tellen" und trotzdem die entscheidenden Dinge zu "showen". Nur an dieser einen Stelle passt es für mich nicht.

Aber ich glaube, wenn das nicht gewesen wäre, hätten wir trotzdem zusammen gehört.
zusammengehört

Kara konnte sogar die Monde bis zurück zu ihrer Geburt zählen, (...) Ich weiß nicht einmal genau, wie lange ich schon auf der Welt bin.
Dieses "nicht einmal" passt nicht. Kara weiß, wie lange sie auf der Welt ist, und der Erzähler nicht, Punkt. "Nicht einmal" würde Sinn ergeben, wenn der Erzähler noch weniger wüsste als das.

Habe ich verständlich gemacht, was ich meine? :shy:

Es gibt immer Tage, an denen man nichts Gutes zu essen findet[,] oder überhaupt nichts, und in manchen Jahren gibt es mehr hungrige Tage als in anderen.
Komma kann weg

„Bitte tu das nicht“, sagte Kara. „Was glaubst du denn, warum im Norden keine Stämme leben?“
Berechtigte Frage. Ich finde, darauf sollte der Großvater irgendeine Antwort haben, auch wenn es eine falsche ist.

Alle hatten diese kleinen Wunden, die scheinbar ohne Grund auftauchten[,] und schwer wieder heilten.
Komma muss weg

Auch wenn du Blut trinkst[,] oder Regen, es wird dir nicht helfen.“
Komma kann weg

Genau genommen könnte es eine ganz gute Idee sein, Regen zu trinken, da Wolken ja oft einen weiten Weg hinter sich haben und dann aus unverseuchtem Gebiet kommen. Aber das weiß Kara vielleicht nicht, und ihre Aussage ist wohl nicht ganz wörtlich zu nehmen.

Die Rabenfelsenleute erinnerten sich an Karas Warnungen, aber es schien, als wären sie ihr böse. Sie hätte den Großvater nicht so ärgern dürfen, dann wären wir vielleicht nie nach Norden gegangen, sagten die einen. Vielleicht hat sie uns verflucht, nur damit sie Recht behält, sagten die anderen.
Seeehr clever, jetzt geben sie dem Boten die Schuld ... das ist wohl die menschliche Natur. Kara ist nicht zufällig eine Kurzform von Kassandra ...?

Sie sangen die Todeslieder[,] und warfen Rabenfedern in den Wind.
Komma muss weg

Ich wollte Großvater von dem Zeichen erzählen, dass Ono in die Erde geritzt hatte
das

Zwei Menschen sind kein Stamm, auch wenn sie zusammen gehören.
zusammengehören

Deshalb dachte ich daran, dass der älteste Stamm alle Wunden und Krankheiten heilen konnte[,] und dass die Wasserleute das Wissen des ältesten Stammes bewahren, indem die Kinder von ihren Müttern lernen, was die von ihren Müttern gelernt haben, bis zurück zu den ältesten Müttern.
Komma sollte weg

Ich fand Gräber[,] und die Knochen derjenigen, die nicht mehr begraben werden konnten.
Komma kann weg

Damals, und auch sonst nie wieder, habe ich nicht soviel Schmerz gefühlt wie in diesem Moment.
Nie wieder nicht ... das ist ein bisschen unschön.

Bald war ich nur noch traurig, und irgendwann ließ ich sie dort zurück.
Gar kein Versuch, sie zu begraben? Hm ...

Ich fand den großen Fluss[,] und wurde von den Wasserleuten gefunden.
Komma muss weg.

Ich wurde ein Wanderer[,] und ein Geschichtenerzähler.
Komma sollte weg.

Hoffe, das hilft dir was.

Grüße vom Holg ...

 

Hallo Perdita,

dies ist für mich eine Geschichte, bei der ich denke, ja, so könnte es mal sein. Ich fand sie überhaupt nicht langweilig, nicht jede Geschichte braucht ein überraschendes Ende. In meiner Jugend habe ich mit großer Begeisterung "Die Höhlenkinder" von Sonnleitner gelesen. Dort sind Kinder auch durch eine Katastrophe in eine frühere Menschheitsstufe zurückversetzt und nur erinnertes Wissen kann ihr Überleben sichern.

Was mir sehr gut gefällt, ist die konsequente Zurückführung auf ganz frühe Lebensweisen, in denen die Feindseligkeit und Abgrenzung der Clans bestimmend ist. Nix dazugelernt hat die Menschheit, alles beginnt von vorne. Ob deine Kassandra mehr Erfolg hat?

Die Diskussion über den Science-Anteil, insbesondere die Dauer einer nuklearen Verseuchung, kann ich nachvollziehen. Vielleicht könnte Ono in seiner letzten Botschaft noch eine Zeichnung von einer Bombe, Rackete oder jedenfalls eines Gegenstandes der Welt vor dem Atomschlag hinterlassen. Etwas Konkretes.

Übrigens hätte deine Geschichte auch in die Challenge gepasst;). War das geplant?

Gerne gelesen
wieselmaus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo nochmal, Perdita,

mir sind noch ein paar Punkte aufgefallen ...

akute Strahlenkrankheit
Du beschreibst ein paar Symptome, aber da sind noch mehr. Grundsätzlich sterben alle sich teilenden Zellen durch die Strahlung. Gewebe, die sich viel/häufig teilen, gehen dadurch besonders kaputt. Deswegen fallen die Haare aus und die Haut bekommt Probleme. Das Blut geht auch kaputt, bzw. das Knochenmark. Und auch im Darm geht die Schleimhaut kaputt. Man bekommt Durchfall.

Warnzeichen
In der ganzen Welt beschreibst du keine Artefakte der alten Welt, bestenfalls beim Graben findet man noch Dinge. Aber das Warnzeichen für Radioaktivität findet man und kennt man? Das passt nicht. Dann müssten die noch viel mehr Artefakte kennen. Das müsstest du dann auch einbauen, wenn du die Welt beschreibst, oder wenn sie wandern.

plot convencience
Wie finden sie den toten Ono? Einfach losgehen, den Einfall "am Wasser" haben ... et voilà, da liegt er? Sie finden ihn am richtigen Ort zur richtigen Zeit ... weil sie ihn für die Geschichte hier und jetzt finden müssen? Das ist ist unplausible plot-convenience. Das solltest du anders auflösen. Wie wär's, wenn er als letztes ein Feuer gemacht hätte ... und sie folgen einer Rauchwolke zu seiner letzten Lagerstätte?

 

Hallo zusammen,

hier ist ja ganz schön was los, ich habe gar nicht damit gerechnet, dass es Montagabend schon so viele Kommentare zu beantworten gibt. :)

Mal schauen, wie weit ich jetzt komme:

Lieber HoWoA,
Vielen Dank für Deinen Kommentar, damit habe ich schon mal eine Sorge weniger. Dass du es gerne gelesen hast, freut mich natürlich sehr, aber noch mehr habe ich mich gefreut, dass du offenbar keine Schwierigkeiten hattest, zu erfassen, worum es in der Geschichte geht. Ich war mir nämlich echt nicht sicher, ob das überhaupt nachvollziehbar ist, wenn man es nicht von vornherein weiß.
Der Ursprung dieser Geschichte ist, dass ich irgendwo etwas über die sogenannte Atomsemiotik gelesen habe. Die beschäftigt sich mit der Frage, wie man zukünftige Generationen davor warnen kann, dass an bestimmten Orten radioaktive Abfälle gelagert sind. Weil das Zeug eben so lange strahlt, dass sich die Zivilisation und die Sprache in der Zwischenzeit völlig unvorhersehbar entwickeln könnten – wenn es dann überhaupt noch eine Zivilisation gibt. Da gibt es ganz wilde Vorschläge, bis hin dazu, spezielle Tiere zu züchten, deren Fell sich durch Radioaktivität verfärbt – aber nichts, was aus meiner Sicht in der Praxis zuverlässig funktionieren könnte. Denn Symbole verändern ihre Bedeutung im Lauf der kulturellen Entwicklung ganz massiv. Selbst wenn man zum Beispiel ein riesiges Totenkopfsymbol aus unkaputtbarem Material anbringt, was für uns heute relativ eindeutig Gefahr signalisiert – wir wissen einfach nicht, ob eine spätere Kultur das nicht als „hier sind die Gräber unserer Vorfahren, kommt rein und holt euch die Grabbeigaben“ interpretiert. Und dass dieses abstrakte Radioaktivitätssymbol – Kreis mit drei annähernd pfeilförmigen Dingsbumsen drumherum – über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende seine Bedeutung beibehalten könnte, ist eigentlich ein sehr unrealistisches Szenario, das ich nur deshalb verwendet habe, damit die Leser überhaupt eine Chance haben, die Geschichte zu verstehen.
Und nachdem ich mich entschlossen hatte, diese ganze Problematik in einer Kurzgeschichte zu verarbeiten, habe ich festgestellt, dass dieses Kommunikationsproblem auch in umgekehrter Richtung existiert – also dass es extrem schwierig ist, aus der Sicht eines Menschen in der Zukunft, der in einer völlig anderen Kultur lebt, so über dieses Thema zu erzählen, dass Menschen in der Gegenwart den verstehen können.

Deine Kritikpunkte kann ich gut nachvollziehen, bin mir aber noch nicht sicher, wie ich damit umgehe.

HoWoA schrieb:
Dass die Geschichte in einem postapokalyptischen Umfeld spielt, wird für mein Empfinden zu schnell klar. Die Geschichte verliert damit an Spannung, der Verlauf wird vorhersehbar.
Dass die Geschichte in einem postapokalyptischen Umfeld spielt, habe ich aber gar nicht als überraschenden Twist gemeint :shy:, das war schon beabsichtigt, dass die Leser das möglichst schnell erfahren. Dein Kritikpunkt, dass es der Geschichte an Spannung fehlt, hat trotzdem seine Berechtigung, und ich habe auch eine Vermutung, woran das liegt. Es gibt hier eine ziemlich große Distanz zu den Figuren – eine viel größere, als ich normalerweise haben möchte. Die Geschichte passiert ja nicht in „Echtzeit“, sondern der Erzähler gibt seine lange zurückliegenden Erinnerungen wieder. Er fasst viel zusammen und die meisten Figuren bleiben ziemlich schemenhaft, die bekommen meistens nicht mal einen Namen. Ich glaube dadurch fiebert man als Leser zwangsläufig weniger mit – man kennt diese Menschen nicht besonders gut, also ist man auch nicht so stark davon berührt, wenn denen schlimme Dinge zustoßen.

Außerdem war mein Ziel, dass das Ganze einer mündlichen Erzählung ähnelt, die zu einer Kultur passen könnte, die nur eine mündliche Erzähltradition und keine Schriftsprache hat. Deshalb sind das alles möglichst einfache Sätze mit relativ häufigen Wiederholungen, und deshalb nimmt der Erzähler manchmal auch Sachen vorweg, was natürlich nicht gerade spannungsfördernd ist. Ich überlege mir, wie ich das verbessern kann - zumindest einige Kürzungen sollten möglich sein – aber ich vermute, letzten Endes wird die Geschichte dieses Problem immer bis zu einem gewissen Grad haben, weil der Erzähler letzten Endes ein ganz anderes Motiv hat, als Spannung zu erzeugen.

HoWoA schrieb:
Die Zeugen der untergegangenen Zivilisation müssen nahezu restlos verschwunden sein. Es gibt keine zerstörten Gebäude, Straßen, Auto- oder Schiffswracks, und auch keine kleineren Alltagsgegenstände. Wären noch Überreste sichtbar, müsste es auch bei den Rabenfelsenleuten überlieferte Geschichten hierüber geben. Zwischen Untergang des "ältesten Stammes" und der Zeit, in der die Geschichte spielt, muss damit enorm viel Zeit vergangen sein. Nach einer so langen Zeit müsste sich aber die Strahlung in den "Todeszonen" soweit reduziert haben, dass Menschen, die sich dort aufhalten, nicht sofort eine Strahlenkrankheit einfangen. Gut, die Halbwertszeiten von Plutonium und Uran sind elend lang. Für mein Empfinden ist das aber nicht ganz stimmig.
Enorm viel Zeit, ja. Aber wie du schon sagst: Die Halbwertszeiten sind noch viel enormer. Das Ziel für das immer noch nicht existierende Endlager für hochradioaktive Abfälle ist, dass das Zeug dort für eine Million Jahre sicher gelagert werden soll. Und ich glaube, man überschätzt das auch, wie lange Gebäude und so was überdauern, wenn man den menschlichen Einfluss komplett wegnimmt, also wenn niemand mehr die Pflanzen entfernt, die in Fußwegspalten wachsen wollen, und kaputte Gebäude repariert, etc. Also meine Idee war: Unsere Zivilisation baut noch ein Endlager, dann geht sie unter – und zwar so gründlich, dass die wenigen Überlebenden nicht viele Überlieferungen zurückbehalten - und die Natur erobert die Städte zurück .Und dann lass da von mir tausend Jahre vergehen, so dass ein Großteil der Ruinen wie Hügel aussieht und nicht mehr auf den ersten Blick wie Gebäude. Und irgendwann in der Zeit passiert etwas mit dem Endlager, was dafür sorgt, dass Radioaktivität austreten kann. Dann hat man ein Epizentrum, wo die Strahlung relativ schnell tödlich ist (da, wo die unglückseligen Kundschafter hingewandert sind), und einen größeren Bereich, wo es ungesund ist, sich für längere Zeit aufzuhalten (da, wo die Rabenfelsenleute sich niederlassen).

Also ich denke, so ein Szenario ist durchaus vorstellbar. Aber es ist mit den Begriffen, die dem Erzähler zur Verfügung stehen, nicht möglich, das präzise zu beschreiben, deswegen kann ich das einerseits gut verstehen, dass das Ganze nicht jedem Leser stimmig erscheint, weiß aber andererseits nicht so richtig, ob ich daran etwas ändern kann, weil das Dinge betrifft, die über den Erfahrungshorizont des Erzählers hinausgehen.

Lieber schillrich,
Danke für deine beiden Kommentare. Ich werde dir in manchen Punkten nicht folgen, aber ich bin trotzdem froh, dass du einen prüfenden Blick auf die wissenschaftliche Plausibilität geworfen hast, und bei einigen Sachen muss ich dir absolut Recht geben. :)

schillrich schrieb:
Aber was können die Protagonisten deiner Geschichte wissen? Welche Modellvorstellung von der Welt haben sie (Planetekugeln? Umlaufbahnen? Licht und Schatten?). Das ist unklar. Wahrscheinlich wissen sie nichts von Umlaufbahnen. Daher könnten sie für sich schon die begriffliche Analogie "im Schatten liegen" gebildet haben, abgeleitet aus der Alltagserfahrung mit Licht und Schatten in der Höhle ... Aber dann solltest du das noch etwas umschreiben ... "sie stellen sich das vor, wie" ... oder so ähnlich. Dann trennst du das beschränkte Weltbild der Protagonisten vom faktischen Weltbild, das wir heute haben.
Da hast du im Prinzip schon meinem Widerspruch zu deinem ersten Kritikpunkt selbst formuliert. Die Aussage „wir sehen den Mond nicht immer, weil er manchmal im Schatten liegt“ wäre für den Astronomieunterricht in der Schule ungeeignet. Aber für die Geschichte ist das egal, die macht ja auch keinen Astronomieunterricht, sondern erzählt aus der Sicht vom Menschen mit begrenzten Wissen und einer unwissenschaftlichen Weltsicht. Die Protagonisten können nur Dinge sagen, die in ihr Weltbild passen. Insbesondere bei Ich-Erzählern muss man sehr aufpassen, dass man einer Figur nicht Dinge unterjubelt, von denen sie im Kontext der Geschichte gar keine Ahnung haben kann. Bei einem allwissenden Erzähler könnte man das trennen, aber so, wie die Geschichte jetzt aufgebaut ist, kann ich aus der Haut des Ich-Erzählers nicht raus.

Der allwissende Erzähler wäre sozusagen meine Notlösung gewesen. Wenn überhaupt niemand verstanden hätte, worauf ich mit dem Zeichen und der seltsamen Krankheit etc. hinaus will, dann hätte ich der Geschichte einen Prolog geben können, in der ein Team von Ingenieuren und Kommunikationswissenschaftlern sich Warnzeichen für das Endlager überlegt, und dann im zweiten Teil die Geschichte von Menschen in der Zukunft erzählen können, die mit dem Warnzeichen leider nichts mehr anfangen können. Aber in dem Fall wäre die Geschichte zum einen länger und zum anderen irgendwie nichts Besonderes. Was mich an diesem Text gereizt hat, war vor allem die Herausforderung, mich wirklich auf die Perspektive von jemandem zu beschränken, für den unsere Zivilisation nichts weiter als eine ferne Legende ist und der nur über einen winzigen Bruchteil unseres Wissens über die Welt verfügt.

schillrich schrieb:
akute Strahlenkrankheit
Du beschreibst ein paar Symptome, aber da sind noch mehr. Grundsätzlich sterben alle sich teilenden Zellen durch die Strahlung. Gewebe, die sich viel/häufig teilen, gehen dadurch besonders kaputt. Deswegen fallen die Haare aus und die Haut bekommt Probleme. Das Blut geht auch kaputt, bzw. das Knochenmark. Und auch im Darm geht die Schleimhaut kaputt. Man bekommt Durchfall.
Die äußerlich wahrnehmbaren Symptome habe ich mAn erwähnt – Haarausfall, wunde Hautstellen, allgemeine Schwäche und Müdigkeit. Durchfall nicht – aber ich meine, man möchte auch vielleicht nicht unbedingt darüber lesen, dass Leute unter Durchfall leiden? Und der Erzähler möchte das vielleicht auch nicht erzählen? Also ich würde mich an seiner Stelle nicht darüber auslassen wollen. :) Und was mit Blut und Knochenmark passiert, können die Protagonisten wiederum nicht wissen.

schillrich schrieb:
Warnzeichen
In der ganzen Welt beschreibst du keine Artefakte der alten Welt, bestenfalls beim Graben findet man noch Dinge. Aber das Warnzeichen für Radioaktivität findet man und kennt man? Das passt nicht.
Der Punkt ist absolut berechtigt –siehe oben. Ich halte das selbst für sehr unwahrscheinlich, dass die Bedeutung überliefert werden würde. Aber ich brauch das für die Geschichte, deswegen muss ich mir da so ein kleines bisschen Unwahrscheinlichkeit genehmigen. Als Autor hat man da doch immer ein kleines Kontingent zur Verfügung. :)

Dass man es noch finden kann, könnte ich mir noch halbwegs plausibel vorstellen – angenommen, die Erbauer des Endlagers haben sich wirklich Gedanken gemacht und ein sehr sehr haltbares Material verwendet, um die Warnung anzubringen (Edelmetalle oder spezielle High-Tech-Materialien?)

schillrich schrieb:
plot convencience
Wie finden sie den toten Ono? Einfach losgehen, den Einfall "am Wasser" haben ... et voilà, da liegt er? Sie finden ihn am richtigen Ort zur richtigen Zeit ... weil sie ihn für die Geschichte hier und jetzt finden müssen? Das ist ist unplausible plot-convenience. Das solltest du anders auflösen. Wie wär's, wenn er als letztes ein Feuer gemacht hätte ... und sie folgen einer Rauchwolke zu seiner letzten Lagerstätte?
Ich hatte die Vorstellung, dass sie ihn ja von weitem gesehen haben und dadurch eine ungefähre Vorstellung, wo er sein könnte. Aber du hast völlig Recht, das ist sehr convenient. Und die Idee mit dem Feuer finde ich sehr gut, das funktioniert viel besser und das werde ich bei nächster Gelegenheit einbauen. Danke!

Jetzt muss ich erst mal was essen, zu den anderen Kommentaren komme ich entweder danach oder morgen.

 

Zur Astronomie,

ja, die Protagonisten können nicht allwissend sein. Aber mein Vorschlag ist, dem wissenden Leser "entgegen zukommen", z.B. in dem das ganze als fragenden und offenen Gedankengang in seinem Kopf ablaufen lässt ... in etwa so:

"Der Mond ist eine andere Welt, wie unsere. Das sagen alle unsere Geschichten. Aber wenn er hell und dunkel wird, woher bekommt er sein Licht? Und woher bekommt er seine Dunkelheit? Wirft da etwas einen Schatten? Das hörte sich gut an, wie wenn ich hier unter einem Baum durchlief. Aber war es wirklich so? Ich schaute immer wieder fragend hinauf ..."

 

So, auf zur zweiten Runde!

Liebes Kellerkind,
Danke, dass du dir Zeit für einen Kommentar genommen hast, obwohl die Geschichte dich überhaupt nicht fesseln konnte. Es tut mir auch ein bisschen leid, dass deine Erwartungen enttäuscht wurden – aber ehrlich gesagt, nicht allzu sehr. :)

Am besten nimmst du es als Lernerfahrung, dass man mit dem Tag „Science Fiction“ nicht zu spezifische Erwartungen verknüpfen sollte. SF ist eines der, wenn nicht das vielfältigste Genre überhaupt. Es gibt hard SF, die sie sich richtig im Detail damit befasst, wie etwa ein Raumschiff oder eine Marskolonie oder irgendeine andere potenziell denkbare Zukunftstechnologie funktionieren könnte. Es gibt Alternativhistorien, die ein quasi historisches Setting haben, wo aber irgendein Detail anders ist als in unserer tatsächlichen Weltgeschichte, und ausgelotet wird, welche Folgen das gehabt haben könnte. Es gibt Space Operas, die mehr oder weniger Fantasy-Abenteuer im Weltraum sind. Es gibt philosophische Geschichten, die im Prinzip so was sind wie Platos Höhlengleichnis in modern. Es gibt sogenannte social fiction, wo das Augenmerk nicht so sehr darauf liegt, welche neuen Techniken es in Zukunft geben könnte, sondern wie die Gesellschaft anders funktionieren könnte. Und es gibt halt auch Postapokalypse-Stories, denen man über längere Zeit nicht anmerkt, dass sie in unserer Welt spielen bzw. dem, was davon übrig geblieben ist.

Natürlich ist es völlig okay, eine Geschichte abzubrechen, wenn man nach den ersten Absätzen merkt: das ist aber so gar nicht meins. Aber man kann sich eigentlich in diesem Fall nicht wirklich beschweren, man wäre mit falschen Versprechungen dahin gelockt worden, nur weil da „Science Fiction“ drüber stand. :)

Kellerkind schrieb:
Das Setting könnte in die europäischen Bronzezeit oder präkolumbianische Amerika passen.
Die Bronzezeit wäre gegenüber der Lebensweise der Protagonisten ein Fortschritt – die leben wieder in der Steinzeit. Sozusagen Neo-Neolithikum. :) Die ernähren sich vom Sammeln und Jagen, und zwar mehr schlecht als recht. Ich stelle mir vor, dass ohne technische Hilfsmittel – Kunstdünger, Pestizide, Geräte, etc. - und mit einem fortgeschrittenen Klimawandel Landwirtschaft nicht mehr so ohne weiteres möglich ist.
Ich habe nicht versucht, eine bestimmte real existierende Kultur nachzuempfinden, aber gewisse Elemente (vielleicht auch: Klischees) aus solchen Stammeskulturen tauchen natürlich auf. Das war die Lebensweise, die über einen Großteil der Menschheitsgeschichte dominiert hat, und ich glaube, das steckt auch tief drin in den Menschen. Wenn ein Großteil der Errungenschaften der Zivilisation wegfällt, vermute ich, das ist so was wie das Default-Setting, zu dem das Leben zurückkehren würde.

Kellerkind schrieb:
An SF erinnert mich gar nichts.
Dass es SF ist, merkt man an der Erzählung über den „ältesten Stamm“ (=uns), bis zu der du wahrscheinlich nicht vorgedrungen bist.

Kellerkind schrieb:
Ich gehe jetzt wieder in den Keller und lese Asimov.
Ja, wenn man ein Anti-Programm zu dieser Geschichte sucht, dann ist Asimov, bei dem die Atomkraft noch als eine Art Magie-Ersatz mit wissenschaftlichem Anstrich herhalten musste, definitiv eine gute Wahl :lol: (sonst natürlich auch).
Ansonsten gibt es hier unter dem SF-Tag ja auch sehr viele Kurzgeschichten, die dir vielleicht eher zusagen.

Lieber The Incredible Holg,
Vielen Dank für deinen Kommentar, der hat mich sehr gefreut!

The Incredible Holg schrieb:
Ich glaube, man könnte ihr neben "Science Fiction" auch das Schlagwort "Fantasy" geben, diese Endzeitszenarien sind ja immer so ein bisschen von beidem.
Ich vergebe lieber nur ein Tag. In den guten alten Zeiten von kg.de gab es ja statt der Tags Unterforen, da konnte man eine Geschichte nur in einem davon posten. Mich verwirrt das, wenn ich auf Fantasy klicke und eine Geschichte lesen, und dann auf SF klicke und da ist dieselbe Geschichte noch mal. Und außerdem bin ich in manchen Dingen eigenartig konservativ. :)
Und für mich ist die Trennlinie zwischen SF und Fantasy immer, ob da etwas Übernatürliches vorkommt (Teleportieren mit einem Teleporter = SF, Teleportieren mit einem Zauberspruch = Fantasy :)).
The Incredible Holg schrieb:
Das gefällt mir gut, trotzdem habe ich mich dabei ertappt, dass ich zum Ende noch eine Art Pointe, Showdown oder Moral vermisst habe.
Für mich gibt es zwei Sachen, die man als „Moral“ bezeichnen könnte.
1.: Es ist Mist, seinen Nachfahren so ein fürchterliches Erbe zu hinterlassen, und man sollte das tunlichst vermeiden. (Leider haben wir und viele Generationen nach uns das Zeug nun so oder so am Hals, selbst wenn morgen alle AKWs abgeschaltet würden - man kann bloß hoffen, dass noch irgendeine gute technische Lösung gefunden wird, die so ein Worst Case Szenario verhindert).
2. (Fast schon ein bisschen kitschig): Geschichten sind ein Weg, um Wissen zu bewahren und Menschen Sinn und Hoffnung zu geben, auch wenn rundherum alles furchtbar ist.
Aber ich verstehe, was du meinst, es gibt nicht wirklich einen Höhepunkt. Das hängt auch damit zusammen, dass die Geschichte diese Form einer lange zurückliegenden Erinnerung hat, und das Motiv des Erzählers ist eben letztendlich, andere vor dem „Fluch“ zu warnen und nicht, einen dramatischen Showdown abzuliefern. Vielleicht fällt mir noch etwas ein, um das Ende zu verbessern – das ist der jüngste und bisher am wenigsten überarbeitete Teil der Geschichte, ich habe mich sehr schwer getan, da überhaupt zu einem Endpunkt zu kommen.
The Incredible Holg schrieb:
Dass die Geschichte nach einer nuklearen Katastrophe spielt, begreift man ja sehr viel früher, und danach kommt einfach nichts Überraschendes mehr.
Die Katastrophe muss nicht unbedingt nuklear gewesen sein – ich denke sogar, es war etwas anderes, weil die Folgen von einem GAU zwar schrecklich, aber lokal ziemlich begrenzt und deshalb eher nicht zivilisationszerstörend sind (siehe Tschernobyl und Fukushima). Eher so was wie ein Supervulkanausbruch, ein Meteoriteneinschlag oder eine wirklich üble Pandemie. Ein Atomkrieg könnte natürlich sein – aber daran habe ich nicht gedacht. Die Erzählungen über den ältesten Stamm erwähnen ja keinen Kampf, es heißt bloß, die Menschen wurden verflucht. Das ist natürlich offen in der Geschichte, jeder Leser kann sich etwas anderes vorstellen, was das Ende der Zivilisation herbeigeführt hat und was die Quelle der Radioaktivität ist. Aber bei mir intern hieß die Geschichte, bevor sie einen offiziellen Titel hatte, „Endlagergeschichte“ (bzw. „dieses Mistding, was einfach nicht fertig wird“). Und ich denke auch, bei einem Endlager ist es wahrscheinlicher, dass es mit einem dauerhaften Warnzeichen ausgestattet wäre, als bei einem Atombombenkrater.
The Incredible Holg schrieb:
In deinem Falle könnte man darüber debattieren, ob es stimmig ist, dass Kara und ihr Volk zwar noch wissen, was der Mond für ein Himmelskörper ist und dass auf ihm mal Menschen gelaufen sind, dass es aber offenbar keine weiteren Ansätze für Astronomie und beispielsweise auch keine richtige Schrift mehr gibt.
Ja, die Geschichte der Mondlandung ist da zu einer Legende geworden. Wissenschaft oder schriftliche Zeugnisse sind nicht überliefert worden – eher so etwas wie eine verzerrte Erinnerung an die Fernsehbilder. Im Detail ist die Erzählung ja auch sehr ungenau, sie stellen sich Raumschiffe als Boote vor, weil das ihrer Vorstellungswelt noch am nächsten kommt. Es ist auch beabsichtigt, dass das für einen Menschen, der nicht mit dieser Überlieferung aufgewachsen ist, wie ein Ammenmärchen klingt. Man kann es den Rabenfelsenleuten überhaupt nicht zum Vorwurf machen, dass die das für Blödsinn halten, ich würde sagen, von ihrer Warte aus ist es rationaler, das nicht zu glauben. Es gibt keinerlei Beweise dafür und es klingt völlig absurd. Das macht das Ganze auch so tragisch – die Rabenfelsenleute haben wirklich keinen guten Grund, Kara zu glauben, als sie von dem Fluch erzählt, denn das klingt ja genauso abwegig. Das war mir wichtig, dem Leser so ein bisschen zu zeigen: unsere Perspektive erscheint uns nur deshalb logisch und unzweifelhaft, weil wir über ganz viele Informationen und hochentwickelte Werkzeuge verfügen. Wenn das wegfällt, dann klingen viele Dinge, die wir heute für selbstverständlich halten, auf einmal ziemlich fantastisch. Kara hat zwar mit vielen Dingen Recht, aber deshalb hat sie nicht unbedingt die besseren Argumente auf ihrer Seite.

The Incredible Holg schrieb:
Was tut sie z.B., um Ono wie einen Dummkopf aussehen zu lassen?
Na ja, ich dachte mir halt, sie macht vieles anders, als es den Traditionen des Stammes entspricht, und deshalb kommt dann immer: Wieso um Himmels Willen hast du dir so eine Frau ausgesucht, die alles verkehrt macht? Aber ich schaue mal, ob ich das mit einem Beispiel deutlicher machen kann.

The Incredible Holg schrieb:
Dieses "nicht einmal" passt nicht. Kara weiß, wie lange sie auf der Welt ist, und der Erzähler nicht, Punkt. "Nicht einmal" würde Sinn ergeben, wenn der Erzähler noch weniger wüsste als das.

Habe ich verständlich gemacht, was ich meine?

Nee, nicht so richtig? Vielleicht liegt das auch bloß an der Uhrzeit, aber mir ist noch nicht klar, was du meinst.
Nach meinem Verständnis ist das so was wie „XY hat schon alle Challenge-Geschichten kommentiert, und ich noch nicht einmal die Hälfte“ – also aus Sicht des Erzählers hat sie ihm da etwas voraus.
The Incredible Holg schrieb:
Berechtigte Frage. Ich finde, darauf sollte der Großvater irgendeine Antwort haben, auch wenn es eine falsche ist.
Er wird auch kein wirklich gutes Gefühl haben bei dieser Wanderung nach Norden. Aber aus seiner Sicht gibt es keine Alternative. Und als Autoritätsfigur kann er sich da nicht auf eine Diskussion einlassen.

The Incredible Holg schrieb:
Genau genommen könnte es eine ganz gute Idee sein, Regen zu trinken, da Wolken ja oft einen weiten Weg hinter sich haben und dann aus unverseuchtem Gebiet kommen. Aber das weiß Kara vielleicht nicht, und ihre Aussage ist wohl nicht ganz wörtlich zu nehmen.
Ja, das kann sie nicht wissen – ich denke die Vorstellung ist „auf diesem ganzen Gebiet lastet ein Fluch“.

The Incredible Holg schrieb:
Seeehr clever, jetzt geben sie dem Boten die Schuld ... das ist wohl die menschliche Natur. Kara ist nicht zufällig eine Kurzform von Kassandra ...?
Doch! :bounce: Und das hat mich voll gefreut, dass das jemand erkannt hat.

The Incredible Holg schrieb:
Gar kein Versuch, sie zu begraben? Hm ...
Ja, da habe ich auch hin und her überlegt. Aber sie wollte ja ins Wasser, also ist es möglicherweise auch respektvoller, ihr nicht ein fremdes Begräbnisritual aufzuzwingen. Aber ich denke, dazu werde ich noch einen Satz einbauen.

Vielen Dank auch für die Kommas und sonstigen Fehler, darum kümmere ich mich so schnell wie möglich!

Liebe wieselmaus ,
Vielen Dank für auch für deinen Kommentar, schön dass es dir gefallen hat und dass dir die Clan-Mentalität plausibel vorgekommen ist.

wieselmaus schrieb:
Die Diskussion über den Science-Anteil, insbesondere die Dauer einer nuklearen Verseuchung, kann ich nachvollziehen. Vielleicht könnte Ono in seiner letzten Botschaft noch eine Zeichnung von einer Bombe, Rackete oder jedenfalls eines Gegenstandes der Welt vor dem Atomschlag hinterlassen. Etwas Konkretes.
Siehe oben – ich stelle mir die Verseuchung nicht als Resultat eines Atomkriegs vor – eher als das Ergebnis von Wasser, das wider Erwarten doch in den Salzstock Gorleben hineingesickert ist und dann irgendwo wieder an die Oberfläche kommt, oder etwas in der Art. Aber mir ist auch bis jetzt nichts eingefallen, wie man das eindeutig rüberbringen könnte.

wieselmaus schrieb:
Übrigens hätte deine Geschichte auch in die Challenge gepasst. War das geplant?
Nein, geplant war das nicht. Die Geschichte ist viiiel älter als die Challenge. Wie lange ich an der gesessen habe – Äonen sind vergangen, Weltreiche sind aufgestiegen und zerfallen, Finkenarten auf abgelegenen Inselgruppen haben sich in verschiedene Spezies aufgespalten, bevor die verdammte Geschichte endlich fertig war (na gut, streng genommen auch bevor ich mit dem Schreiben angefangen habe)!
Natürlich hätte die zum Challenge-Thema sehr gut gepasst, wenn ich meinen Hintern rechtzeitig hochgekriegt und sie vor der Deadline fertig geschrieben hätte – daraus ist leider nichts geworden. Aber das Lesen der Challenge-Geschichten hat mich zumindest angespornt, sie fertig zu schreiben. :)
Wegen dieser Bummelei wollte ich eigentlich mit dem Posten warten, bis die Abstimmung vorbei ist, weil so viele (mich eingeschlossen) geplant haben, alle Challenge-Geschichten zu kommentieren, aber dann hätte ich dieses Jahr überhaupt keinen Text gepostet und das hätte ich dann doch schade gefunden.

Und noch mal @schillrich

schillrich schrieb:
Aber mein Vorschlag ist, dem wissenden Leser "entgegen zukommen", z.B. in dem das ganze als fragenden und offenen Gedankengang in seinem Kopf ablaufen lässt ... in etwa so:

"Der Mond ist eine andere Welt, wie unsere. Das sagen alle unsere Geschichten. Aber wenn er hell und dunkel wird, woher bekommt er sein Licht? Und woher bekommt er seine Dunkelheit? Wirft da etwas einen Schatten? Das hörte sich gut an, wie wenn ich hier unter einem Baum durchlief. Aber war es wirklich so? Ich schaute immer wieder fragend hinauf ..."

Ich finde das total nett von dir, dass du da dran bleibst und dir so viele Gedanken dazu gemacht hast, aber meine Intention an der Stelle ist einfach eine andere. Das Ziel ist nicht, die Vorstellungswelt der Wasserleute so wissenschaftlich korrekt wie möglich zu halten und dem wissenden Leser so weit es geht entgegen zu kommen. Das Ziel ist, dass man erkennt, was sie meinen, aber gleichzeitig auch sieht, dass die Überlieferung ziemlich verzerrt und eher so eine Art Legende ist.
Jetzt ruft das Bett, aber ich bedanke mich noch mal bei euch allen, das ist eine tolle, bereichernde Diskussion und da wird noch mindestens eine Runde Feinschliff für die Geschichte herauskommen.

 

Hallo noch mal, Perdita!

Dieses "nicht einmal" passt nicht. Kara weiß, wie lange sie auf der Welt ist, und der Erzähler nicht, Punkt. "Nicht einmal" würde Sinn ergeben, wenn der Erzähler noch weniger wüsste als das.
Habe ich verständlich gemacht, was ich meine?
Nee, nicht so richtig? Vielleicht liegt das auch bloß an der Uhrzeit, aber mir ist noch nicht klar, was du meinst.
Nach meinem Verständnis ist das so was wie „XY hat schon alle Challenge-Geschichten kommentiert, und ich noch nicht einmal die Hälfte“ – also aus Sicht des Erzählers hat sie ihm da etwas voraus.
Okay, ich versuch's noch mal. Dein Beispielsatz mit dem XY ist natürlich völlig okay, aber er ist anders als der in der Geschichte. Der in der Geschichte wäre eher vergleichbar mit: XY hat schon die Geschichte kommentiert, aber ich habe noch nicht einmal die Geschichte kommentiert. Siehst du das Problem?

Wenn die allgemeine Form lautet: Kara konnte A, aber ich konnte nicht einmal B, dann muss B irgendwie noch weniger sein als A, damit die Formulierung stimmig ist. (So, wie "die Hälfte der Geschichten" weniger ist als "alle Geschichten".) Bei dem Satz aus dem Text ist aber B sozusagen gleichrangig mit A, weil "Monde zurück bis zur Geburt zählen" de facto dasselbe ist wie "wissen, wie alt man ist". Der Satz in deiner Geschichte lautet also in etwa: Kara wusste, wie alt sie war, und ich wusste nicht einmal, wie alt ich war. Und da passt das "nicht einmal" nicht.

Puh. Jetzt klarer? :shy:

Er wird auch kein wirklich gutes Gefühl haben bei dieser Wanderung nach Norden. Aber aus seiner Sicht gibt es keine Alternative. Und als Autoritätsfigur kann er sich da nicht auf eine Diskussion einlassen.
Sehe ich genauso. Und als Autoritätsfigur würde er nach meinem Geschmack Karas Frage („Was glaubst du denn, warum im Norden keine Stämme leben?“) nicht unbeantwortet lassen. Er könnte ja so etwas antworten wie: "Weil es dort wenig zu essen gibt, aber momentan gibt es eben hier noch weniger." Oder: "Wer sagt, dass es dort keine Stämme gibt - ihr geht ja nicht hin, um nachzuschauen." Oder meinetwegen auch: "Weil die meisten Stämme genauso dumm und abergläubisch sind wie du dumme Wassergans, aber wir Rabenfelsenleute sind schlauer und mutiger!"

Jedenfalls so, dass er Kara nicht das letzte Wort lässt, weil es sonst eben aussieht, als wüsste er keine Antwort.

Mein Geschmack halt. :)

Grüße vom Holg ...

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Perdita.

Also meine Idee war: Unsere Zivilisation baut noch ein Endlager, dann geht sie unter – und zwar so gründlich, dass die wenigen Überlebenden nicht viele Überlieferungen zurückbehalten - und die Natur erobert die Städte zurück.
Das Endlager kam mir, ehrlich gesagt, gar nicht in den Sinn. Ich war gedanklich so auf einen Atomkrieg als Ursache des Untergangs der Zivilisation fixiert, dass ich mich durch die drei abgebrochenen Pfeile habe gar nicht mehr davon abbringen lassen. Das Endlager wird demnach gebaut, bevor die ersten Zeichen des Untergangs auftauchen, der einen ganz anderen Grund hat. So ganz kann ich mich mit dieser Idee noch nicht anfreunden...

Grüße,
Holger

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich selbst finde die Idee ganz charmant. Eine wissenschaftliche Diskussion in de Art gibt es ja tatsächlich: Wie können wir sicherstellen, dass Generationen in 1000 Jahren nicht beginnen unsere Endlager auszugraben? Welche Sprache/Symbolik soll ihnen das noch verständlich machen? Oder locken unsere Artefakte gerade die zukünftigen Ausgräber an ... so wie heute die Pyramiden uns anlocken, samt zuerst unverständlicher Hyroglyphen?

Btw, durch einen Atomkrieg würden die Einschlagsorte nicht langfristig "verseucht". Es wird da nur relativ wenig radioaktives Material aus den Bomben freigesetzt, das sich dann verteilt und vom Wetter ausgewaschen wird ... anders als ein Endlager, wo man viel sammelt und konzentriert. In Hiroshima lebt man heute ja auch wieder und Testorte in den Wüsten kann man auch begehen. Eine Atomruine hingegen eher nicht ...

 

Das Endleger kam mir, ehrlich gesagt, gar nicht in den Sinn. Ich war gedanklich so auf einen Atomkrieg als Ursache des Untergangs der Zivilisation fixiert
Ging mir genauso. Ich glaube, das liegt weniger an der Geschichte als vielmehr daran, dass die Sache mit dem Atomkrieg so ein Allgemeinplatz in der Endzeit-SF ist. Sobald was mit Strahlung angedeutet wurde, bin ich eingerastet: Ah, Atomkrieg!

Keine Ahnung, wie man dem beikommen kann. :hmm:

Grüße vom Holg ...

 

Hi perdita!

Also ich finde die Geschichte sehr gut erzählt und unterhaltsam - das schon mal vorab! Mir gefällt deine Beschreibung der untergangenen Zivilisation und den verschiedenen Stämmen, die sich nach ihrem Lebensraum bzw. tierischen Eigenschaften benennen. Ganz grundsätzlich gefallen mir Endzeit-Stories und die Beschreibungen von Relikten aus unserer vergangenen Kultur, und wie das wohl in 100 oder 1000 Jahren aussehen mag. Wer kennt sie nicht, diese coolen Kinobilder der überwucherten Wolkenkratzer oder des zerbröckelten, verrosteten Eiffelturms.:)

Ob's jetzt der nukleare Holocaust oder ein Endlager ist, das ist (mir jedenfalls) relativ schnurz. Ich habe in diesem Zusammenhang mal eine Reportage gesehen, die sich mit dem Thema befasst hat, wenn plötzlich alle Menschen weg wären. Unsere Kernkraftwerke wären dann nämlich ohne Wartung und würden nach spätestens vier bis sechs Monaten alle schmelzen. Von den ganzen langsam weggammelnden Nuklearwaffen mal ganz zu schweigen. Im Endeffekt würde sich die Erde in eine global ziemlich stark verstrahlte Einöde verwandeln. Keine allzu rosigen Aussichten, wenn man nicht grad ein Skorpion oder eine Kakerlake is(s)t!;)

Grüße vom EISENMANN, der leider nicht zwischen dem 24.10. und 22.11. geboren ist, so'n Scheiß aber auch:D

 

Hi Perdita (und schillrich)

Nur ein kleiner Zwischenruf am Rande:

Der Mond ist kein Feuer, das angezündet wird und verlischt. Er ist eine Welt wie unsere, nur viel kleiner. Wir sehen sie nicht immer, weil sie manchmal im Schatten liegt.
Stimmt doch: Im Mondschatten (im eigenen Schatten). Allerdings nicht manchmal, sondern immer... Vielleicht so was wie: "Weil wir sie manchmal im/unter einem Schatten sehen"?

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 

Ach Perdita, ich sehe, es gibt für mich noch so viel zu lernen. Danke für die Hilfestellung. Da ich aus einem bildungsfernen Umfeld stamme und, ehrlich gesagt, noch nicht besonders viele Bücher gelesen habe, ist mir jeder Rat willkommen. Sicher könntest Du mir auch erklären, was das Wort Science im Genrebegriff verloren hat, wenn man frei von der Leber weg eine Fantasywelt, ohne jeglichen rationalen, logischen Überbau zusammenschustern darf. Auch die Frage, wieso man bei einer SF-Story goldene Regeln der Stilistik, wie "Show, don't tell!" oder "Vermeide passive Erzählweise!" nicht beachten muss, könntest Du mit Sicherheit beantworten. Oder wieso kommt die Wissenschaftliche Phantastik, wie sie zu Zeiten von Kurd Laßwitz noch genannt wurde, sogar ohne eine erkennbare Prämisse aus? So viele offene Fragen!
Aber die nächste Belehrstunde verschieben wir besser auf das neue Jahr. Ich muss erst einmal meine neugewonnenen Erkenntnisse verdauen.
Vielen Dank, und schönen Gruß
Kellerkind

 

Eigentlich wollte ich mir zu der Geschichte einige Aufzeichnungen machen, aber dann hab ich das Ding in einem Rutsch weggelesen und dabei ganz vergessen, nach Details zu suchen, an denen ich herummosern kann. Kudos, deine Endzeitgeschichte hat mich richtig begeistert und aufgesogen. Die Erzählerstimme hat mir gefallen - sie ist unaufgeregt und geschwätzig, ich nehme ihr ab, dass es sich dabei um einen alten Mann handelt. Wenn ich daran etwas bemängeln müsste, dann den Punkt, dass sie gelegentlich zu sehr in den Ton eines Kindes abrutscht. Das schiebe ich jetzt einfach mal auf die Tatsache, dass die Story zum größten Teil von einem Jungen handelt.

Es hat mir auch gut gefallen, wie du dir die Postapokalypse vorstellst. Das war erfrischend anders. In vielen anderen Werken fangen die Leute mit dem Ausklinken der ersten Bombe an, sich sämtliche Küchengeräte an den Körper zu nageln, die sie finden können - hier fallen die Menschen zurück in die Steinzeit, wo sie sich wieder in Stämme aufteilen und alberne Sagen erfinden, um sich Unbekanntes zu erklären.

Ich hätte mir fast gewünscht, dass du mehr auf die einzelnen Stämme eingehst, denn die Art, wie du Kara und die Wasserleute beschrieben hast, fand ich unglaublich charmant.

Beispiel:

weil die Mütter der Wasserleute eine Kette für ihre Kinder machen, sobald sie auf die Welt kommen.

Ich finde diese Idee einfach zauberhaft. Ganz im ernst.

Wir machten Witze darüber, dass man unsere Rippen zählen konnte.

Es ist schon erstaunlich, dass man etwas Tragisches wie eine Hungersnot charmant rüberbringen kann.

Den ganzen atomaren Kram hätte es meiner Meinung nach überhaupt nicht gebraucht. Der ist Standartkost bei Postapokalypsen und hat mich dann doch enttäuscht aufraunen lassen. Ich hätte viel lieber mehr über Karas Interaktionen mit dem Stamm gelesen, denn das fand ich deutlich interessanter. Davon hätte ich mir viel mehr gewünscht. Hier und da ein Detail über das, was in dieser Welt passiert ist, so im Stile der Mondgeschichte, und wir hätten ein sympatisches Ganzes, das ich ohne Wenn und Aber empfohlen hätte. So hält mich das vermutliche sechsmillionste nukleare Armageddon davon ab.

Das ist aber Korinthenkackerei. Auch mit Standartgenrekost ist das eine Geschichte, die ich mit großem Vergnügen gelesen habe.

 

Liebe Mehrfachkommentierer,

also @The Incredible Holg, HoWoA und schillrich,

danke für eure Erklärungen und zusätzlichen Anmerkungen. Dadurch ist mir erst bewusst geworden, dass die Schwierigkeit bei der Interpretation der Geschichte gar nicht so sehr darin liegt, zu erkennen, dass der Stamm in ein radioaktiv verseuchtes Gebiet geraten ist, sondern darin, dass die meisten Geschichten dieser Art nach einem Atomkrieg spielen, so dass viele Leser annehmen, es würde darum gehen. Ich denke zwar, dass würde sich anders äußern – statt eines räumlich begrenzten Gebiets wäre vermutlich alles relativ flächendeckend, dafür aber möglicherweise nicht so langfristig verstrahlt, und man würde nicht auf ein Warnzeichen stoßen – aber trotzdem ist es verständlich, wenn viele eher in diese Richtung denken.

Ob ich das lösen kann, muss ich mal schauen – der Ansatzpunkt wäre wohl, die Überlieferungen zu dem Thema präziser zu machen, aber ich weiß noch nicht, ob ich das plausibel hinbekomme. „Geht nicht in Gebiet XY, das Land ist verflucht/dort lauern böse Geister“ ist aus meiner Sicht die Sorte Warnung, die für so eine Kultur am besten funktioniert, weil es halt um eine unsichtbare und auch sonst nicht direkt wahrnehmbare Gefahr geht. Eine Geschichte der Art „Vor langer Zeit wurde dort etwas vergraben, das Menschen gefährlich werden kann“ wäre glaube ich nicht so effektiv darin, Leute fernzuhalten.

Lieber Eisenmann,

Eisenmann schrieb:
Also ich finde die Geschichte sehr gut erzählt und unterhaltsam - das schon mal vorab!
Vielen Dank, das ist natürlich toll zu hören. :)

Eisenmann schrieb:
Ob's jetzt der nukleare Holocaust oder ein Endlager ist, das ist (mir jedenfalls) relativ schnurz.
Auch wenn ich es gerne irgendwie eindeutiger hinbekommen würde, freut mich das auch sehr. Falls es mir beim Überarbeiten nicht gelingt, deutlicher zu machen, was ich meine, gibt es also zumindest ein paar Leser, die an der Geschichte trotzdem ihre Freude haben. :)

Eisenmann schrieb:
Ich habe in diesem Zusammenhang mal eine Reportage gesehen, die sich mit dem Thema befasst hat, wenn plötzlich alle Menschen weg wären. Unsere Kernkraftwerke wären dann nämlich ohne Wartung und würden nach spätestens vier bis sechs Monaten alle schmelzen. Von den ganzen langsam weggammelnden Nuklearwaffen mal ganz zu schweigen. Im Endeffekt würde sich die Erde in eine global ziemlich stark verstrahlte Einöde verwandeln.
Stimmt, darüber habe ich noch gar nicht so richtig nachgedacht – meine Annahmen sind also noch viel optimistischer, als vorher beschrieben. Nicht nur, dass vor der Apokalypse (bzw. der Katastrophe, die alles kaputt gemacht hat) ein Endlager in Betrieb gegangen sein muss, es müsste auch der Atomausstieg vollständig, inklusive Rückbau der Kraftwerke, durchgezogen und die Nuklearwaffen entsorgt worden sein, sonst würde es so viele „verfluchte“ Landstriche geben, dass man praktisch nirgendwo ohne radioaktive Belastung leben kann. Sieht zurzeit ziemlich utopisch aus. Und dabei strotzt die Geschichte ja nun nicht gerade vor Optimismus … :(

Eisenmann schrieb:
Grüße vom EISENMANN, der leider nicht zwischen dem 24.10. und 22.11. geboren ist
Das mit dem Geburtsdatum versteh ich leider nicht :confused:

Lieber erdbeerschorsch,
Danke auch für deinen Zwischenruf :)

erdbeerschorsch schrieb:
Vielleicht so was wie: "Weil wir sie manchmal im/unter einem Schatten sehen"?
Ich finde meine Formulierung besser – einfach vom Klang her und weil es kürzer ist. Klar, die Aussage ist nicht ganz präzise, aber das ist wie gesagt auch nicht das Ziel. Genau betrachtet ist ja z.B. auch die Aussage, dass die Menschen auf dem Mond denen hier unten zugewinkt haben, ziemlich irreführend, als hätte man das von der Erde aus direkt sehen können. Aber die Feinheiten sind halt nicht überliefert, weil die Menschen kein wissenschaftliches Bild von der Welt haben und sich keine Vorstellung mehr von unserer Technologie machen können. Wichtig ist mir bei der ganzen Mondgeschichte eigentlich bloß, dass man bei Lesen so einen Aha-Moment hat: ach, das spielt gar nicht in der Vergangenheit, sondern der Zukunft. :)

Liebes Kellerkind,

ich weiß nicht so recht, was du mit deinem zweiten Kommentar bezweckst. Möglich, dass meine Antwort auf deinen ersten Kommentar besserwisserisch rübergekommen ist und dich verärgert hat. Falls das so ist, war das nicht beabsichtigt. Online-Kommunikation hat viele Tücken, weil man weder Stimme noch Gesichtsausdruck des Gesprächspartners wahrnehmen kann. In der Regel fährt man am besten, wenn man Leuten einen gewissen Vertrauensvorschuss gibt und nicht annimmt, dass der andere einem eins reinwürgen wollte.

Trotzdem, Ärger hin oder her, deinen Sarkasmus finde ich nicht angebracht. Dass die Geschichte dir nicht zusagt, ist in deinem ersten Kommentar schon deutlich geworden. Natürlich ist das schade, aber ich sehe eigentlich nicht den Bedarf, das noch ausführlicher zu diskutieren. Geschichten, die allen Lesern gefallen, sind nun mal selten.

Dieser neue Kommentar macht auf mich ehrlich gesagt ein bisschen den Eindruck, als hättest du dich angestrengt, etwas zu finden, was du dem Text vorwerfen kannst – über die Tatsache hinaus, dass er nicht deinen persönlichen Geschmack getroffen hat.

Kellerkind schrieb:
Sicher könntest Du mir auch erklären, was das Wort Science im Genrebegriff verloren hat, wenn man frei von der Leber weg eine Fantasywelt, ohne jeglichen rationalen, logischen Überbau zusammenschustern darf.
Jede SF-Geschichte spielt in einer Fantasiewelt, die sich jemand ausgedacht hat – je freier von der Leber weg, desto weniger würde man es als hard SF einsortieren, aber das heißt nicht, dass es nicht trotzdem SF sein kann.

Vulkanier und Klingonen existieren nicht, trotzdem wird niemand behaupten, Star Trek gehöre ins Fantasygenre. Es gibt keine Technologie, um sich mit Überlichtgeschwindigkeit fortzubewegen, keine Zeitmaschinen und keine Teleporter, und es wird sie mit einiger Wahrscheinlichkeit niemals geben, trotzdem sind das alles Ideen, die der durchschnittliche Leser ganz selbstverständlich unter SF einsortiert. Die Grenze zur Fantasy ist fließend, aber eine Abgrenzung, die aus meiner Sicht gut funktioniert, ist die Frage: Haben die Elemente, die die Geschichtenwelt von der realen Welt unterscheiden, eine übernatürliche oder eine technologische/wissenschaftliche Erklärung? Und zwar unabhängig davon, ob das in der realen Welt funktionieren würde.

Diese Geschichte basiert auf einer wissenschaftlichen Grundlage, und es ist nicht wenig Recherche hinein geflossen – unter anderem zu den Themen Endlagerung radioaktiver Abfälle, Atomsemiotik, Symptomen der Strahlenkrankheit und Lebensweise traditioneller Sammler&Jäger-Kulturen.

Der Grund, warum die Geschichte auf den ersten Blick nicht wie SF wirkt, ist dass sie aus der Perspektive von Menschen erzählt ist, die kein naturwissenschaftliches Weltbild haben. Man ist es gewohnt, dass ein Protagonist in einer SF-Geschichte ein Raumschiff ein Raumschiff nennt und nicht ein Boot, das zu den Sternen fahren kann. Das ist aber keine zwingende Voraussetzung für SF.

Du bevorzugst offenbar eine engere Auslegung des Science Fiction-Begriffs. Das ist dein gutes Recht, aber das heißt nicht, dass alle derselben Definition folgen müssen wie du, und auch nicht, dass ein Text, der deiner Auffassung von SF nicht entspricht, ohne logischen Überbau zusammengeschustert ist.

Kellerkind schrieb:
Auch die Frage, wieso man bei einer SF-Story goldene Regeln der Stilistik, wie "Show, don't tell!" oder "Vermeide passive Erzählweise!" nicht beachten muss, könntest Du mit Sicherheit beantworten
Deine Auffassung von Show, don’t tell scheint auch eine andere zu sein als meine. Die Geschichte ist natürlich in dem Sinne „Tell“, dass der Erzähler nichts anderes tut, als seine Erinnerungen zu erzählen. Aber innerhalb der Geschichte, die er erzählt, gibt es aber ziemlich viel „Show“.

Es wird zum Beispiel nicht gesagt: Dieser Stamm ist eine Sammler&Jäger-Kultur. Es gibt einfach beiläufige Informationen über ihren Alltag, auf die der Erzähler auch nicht ausführlich eingeht, weil das für ihn selbstverständlich ist, die aber insgesamt für den Leser ein Bild ergeben. Es gibt natürlich auch „Tell“-Passagen, und Holg hat ein Beispiel dafür genannt und kritisiert. Daran kann ich noch arbeiten, aber vollständig verschwinden werden diese Passagen nicht. Geschichten, die nur aus „Show“ bestehen, sind ohnehin sehr selten. „Show“ benötigt mehr Zeit, und für bestimmte Informationen lohnt es einfach nicht, sich damit so lange aufzuhalten. Den Satz „Show, don’t tell“ verstehe ich nicht als: Benutze unter allen Umständen „Show“, sondern: wenn etwas mit „show“ oder mit „tell“ rübergebracht werden kann, dann ist das „show“ in der Regel die bessere Variante. Aber andere Faktoren (zum Beispiel die Länge des Textes) sollten bei der Abwägung auch nicht völlig außer Acht gelassen werden.

Kellerkind schrieb:
Oder wieso kommt die Wissenschaftliche Phantastik, wie sie zu Zeiten von Kurd Laßwitz noch genannt wurde, sogar ohne eine erkennbare Prämisse aus?
Die Prämisse ist in etwa: „Lange nach dem Ende unserer Zivilisation führt die radioaktive Belastung eines Gebiets zum Tod einer Gruppe von Menschen, die sich dort unwissend niederlassen“. Viele Leser haben die auch durchaus erkannt. Ich schätze es hilft, wenn man mehr liest als nur die ersten Absätze? :)

Lieber NWZed,

NWZed schrieb:
Eigentlich wollte ich mir zu der Geschichte einige Aufzeichnungen machen, aber dann hab ich das Ding in einem Rutsch weggelesen und dabei ganz vergessen, nach Details zu suchen, an denen ich herummosern kann. Kudos, deine Endzeitgeschichte hat mich richtig begeistert und aufgesogen.
Darüber habe ich mich wahnsinnig gefreut. Wenn man eine Weile im Forum unterwegs ist, entwickelt man ja so einen Kritikermodus, dass es relativ schwer fällt, eine Geschichte einfach nur „zum Spaß“ zu lesen und nicht im Hinterkopf schon an der Mängelliste zu arbeiten. Wenn eine Geschichte es schafft, dass man den Kritikmodus ausschalten kann, das ist natürlich toll.

NWZed schrieb:
Die Erzählerstimme hat mir gefallen - sie ist unaufgeregt und geschwätzig, ich nehme ihr ab, dass es sich dabei um einen alten Mann handelt. Wenn ich daran etwas bemängeln müsste, dann den Punkt, dass sie gelegentlich zu sehr in den Ton eines Kindes abrutscht. Das schiebe ich jetzt einfach mal auf die Tatsache, dass die Story zum größten Teil von einem Jungen handelt.
Ja, stimmt schon, die Geschichte spiegelt stellenweise so ein bisschen das kindliche Denken wider, was er zum jeweiligen Zeitpunkt hatte. Ich habe das so ähnlich aber auch schon erlebt, wenn alte Leute von ihrer Kindheit erzählen, also ich hoffe, das ist nicht allzu abwegig.

NWZed schrieb:
Es hat mir auch gut gefallen, wie du dir die Postapokalypse vorstellst. Das war erfrischend anders. In vielen anderen Werken fangen die Leute mit dem Ausklinken der ersten Bombe an, sich sämtliche Küchengeräte an den Körper zu nageln, die sie finden können
Hey! Nichts gegen Mad Max! :D

NWZed schrieb:
Ich finde diese Idee einfach zauberhaft. Ganz im ernst.
Die mochte ich auch sehr gern.

NWZed schrieb:
Den ganzen atomaren Kram hätte es meiner Meinung nach überhaupt nicht gebraucht.
Das war eben der Auslöser für die ganze Geschichte, dieses Problem, dass man eine Gefahr geschaffen hat, die sehr wahrscheinlich unsere Zivilisation um ein Vielfaches überdauern wird, und dass es keine Möglichkeit gibt, die Generationen danach (vorausgesetzt, es leben dann noch Menschen) vor dieser Gefahr zu warnen. Aber ich finde es sehr schön, dass die Geschichte so viel Eigenleben entwickelt hat, dass du meinst, man könnte auf diesen Hintergrund eigentlich verzichten. Es ging beim Schreiben teilweise sehr mühsam voran und ich bin wirklich froh, dass die Geschichte abgeschlossen ist, aber ich habe das Gefühl, in mancher Hinsicht hat es dem Text auch gut getan, dass er so eine lange Reifezeit hatte.

Kommafehler und sonstige Verbesserungen habe ich nicht vergessen – das nehme ich so schnell wie möglich in Angriff. Morgen ist noch ein Arbeitstag, aber zwischen den Jahren wird es dann, denke ich.

 

Huhu Perdita!

Das mit dem Geburtsdatum versteh ich leider nicht :confused:

Dazu nur ne kurze Erklärung: ich hatte ja angedeutet, dass Skorpione wesentlich besser mit Strahlung umgehen können als Menschen - nun, innerhalb dieses Geburtstagszeitraums wäre man vom Sternzeichen her ein ... TaDaaaa - Skorpion!!:rotfl:
Oh Gott - dieser Kalauer ist ja selbst für mein Niveau schon flach!!!:silly:

Viele Grüße vom EISENMANN

 

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