Was ist neu

Hazel

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11.01.2017
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2

Hazel

1

Arthur Montgomery saß genervt auf seinem Pferd. Die zwei Löcher, die in seine Kapuze geschnitten wurden, waren viel zu klein um auch nur ansatzweise eine gute Sicht zu haben. Genauso machte der Stoff das Tragen der ganzen Robe unangenehm. So hart und rau wie er war, kratzte er an jeder möglichen und unmöglichen Stelle und man hatte das Gefühl in einem mit Läusen besetzten Mehlsack gefangen zu sein.
Also legte Montgomery seine Konzentration auf sein Gehör um zu erahnen was sich vor ihm abspielte. Das schwere Schnaufen seines majestätischen, dunkelbraun Schimmels wurde von den unterschiedlichsten Geräuschen übertönt: Peitschenhiebe und Tritte, vor Angst und Schmerz verzerrte Schreie und Hilferufe, aber auch vergnügte Rufe und Gelächter. Sie verschmolzen für Montgomery zu einem Klanggemisch aus tausend Emotionen.
Dieses Klanggemisch wirkte fehl am Platz in solch einer klaren Sommernacht. Der Mond hatte sich zu einem perfekten Kreis entwickelt und erleuchtete mit seinem weißen Licht die Erdkugel. Wie ein feiner Nebel legte sich der glitzernde Mondschein über jedes Blatt an den Bäumen und ergoss sich über das in der Nacht dunkelblau wirkende Gras. Während er aber mit der Natur im Einklang zu sein schien, kämpfte der Mondschein gegen die tosenden Flammen an, die aus den Hütten brachen wie die gierigen langen Finger des Todes selbst. Aber sie ließen sich nicht löschen.
Wellen aus Qualm und Hitze trafen Montgomery so regelmäßig als würden sie einem für Menschen unhörbaren Takt folgen. Sie brachen an seinem Körper als wären sie tatsächlich die machtvollen Wellen des Meeres und der helle Stoff seiner Robe sog sie auf wie ein Schwamm. Bei jedem Atemzug bekam er weniger Luft, seine Lunge fing an zu brennen und er hatte immer mehr das Gefühl zu ersticken. Der gräuliche Qualm schnitt Montgomery wie ein Strick das schwerelose Nichts ab, das jedes Wesen zum Leben brauchte.
Aber er konnte seine Kapuze nicht abnehmen. Nicht jetzt. In dieser anhaltenden Unzufriedenheit fragte sich Montgomery, warum er überhaupt ein Teil dieses Klans war. Warum er mitten in der Nacht wie blind auf seinem Pferd saß anstatt zu Hause neben seiner Frau im Bett zu liegen und friedlich zu schlafen. Warum er diesem Elend aufmerksam lauschte und warum er es nichtmal wagte darüber nachzudenken es aufzuhalten.
Montgomery wusste die Antwort, die er nicht einmal seinen eigenen Gedanken eingestehen wollte. Aber es war die Furcht. Die Furcht genauso behandelt zu werden. Er wusste sie würden es tun, egal was er ist oder was er einmal war.
Der plötzliche grelle Schrei eines kleinen Kindes hob sich aus dem Klanggemisch hervor und riss Montgomery aus seinen Gedanken. Durch seine Kapuze konnte er nur vage eine dunkelhäutige Frau erkennen, die auf dem Boden lag und schützend ihren Körper über das schreiende Kind legte. Immer wieder brach sie unter der Peitschenschlägen von einem von Montgomerys Gefährten zusammen. Ihre flehenden Schreie wurden von Schlag zu Schlag leiser bis sie nur noch ein Wimmern von sich geben konnte.
Sofort kam das Bild von seiner kleinen Tochter Alice in Montgomerys Kopf auf. Sie war beinahe zwei Jahre alt, aber schon jetzt erkannte man was für eine Schönheit sie mit ihren großen blauen Augen und dem feinen hellen Haar werden würde. Montgomery überkam das warme Gefühl von väterlicher Liebe und Stolz sobald das Bild von Alices strahlendem Lächeln in seinem inneren Auge erschien. Und ohne weiter nachzudenken gab er seinem Pferd die Sporen und ritt zügig zu der wimmernden Frau. Bevor sein Gefährte zu einem weiteren Peitschenschlag ausholen konnte rief er: „ Hey! Überlass sie mir, ich will das zu Ende bringen. Es gibt noch genügend zu tun, halt dich nicht mit einer Sterbenden auf!“ Hektisch sprang Montgomery vom Pferd und stellte sich vor die Frau.
Der Mann ihm gegenüber hielt in mitten seiner Bewegung inne. Er starrte Montgomery an, und ließ sprachlos in Zeitlupe den Arm sinken, in der er seine dunkelbraune Lederpeitsche mit festem Griff hielt. Dann aber schien er zu verstehen was gesagt wurde und lachte höhnisch als würde er sich ausmalen mit welcher Grausamkeit Montgomery das zu Ende bringen würde was er begonnen hatte.
„In Ordnung, wie du willst.“ Er ließ die Peitsche schnell durch seine andere Hand gleiten, sodass das dunkelrote Blut auf seine schneeweiße Robe spritzte. Ohne einen Hauch von Ekel wischte er sich noch die Hand an seiner Robe ab und sagte: „ Aber mach es richtig, ich will nicht, dass dieser Nigger noch einen Sonnenaufgang erlebt.“
Endlich wandte er sich ab und rannte unbeholfen davon um weitere Opfer zu suchen, deren Blut sich durch die Peitsche wahrscheinlich mit dem der Frau mischen würde.
Als sich Montgomery sicher war, das sein Gefährte fort war, kniete er sich nieder und betrachtete die Frau. Erst aus der Nähe konnte er jetzt erkennen, wie verletzt sie wirklich war. Das Blut färbte auch ihr Baumwollkleid dunkelrot und ihr Gesicht war übersät von Schwellungen und Schnittwunden. Ihr Bein stand in einem unnatürlichen Winkel ab und Montgomery war klar, dass sie den nächsten Tag tatsächlich nicht erleben würde, geschweige denn dass sie ihr Kind weiter versorgen konnte. Er beugte sich langsam weiter vor um zu sehen, ob das Kind verletzt war oder ob der menschliche Schutzwall seiner Mutter es davor bewahrt hatte.
Sobald er dies tat, nahm die Frau seine Präsenz wahr. Bei dem Anblick von Montgomery weiteten sich ihre Augen vor Angst. Aber es war mehr als nur Todesangst, die er aus ihrem Blick lesen konnte. Es war viel mehr als das. Ein unendliches Leiden, die qualvolle Sorge um die Zukunft ihres Kindes und das Entsetzten darüber, wie Menschen in der Lage sein konnten so etwas zu tun.
Diese, in ihren geröteten Augen schwimmenden Emotionen schockierten Montgomery bis ins Tiefste und sofort breitete sich die innere Last der Schuld bis in seine Fingerspitzen aus. Diese Schuld ließ ihn seine Hand ausstrecken um die Schulter der Sterbenden zu berühren. Er spürte wie sich ihr Körper mit jedem schweren Atemzug auf und ab bewegte.
Plötzlich ging ein schwacher Ruck durch ihren Körper alsbald sie mühsam schluckte. „ Bitte.“ , zischte sie mit aller Kraft, „du kannst mich töten aber bitte, lass meine Tochter am Leben.“
„ Keine Sorge.“ , flüsterte Montgomery, „ Ich werden mich gut um sie kümmern. Aber sag mir, wie heißt sie? “
Glitzernde Tränen rollten über die dunkle Haut der Frau und sammelten sich in dem Fleisch ihrer offenen Schnittwunden. Vorsichtig nahm Montgomery das zerbrechliche, notdürftig in einfache Tischdecken gewickelte Kind aus den schützenden Armen seiner Mutter. Er wusste nicht, ob es Tränen der Erleichterung waren, aber er wusste, dass er die letzte Hoffnung dieser Frau war.
„Wir haben noch keinen Namen gefunden.“, stieß die Frau mit flachem Atem aus, die Anstrengung ließ sie beinahe bewusstlos werden.
Und dann, blickte Montgomery das erste Mal in das Gesicht des kleinen Mädchens. Sie hatte aufgehört zu schreien und atmete ruhig mit leicht geöffnetem Mund. Ihre runden Gesichtszüge waren die eines jeden Neugeborenen. Einige schwarze Locken stahlen sich unter den wärmenden Tischdecken hervor. Die haselnussbraunen Augen des Mädchens starrten fasziniert den Mann an, der ihr Leben gerettet hatte. Und dieser würde diesen Moment niemals vergessen.
„Na gut also dann… dann nenne ich dich Hazel.“, entschied Montgomery und als er noch ein letztes Mal seinen Kopf zur Mutter des Mädchens wandte, war bereits das Leben aber auch das Leid aus ihrem Gesicht gewichen.
Während bis dahin die Zeit stehengeblieben zu sein schien, traf die Einsicht über das große Risiko seiner Entscheidung bei Montgomery ein wie ein Schlag. So schnell es ging versteckte er das Kind unter seiner weiten Robe und riss ein Loch hinein, damit es nicht erstickte. Mit pochendem Herzen stieg er auf das Pferd, das geduldig auf seinen Gebieter gewartet hatte, und ließ mit größter Geschwindigkeit das brennende Dorf hinter sich.


2

Die erste klare Erinnerung meiner Kindheit ist blondes Haar und helle Haut, die die warmen Sonnenstrahlen eines schönen Spätsommernachmittags reflektierten. Dieses glänzende Haar, dessen Strähnen sich in einer kühlen aber dennoch angenehmen Brise auf und ab bewegten, gehörte zwei jungen Kindern, einem Mädchen und einem Jungen. Sie spielten bei so gutem Wetter für gewöhnlich draußen im Garten, rannten voller Energie und Freude über den gepflegten sattgrünen Rasen und tanzten um den Stamm einer uralten Lebenseiche. Sie brauchten nicht viel Spielzeug, denn ihr Vorstellungsvermögen entführte sie in die fantastischsten Welten, die schöner waren als alles, was in der Realität jemals hergestellt werden konnte.
Ich sah meinen Geschwistern oft zu, während ich in dem gemütlich eingerichteten Zimmer saß, das wir uns teilten. Und obwohl ich damals noch genau so jung war wie sie, erkannte ich das, was mich von ihnen unterschied. Das, was mich anders machte und woraus ich in dem Moment nicht schlau wurde.
Jedes Mal, wenn mein Blick auf meine dunklen Hände fiel, drehte ich sie um um meine hellen Handflächen zu betrachten. Dann betrachtete ich meine Geschwister und verglich ihre Haut mit meinen Handflächen. Und tatsächlich, es ähnelte sich. Also fragte ich mich in meiner kindlichen Naivität, ob die dunkle Haut meines restlichen Körpers auch einmal abfallen würde und dann meine richtige, helle Haut erscheinen würde. Ich wartete und hoffte jeden Morgen, dass ich mich über Nacht verwandelt hatte. Doch natürlich wurde ich bei jedem Blick in den Spiegel enttäuscht.
Deshalb begann ich danach zu suchen. Bei meinem täglichen Bad nahm ich den mit Schaum vollgesogenen Schwamm zur Hand und begann meine Unterarme zu schrubben. Ich schrubbte mit aller Kraft um zu sehen, ob die weiße Haut unter der hartnäckigen, dunklen Schicht hervorkommen würde. Aber das einzige, was seine Farbe änderte war das Wasser, das sich in ein helles Rot färbte sobald es meine brennenden Arme umschloss.


Und nun liege ich auf diesem weichen Rasen und schaue erneut zu wie sich eben dieses blonde Haar sachte im Wind weht. Ich wage es nicht, mich zu bewegen. Ich bin mir sicher dass ich dann die friedliche Stille des Sonnenaufgangs restlos zerstören würde. Der Himmel wechselt die Farben. Von dunkelblau zu violett. Von Violett zu Rot und Orange. Von Orange zu Gelb. Es ist so intensiv, dass ich die Augen schließen muss um sie gleich danach wieder zu öffnen. Der Anblick dieses Schauspiels fesselt mich, er zieht mich in seine beruhigende Schönheit.
Hier zu liegen ist auf eine Weise befreiend, die ich nicht erklären kann. Die Stille legt sich wie eine Daunendecke weich und mit einer beschützend leichten Last auf mich. Dennoch schenkt sie meinen Gedanken einen unendlichen Raum um sich zu entfalten. Egal in welche Richtung. Egal mit welcher Geschwindigkeit.
Ich denke über meine Kindheitserinnerung nach. Klar schwebt sie vor mir, wie ein Geist der nicht zur Ruhe kommt. Aber der Geist hat recht, ich muss es verstehen. Und ich glaube genau jetzt, da weiß ich es.
Der Unterschied zwischen mir und meiner Familie war immer sichtbar, ja er war sogar greifbar. Und seitdem ich denken kann war mir dieser bewusst, obwohl mir niemand gesagt hatte, dass er von Bedeutung war. Mir persönlich war das vollkommen egal, aber der Unterschied irrte dennoch in meinem Kopf umher. Wahrscheinlich ist er ein Teil jedes Menschen, ob wir es wollen oder nicht. Unglücklicherweise führt dieser Teil von uns zu bösen und grausamen Dingen. Dingen, die auch mir passiert sind. Dinge, die meiner Familie passiert sind.
Schon als kleines Kind wollte ich genau so sein wie sie, und ich wusste nicht einmal warum.Ich frage mich ob dieser Teil von uns jemals verschwinden wird. Die Sonne wärmt mich auf und der Himmel ist jetzt hellblau. Was für ein schönes Blau, so rein und klar! Wie würde die Welt wohl sein, wenn alles die selbe Farbe hätte?


Diese unendliche Langeweile war wie kochend heißes Wasser, das über deine Beine floss. Einfach unerträglich. Ich lag auf meinem Bett und starrte auf die gleichmäßig angestrichene, zartrosa Decke meines Zimmers auf die ich jeden Tag starrte und dachte über meine ausweglos verzweifelte Lage nach. Spätestens mittags fiel mir keine Beschäftigung mehr ein und jedes Mal als ich so regungslos dalag wünschte ich mir die schwersten Arbeiten der Welt, nur um dieser Nichtigkeit zu entkommen.
Alice und Noah, meine beiden Geschwister, waren bis in den Nachmittag hinein in der Schule und obwohl ich immer liebend gern gelesen hatte zog es mich nicht mehr zu dem deckenhohen, hölzernen Bücherregal, das vor lauter Büchern nur so überquoll. Denn wenn man jedes Einzelne mindestens drei Mal gelesen hatte, wusste man schon genau was fünf Seiten weiter passieren würde. Und schon längst bekannten Dingen habe ich mein Interesse noch nie gewidmet.
Meine einzige Hoffnung war also Dad. Ich wartete und wartete jeden Tag bis er nach Hause kam, mal länger und mal kürzer. Das Gefühl der Einsamkeit und Langeweile verschwand sobald ich seine wohl bekannten schweren Schritte hörte und und ich sprang sofort auf um zu sehen was geschehen würde und was es Neues gab. Dad war mein Tor zur Welt und ich lauschte jedem seiner Worte aufmerksam um das Leben außerhalb dieses Anwesens in mir aufzusaugen.
Natürlich war es noch besser wenn er einen seiner Freunde auf einen Drink zu uns nach Hause einlud. Um genau zu sein, hatte ich Dad noch nie Alkohol trinken sehen. Seine Freunde tranken offensichtlich den ganzen Tag und die ganze Nacht lang als würden sie aus einem Glas trinken das nie leer würde. Aber Dad hatte sich dafür nie erwärmen können, wofür ich ihn unfassbar schätzte. Stattdessen stand für ihn stets eine Schale Haselnüsse auf dem Tisch, die er stur leer aß während seine Freunde tranken. Denn der anständigste Mensch der Welt könnte durch dieses flüssige Gift zum Monster werden. Das wusste er und das wusste auch ich.
Ehrlich gesagt sollte ich mir über diese Situationen gar keine Gedanken machen können, sie bleiben unserer Familie eigentlich verborgen. Dad traf seine Freunde für gewöhnlich hinter verschlossenen
Türen und keiner sollte erfahren was sie berieten. Ich aber lauschte heimlich den Gesprächen und den Männern ist ihre versteckte Zuhörerin noch nie aufgefallen.
Es ist nicht so, dass ich meinen Vater jemals hintergehen und mit bösen Hintergedanken ausspionieren wollte. Der einzige Grund, warum ich so oft flach atmend im Flur stand und meine Ohren spitzte war meine Langeweile. So hatte ich wenigstens etwas worauf ich warten konnte, etwas, was mich beschäftigte. Natürlich verstand ich auch oft nicht den ganzen Kontext, mir fehlte einfach das Hintergrundwissen und oft konnte ich mit den Unterhaltungen wenig anfangen. Aber sie waren eine interessante Abwechslung zu meinen eigenen Gedanken.
Schon seit ich denken kann war es für mich strengstens verboten, mein Zimmer zu verlassen als ein Fremder im Haus war oder nach draußen zu gehen wenn ein Fremder auch nur ansatzweise in der Nähe sein könnte. Wir lebten außerhalb der Stadt auf einer großen Farm, umgeben von wunderschönen Feldern und Wiesen, die sich wie ein grünes Meer bis zum Horizont erstreckten. Also war es ein sehr seltenes Ereignis jemanden zu sehen, der nicht meiner Familie angehörte. Ich habe bis zu diesem einen Tag nie verstanden, warum ich nicht so frei sein konnte wie alle anderen. Warum ich nicht unbeschwert draußen im Garten spielen konnte, warum ich nicht mit meinen Geschwistern zur Schule oder mit meiner Mutter zusammen auf dem Markt einkaufen gehen konnte. Es war das große Rätsel meines Lebens, die Frage, die mir niemand beantworten konnte.
Als ich kleiner war, kam meine Mutter abends in unser Zimmer und las uns Kindern eine Geschichte vor. Jedes Mal entführte sie uns im warmen, flackernden Licht der Kerzen in die geheimnisvollsten Traumwelten, riss uns mit in die wildesten Abenteuer und stellte uns die verzaubertsten Wesen vor. Meistens legte sie sich neben mich in mein Bett, obwohl sie noch ihr schön besticktes Tageskleid trug. Ich spürte ihre Wärme durch die schneeweißen Laken hindurch, roch ihren Duft, eine Mischung aus Vanille und der kernigen Frische der Apfelfelder, und sah zu, wie ihre Lippen die Worte formten, die sich zu einer Geschichte fügten. Sie war eine bildschöne Frau, und jedes Mal wenn sie mich anlächelte, bewegte sich auch das dunkle Muttermal direkt über ihrem linken Mundwinkel mit nach oben.
Das waren die Momente größter Geborgenheit, die ich so sehr liebte. Ja, ich liebte meine Mutter so sehr, aber ich verstand nicht. Ich verstand nicht, warum sie mich anders behandelte. Deshalb fragte ich sie jede Nacht, sobald Noah und Alice eingeschlafen waren. Schon damals war ich viel zu neugierig und ich war mir sicher, wenn meine Mutter Zugang zu solchen Märchenwelten hatte, konnte mir sie auch so eine Frage beantworten. Jedes Mal hielt sie inne, schaute von dem Buch auf, das auf meinem Bauch lag und lächelte ein kurzes Lächeln.
„ Hazel“, sagte sie immer, „ du bist so besonders. Unsere geheime Prinzessin!“ Sie lehnte sich vor und drückte mir einen sanften Kuss auf die Stirn. Unsere Nasenspitzen berührten sich fast als sie dann flüsterte: „ Das einzige, was wir tun, ist dich zu beschützen.“
Die Zeit verging und irgendwann wurde ich zu alt für Märchen und Prinzessinnen. Es war egal wie intensiv ich die Decke über meinem Bett anstarrte und über mein Leben nachdachte. Die Frage blieb.


Laute Stimmen und eine zuschlagende Tür rissen mich aus meinen Gedanken. Dad war endlich zu Hause. Ich sprang auf, lief aus dem Zimmer und die Treppe hinunter, so schnell und leise wie ich konnte. Sie würden bestimmt im Wohnzimmer sitzen und ich ging behutsam, mit dem Rücken die Wand streifend, den Flur hinunter. Sie hatten ausnahmsweise die Tür angelehnt gelassen und ich riskierte einen Blick durch den Türspalt. Dad saß am ellenlangen, hölzernen Esstisch mit dem Blick direkt zur Tür, aber er sah mich nicht. Er widmete seine Aufmerksamkeit nämlich dem Mann, der ihm schräg gegenüber saß und dessen Profil ich sehen konnte. Es war dieser Geist von Alkoholiker namens Scott Roper. Er war keinen Tag älter als 25 aber seine Vorliebe für Scotch ließ ihn mindestens 10 Jahre älter aussehen. Roper kam öfter als es mir lieb war zu Besuch weil er wahrscheinlich - was ich vermutete - auch eine Vorliebe für die hübsche Alice hatte.
„ Diese schmutzigen Nigger waren widerlich letzte Nacht.“, sagte er und schenkte sich noch mehr Scotch in sein Glas. Nein, dachte ich, du solltest in den Spiegel schauen und sehen wie widerlich du bist.
„ Es hat Ewigkeiten gedauert bis ich die Dummheit aus ihnen herausgeschlagen hatte. Ich schwöre, ein Schwein, das sich in vergammeltem Essen gewälzt hat, riecht besser als diese dreckigen, braunen Ratten.“ Roper lachte sein gehässiges Lachen.
„ Also“, antwortete Dad während er seine erste Haselnuss aus der vor ihm stehenden Schale knackte, „ also ist die Art wie du sie behandelst die einzig Richtige.“
Ich wusste nicht was diese Nigger waren. Mir war noch nie eines begegnet und ich wusste auch nicht wie sie aussahen, niemand hat mir je von ihnen erzählt. Aber sie schienen grausame Kreaturen zu sein. Vielleicht musste ich ja deshalb beschützt werden, vielleicht waren sie viel zu gefährlich für mich.
„ Ganz genau Sir!“ , rief Roper und richtete seinen gekrümmten Oberkörper enthusiastisch auf, „ Um das beste aus ihnen zu machen muss man sie ausrotten. Ein für alle Mal!“
Dad lehnte sich nach hinten und lachte leise vor sich hin. Er liebte es Zustimmung zu finden, es unterstrich seine Autorität. Er nahm eine weitere Haselnuss, legte sie auf den Tisch und zerschlug sie mit der bloßen Hand. Nachdenklich betrachtete er die zersplittere, dunkelbraun Schale und die zerdrückte Nuss vor ihm. „ Ausrotten, ja….“ , sagte er leise zu sich selbst.
Roper, der Dads scheinbare Darbietung von Ausrottung treffend und daher unfassbar witzig fand, fing laut an zu lachen. Dad blickte überrascht von dem plötzlichen Lachen auf und widmete seine Aufmerksamkeit wieder Roper als er ihn ansah und mit fester Stimme sagte: „ Du hast recht, mein Freund. Wir haben das Jahr 1931 und wir leben sicherlich nicht in der Steinzeit! Minderwertige Rassen braucht solch eine moderne Welt nicht, sie sind überflüssig. Dennoch gibt es hier ein paar Gorillas die draußen rumrennen und denken sie seien frei. Wir müssen definitiv Pläne für die
nächsten Tage machen, ich glaube es sind noch einige Auspeitschungen nötig. Aber lass mich erst ein Glas Wasser holen, diese Haselnüsse sind ziemlich trocken, Verzeihung.“
Roper war sichtlich amüsiert und lachte immer noch in sich hinein während er sich nach links beugte, um die Zigarette in seiner Manteltasche zu erreichen. Dass er noch Feuer brauchte, fiel ihm in seiner Trunkenheit erst auf als er an der Zigarette zog. Unglücklicherweise war in seiner linken Tasche kein Streichholz mehr. Sobald er seinen Oberkörper nach rechts drehte um in der anderen Manteltasche zu schauen, sah er mich. Und zum ersten Mal sah ich die Grausamkeit seiner blutunterlaufenen, eisblauen Augen, die mich anstarrten als sei ich ein tollwütiges Tier.


Die Lebenseiche in unserem Garten war eines der schönsten Dinge die ich jemals gekannt habe. Sie hatte eine gewaltige Baumkrone und es würde wahrscheinlich Jahre dauern bis man die länglich ovalen, immergrünen Blätter gezählt hatte. Schon als Kind liebte ich es, mit meiner Hand über die dunkelbraune Rinde des Stammes zu streichen, der breiter war als Das groß. Und Dad war ein wirklich großer Mann. Das Rascheln der abertausend Blätter im Wind beruhigte mich auf eine unfassbare Weise. Es war verrückt wie ein Teil der Natur, ein Baum, mehr Unschuld und Ehrlichkeit beinhaltet als es ein Mensch jemals könnte. Seine Wurzeln waren schon lange bevor sich Menschen hier niederließen in dieser Erde verankert, sie waren an der selben Stelle wenn ich wie so oft den Stamm berührte und ich war mir absolut sicher dass sie bis ans Ende der Zeit hier sein würden. Erstaunlich, wie diese Lebenseiche mir mit seiner erdigen Natürlichkeit ein Gefühl von vollkommener Sicherheit gab. Hier war alles behütet, hier konnte nichts passieren. Die schönsten Tage für mich waren die, an denen ich zusammen mit Alice und Noah tatsächlich draußen spielen durfte. Leider wurde meine Vorstellung von Unschuld und Sicherheit genau an so einem Tag zunichte gemacht.


Die Intensität von Ropers Blick war so markerschütternd, dass ich in den ersten Sekunden wie gelähmt war. In diesem Moment meiner kompletten Starrheit war das einzige was sich bewegte die Angst, die sich von Kopf bis Fuß ausbreitete wie eine alles vernichtende Seuche. Dieser kurze Moment, diese wenigen Sekunden waren so fürchterlich endlos. Die Angst wuchs in mir und es war als wär sie ein Ungeheuer, das von innen gegen meine Haut drückte um auszubrechen. Ich wollte diesem Ungeheuer enfliehen, aber ich konnte mich nicht rühren. Also stieg der innere Druck immer und immer weiter, bis er förmlich ausbrach und ich mich auf dem Absatz umdrehte, rannte und nicht darüber nachdachte wohin.

Ich fand mich selbst am Fenster meines Zimmers wieder. Erst als ich meine Hand erschöpft aufs Fensterbrett legte um mich zu stützen, merkte ich, dass ich am ganzen Körper. Der Druck der Angst entlud sich nun in intervallartigem Zucken und ich konnte mich nicht dazu zwingen mich zu beruhigen. Jemand hat mich gesehen. Ein Fremder wusste von meiner Existenz. Wut stieg in mir auf, über mich selbst und wie ich so leichtsinnig sein konnte. Warum habe ich bloß durch den Spalt schauen müssen? Hätte es nicht gereicht wenn ich einfach neben der Tür gestanden und zugehört hätte? Ja ich schämte mich fast für meine Neugier, mein geradezu gieriges Verhalten, nur um einen belanglosen Blick zu erhaschen. Es tat mir so schrecklich leid, es fühlte sich an als hätte ich meine Eltern hintergangen. Sie wollten mich nur beschützten und ich war so rücksichtslos ihre Regeln zu brechen und ihre Bemühungen um mich zu zerstören. Es war beinahe undankbar. Bei diesen Gedanken presste ich die Lippen zusammen und ballte meine Hände zu Fäusten. Trotzdem verwandelte sich meine Wut in Tränen die mir genau dann in die Augen traten, als ich schwere Schritte auf der Treppe hörte. Jemand öffnete die Tür. Und die erste Träne rollte über meine Wange.


Es war Noah der das Seil, das um einen starken Ast der Lebenseiche gebunden war, vor ein paar Jahren fand. An diesem bewölkten, aber dennoch schönen herbstlichen Spätnachmittag waren wir alle drei, Noah, Alice und ich, sehr aufgeregt wegen Noahs Entdeckung, die vom größten Baum im ganzen Garten hing. Dieses Seil war ziemlich mysteriös denn keiner von uns wusste woher es kam. Wir standen alle unter dem Baum und legten unseren Kopf in den Nacken um eine bessere Sicht auf das unbekannte Objekt zu haben.
„ Schnell Noah, geh und hol eine Mistgabel oder sowas aus dem Schuppen damit wir es abnehmen können!“ , rief Alice aufgeregt und hüpfte auf der Stelle, als ob sie versuchen würde damit näher an das Seil zu kommen. Augenblicklich rannte Noah so schnell wie es seine noch kurzen Beine erlaubten davon. Die Sonne war gerade dabei unterzugehen und das grelle Licht, das seinen weg durch das dichte Geäst fand, blendete meine Augen. Dennoch sah ich, dass das Seil die Sonnenstrahlen nicht so reflektierte, wie es die Blätter des Baumes taten. Es glänzte nicht. Es sah aus als wäre es tot. Und der Tod passte überhaupt nicht zu meinem Lieblingsbaum.
Noah kam nicht mit der Mistgabel, nach der Alice gefragt hatte. Anstelle dessen hielt Dad seine kleine Hand und lief so hektisch und schnell durch den Garten zu uns, dass Noah fast rennen musste um mit Dads langen Beinen mitzuhalten. Dad trug seine Robe, die er an manchen Abenden trug. Es sah aus wie ein ein langes Kleid aus Baumwolle, schneeweiß, mit vier violetten Streifen auf den weiten Ärmeln. Er sah wirklich komisch darin aus, vor allem wenn er die nach oben spitz verlaufende Kapuze anzog, die sein ganzes Gesicht bedeckten wie eine Maske. Die Kapuze hatte nur zwei kleine Löcher, durch die man hindurchsehen konnte. Ich hatte etwas Angst vor dieser ganzen Robe. Erstens weil ich Dad darin nicht erkennen konnte und sich jederzeit auch ein anderer Mensch darunter verstecken könnte ohne dass ich es wüsste. Und zweitens kam diese Robe immer in einem Alptraum vor, den ich von Zeit zur Zeit hatte. Ich habe nie verstanden warum, aber es schlich sich immer wieder durch diese schrecklichen Träume. Dad war kein schlechter Mann und vor allem kein Mann für Alpträume.

An diesen Roben-Abenden war ich auch immer etwas besorgt, denn wir mussten sofort ins Haus als Dad auf seinem Pferd davonritt. Ich wusste nicht was in diesen Nächten passierte und die Ungewissheit hielt mich oft lange wach. Aber Dad kam jedes mal bei Sonnenaufgang wieder zurück und ich war froh, als ich ihn dann morgens am Frühstückstisch sitzen sah.
„ Also, zeig mir was du gefunden hast mein Sohn.“, sagte er als er bei uns ankam. Noah hob seinen Arm und zeigte mit seinem Finger auf das leicht im Wind schaukelnde Seil. „ Da ist es! Kannst du uns helfen es abzubinden?“
Sobald Dad das Seil sah, wurde er plötzlich wütend und nervös. „ Nein!“, sagte er mit bebender Stimme und rief dann Richtung Haus: „ Liz! Elizabeth! Komm schnell und bring die Kinder ins Haus. Sie haben um die Uhrzeit nichts hier draußen verloren!“
Kurze Zeit später kam meine Mutter aus der Hintertür gelaufen. „ Was ist denn los? Du weißt doch, dass ich gerade beschäftigt bin!“, rief sie gestresst und versuchte mit ihren hohen Schuhen auf dem weichen Rasen die Balance zu halten. Trotzdem sah sie elegant aus wie immer, ihr gerade geschnittenes knielanges Kleid folgte ihrem schlanken Körper bei jeder Bewegung. Es war aus dunkelgrüner Seide und verschmolz mit seinen glitzernden Blumenstickereien wie selbstverständlich mit der Natur. Obwohl ein leichter Wind wehte, bewegte sich ihr kurzes, zu Wellen geformtes blondes Haar keinen Zentimeter von der Stelle als wäre jedes einzelne Haar bedacht gesetzt und dann bis in alle Ewigkeit fixiert worden. Als sie endlich bei uns ankam, löste sich Noah sofort von Dads Hand und umschlang die Beine unserer Mutter. „ Daddy will uns nicht helfen. Sag doch etwas, Mum!“, schmollte er in ihr Kleid hinein.
„ Wobei denn helfen mein Schatz?“ Ihre zuvor gehetzte Stimme wandelte sich zu einem liebevollen aber verwirrten Wispern und sie fuhr ihm besorgt durch seine hellblonden Haare.
„ Ich will jetzt das Seil haben, Mum!“ Alice zeigte ungeduldig in das Geäst über uns. Sie war sichtlich sauer, dass sich ihre Erkundung dieses geheimnisvollen Teils verzögert hatte.

Mutter folgte Alice’ ausgestrecktem Arm und sobald sie das Seil erblickte, weiteten sich ihre Augen panisch und erstarrte komplett. Schockiert öffnete sie ihren Mund als hätte sie dergleichen noch nie
gesehen. Aber plötzlich geriet Bewegung in ihren Körper und sie preschte nach vorne um hektisch nach Alice Hand zu greifen. „ Es reicht für heute Alice. Ich will, dass du Noah und Hazel nimmst und ins Haus gehst.“
„ Aber- “, versuchte Alice zu widersprechen aber Mutter schnitt ihr das Wort ab. „ Sofort!“ , sagte sie eindringlich, „ und keine Widerrede mehr!“
Alice verdrehte die Augen, nahm mich und Noah bei der Hand und marschierte mit uns zurück zum Haus. Weder sie noch ich verstanden, was wir falsch gemacht hatten und ich war sehr verwirrt über Mutters verängstigte Reaktion. Aber ich hatte dennoch das Gefühl, dass unsere Entdeckung keine positive Vorgeschichte hatte.
Noch bevor wir über die Schwelle der Hintertür schritten, hörte ich, wie Mutter anfing Dad vorwurfsvoll anzuschreien: „ Was fällt dir ein? Du hast mir versprochen das hier nicht zu machen. Nicht hier! Ich will das nicht sehen. Ich will das nicht bei uns zu Hause!“


Ich wagte es nicht mich umzudrehen. Es war klar wer mir gefolgt war und ich hatte Angst mir auch nur vorzustellen was jetzt passieren würde.
„ Was hast du hier zu suchen? Wie bist du in dieses Haus gekommen?“, fragte er aggressiv, mit einer so verachtungsvollen Stimme dass ich noch mehr zitterte als zuvor. Wieder hörte ich Schritte immer näher und näher kommen bis er direkt hinter mir stand. Ich konnte hören wie er atmete, seinen beißend nach Alkohol stinkenden Schweiß riechen und seinen Körper nur einen Finger breit entfernt von meinem eigenen spüren. Plötzlich kratzten seine rauen Bartstoppeln an meinem Nacken und ich zog reflexartig meine Schultern so hoch wie ich konnte. „ Sag schon! “, zischte er in mein Ohr.
„ Ich, ich lebe hier.“ Seine Körperwärme war sehr unangenehm und widerte mich an aber ich hatte nicht die Möglichkeit mich auch nur einen Zentimeter zu rühren. Sein Körper bedrängte mich und seine Anwesenheit kesselte mich so ein wie ich es noch nie verspürt habe. Es war nicht so, dass ich noch nie so nah an einem Menschen gestanden hatte, noch nie einen Menschen berührt oder gar umarmt hatte. Aber die Art wie er sich mir genähert hatte, die Art wie sein feuchter Atem meine Haut traf war anders. Auf eine gewisse Weise schmutzig.
„ Ach!“, ich spürte wie er vor Verwunderung ein Stück nach hinten wich, „ Ach du lebst hier? Hier in diesem Raum?“ rief er und fiel in ein ungläubiges Lachen. „ Wie, um Himmels willen, kann ein Niggermädchen wie du hier leben? Nein, das kann nicht sein du dreckige Lügnerin! Du hast dich sicher hier reingeschlichen um zu stehlen.“
Voller Entsetzten hörte ich auf zu atmen. Ich war eines dieses Nigger? Wie konnte das sein? Ich habe noch nie etwas Böses gemacht, nie jemandem geschadet. Ich war kein Monster!
Roper kam wieder näher. „ Also, wie heißt du?“, flüsterte er und seine feuchten Lippen berührten mein Ohr.
„ Mein Name ist Hazel.“, sagte ich und wunderte mich gleichzeitig dass ich imstande war überhaupt etwas zu sagen.
„ Haaaassssel“ , lallte er auf einmal. Mir war durchaus bewusst, dass Roper betrunken war. Bis jetzt konnte er sich beherrschen aber offensichtlich hatte das nun ein Ende.
„ Hasssell. Haaaassel.“ Es war schon fast wie ein gedankenloses Singsang. „ Aber weißt du was?“ , lallte er weiter und war sichtlich bemüht den Satz richtig auszusprechen. „ Jeder kriegt das was er verdient. Und es wäre auch so schade etwas zu verschwenden. Selbst die verdorbenste und dunkelste Hazel kann benutzt werden.“
Genau in diesem Moment verstand ich was genau er meinte. Roper sprach von meiner Hautfarbe. Das war der Unterschied zwischen ihm und mir. Oder zum Beispiel zwischen Alice und mir. Es unterscheidet mich einfach gesagt von jedem Menschen mit weißer Haut. Es war ein Unterschied, den ich schon als kleines Kind wahrgenommen hatte und mich beschäftigt hatte. Aber es hat für mich nie eine Rolle gespielt. Zumindest nicht in der Hinsicht wie sehr ich meine Familie mochte oder wie sehr sie mich mochten obwohl ich anders war als sie. Aber anscheinend spielt es immer eine Rolle. Das sind also Nigger: Menschen mit dunkler Haut. Das war also ich. Ein Nigger.
Aber warum war ich dann hier? Warum war meine Familie nicht so wie ich, aber auch nicht so wie Roper? Was war falsch mit ihnen? Einerseits nicht hierher zu gehören aber andererseits sich zugehörig zu fühlen zerriss mich so wie man ein Blatt Papier zerreißen konnte. Innerhalb weniger Sekunden wusste ich nicht mehr wer ich war, wo ich herkam und wo genau ich hingehörte. Ich wusste bloß, dass ich weniger war als ein Mensch. Weniger als der Mensch der ich glaubte zu sein. Roper hat mir beigebracht dass wir unterwürfig waren, ein niedriger gestelltes Wesen. Trotzdem fing er an mit seinen warmen, groben Händen meine Hüften zu umschlingen.


Als ich meine Augen aufriss erwartete mich die schwarze Wand der Dunkelheit. Sie war nicht gerade hilfreich dabei zu erkennen wo genau ich war. Immer noch hektisch atmend fiel mir aber irgendwann doch mein Alptraum ein. Ich war blind und spürte nur regelmäßig heftige Tritte deren Impulse drückende Wellen durch meinen Körper jagten. Und da war diese unerträgliche, alles vernichtende Hitze die mich zu verschlingen versuchte. Je älter ich wurde desto öfter plagte mich dieser Traum und zwang mich zu weniger erholsamen Nächten. Er endete immer mit einer weißen
Maske, die plötzlich auftauchte und unfassbar schnell immer näher kam bis ich aufwachte. Aber es war zum Glück bloß ein Traum.
Während ich versuchte mich etwas zu beruhigen, tauchten Schatten auf die hin und her durch unseren Raum tanzten. Sie verbogen sich, je nachdem über welche Wand oder welches Möbelstück sie flogen, wie eine Ballerina, die ihre ganze Seele in ihren Tanz fließen ließ. Lange beobachtete ich die Darbietung, die sich mir an den Wänden und der Decke bot, und die Dynamik dieser nicht greifbaren Schatten war nahezu so hypnotisierend wie die züngelnden Flammen in dem Kamin unseres Wohnzimmers. Das ganze Schauspiel wurde von dem von draußen kommenden Lärm unterstützt, ja nahezu begleitet. Es waren laute Stimmen und Schreie, die geradezu verstörend den Sog der Schatten unterstrich, in das mein müdes, aber aufgebrachtes Ich hineingezogen wurde.
Es war einer von Dads Roben-Abenden und jedes mal, wenn mich mein Alptraum in solch einer Nacht aus dem Schlaf riss, passierten die selben Dinge:
Zuerst erschienen die Schatten und der Lärm von draußen. An diesem Punkt dachte ich darüber nach ob ich nun aufstehen und nachsehen sollte, was draußen los war. Diese Idee hatte ich jedes Mal verworfen, teils weil ich keine Lust hatte meine nackten Füße nicht auf das kalte Parkett zu stellen und teils, weil ich mich schlicht und ergreifend nicht traute.
Dann entdeckte ich üblicherweise Alice in ihrem weißen Nachthemd wie versteinert auf ihrer Bettkante sitzend und Löcher in die Luft starrend ohne auch nur einmal zu blinzeln. Sie rührte sich tatsächlich überhaupt nicht und ich erschreckte mich bei ihrem Anblick. Ein fahler Mondschein fiel auf ihre schlanke Gestalt und ihr herzförmiges Gesicht. Aber das einzige was Alice in dem Moment Leben verlieh, waren die Schatten, die auch über ihren Körper tanzten.
„ Was passiert da draußen Alice?“, fragte ich in den Raum.
Das ließ sie aus ihrem Trance aufschrecken und sie fokussierte mich mit ihren weit aufgerissenen, stahlblauen Augen als wäre sie verwundert, dass ich auch im Zimmer war. „ Gar nichts ist draußen los, geh wieder schlafen.“
„ Aber ich kann doch etwas hören! Und warte, warum bist du eigentlich wach?“
Stille. Wie jedes Mal als ich diese Frage stellte.
Und dann, wie aus dem nichts antwortete sie mit scharfer Stimme: „ Ich hatte ein Alptraum okay? Da ist absolut nichts Spannendes draußen. Gar nichts. Okay? Geh jetzt schlafen oder willst du auch noch Noah aufwecken?“
Ich wusste nicht was ich darauf antworten sollte, wandte meinen Kopf von ihr ab und widmete meine Aufmerksamkeit wieder den Schatten an der Decke. Meine Reaktion ließ auch Alice über ihre Worte nachdenken.
„ Hazel?“, flüsterte sie dann etwas sanfter, „ Schlaf gut.“
„ Du auch Alice.“, flüsterte ich zurück, schloss meine Augen und versuchte wieder einzuschlafen.
Es war nicht so dass ich nicht neugierig war was draußen vor sich ging. Aber ich glaube ich hatte zu große Angst, vor allem als ich jünger war, und Alices Antwort war eine gute Ausrede es nicht herauszufinden.
Ich war immer bloß froh Dad am nächsten Tag ohne seine weiße Robe zu sehen. Die Robe die mir Angst machte. Die Robe, die in meinen Alpträumen auftauchte.


Roper kämpfte damit mein Kleid zu öffnen aber ich nahm an er hatte Übung und so schaffte er es nach einer Weile. Ich krallte mich sofort ans Fensterbrett als er anfing meinen Rücken zu küssen und versuchte, mich zum Bett zu ziehen. Es war wirklich warm im Zimmer aber für mich war es eisig kalt. Es war kälter als die Eiswürfel in der Coca-Cola, die wir manchmal im Sommer bekamen. Und die Eiswürfel waren das kälteste was ich kannte.
Ich zitterte nicht mehr, aber stattdessen weinte ich ein leises Weinen. Zu spüren, wie ein Fremder mich auf eine solche Weise berührte, war erschreckend widerlich und ich war auf dem besten Weg einfach benutzt zu werden. Genau wie er es gesagt hatte.
Dieses Mal war ich froh darüber, dass ich mich nicht rühren konnte, am Fensterbrett festgekrallt zu sein machte es schwerer für Roper mich zum Bett zu ziehen. Aber natürlich war ein Mann, vor allem ein betrunkener, stärker als ein Mädchen wie ich eins war. Er wurde wütend und riss mich gewaltvoll vom Fenster weg bis er bekam was er wollte. Ich spürte auf meiner Hüfte wieder seine starken, großen Hände, die mich regelrecht aufs Bett warfen. Dabei knallte mein Kopf gegen das hölzerne Bettgestell und ich war endgültig wehrlos. Ich war kurz davor in Ohnmacht zu fallen und wegen dem dröhnenden Schmerz in meinem Kopf konnte ich nicht einmal mehr klar denken.
„ Wie kannst du es wagen dich mir zu widersetzen? Wie kannst du es wagen so zu tun als ob du es nicht willst? Wer hat dir das beigebracht?“ Ich konnte seine Stimme bloß gedämpft wahrnehmen aber ich konnte sie dennoch verstehen. Er hatte recht, ich wollte es nicht.
„ Du hohles Ding verstehst mich bloß wenn ich dich auspeitsche oder? Jeder kriegt was er verdient du dickköpfige Niggerschlampe.“ Mit verschwommenen Augen sah ich wie er seine Gürtelschnalle öffnete und seinen Gürtel herauszog.
Das wars, dachte ich. Jetzt konnte er tun was er wollte. Ich akzeptierte dass niemand, nichtmal ich selbst, mir in dieser Situation helfen konnte. Ich war komplett alleine. Mit Roper. Das Einzige was ich dann hoffte war, endlich ohnmächtig zu werden um nichts mehr zu spüren.
Ich sah wie Roper seinen glatten Ledergürtel durch seine Hände gleiten ließ. Ich sah wie er seinen Arm hob um auszuholen. Ich spürte schon den Schmerz in meinem Körper aufkommen.
Aber die Tür öffnete sich mit einem Schlag.
„ Was tust du hier du Bastard? Verlass sofort mein Haus und lass meine Tochter in Ruhe!“
Die Schmerzen in meinem Kopf verstärkten sich und ich musste die Augen schließen aber ich konnte die Stimmen nun deutlich hören. Wie ich so auf meinem Bett lag, konnte ich nicht so recht realisieren, was gerade wirklich passierte.
„ Wie bitte? Hast du gesagt deine Tochter? Wie kannst du ein Niggermädchen als deine Tochter bezeichnen?“
„ Weil sie es ist, egal wie sie aussieht.“ , sagte Dad mit stolzer, aber bebender Stimme. Trotzdem stand er breitbeinig da und schaute auf Roper hinab, um ihn einzuschüchtern.
Roper aber war außer sich vor Wut. „ Und du nennst dich Imperial Wizard. Du bist eine Schande! Eine Schande für uns alle!“ , schrie er und ich hörte ihn mit großen Schritten auf die Tür zustürmen.
„ Das wird Konsequenzen haben, Arthur. Wir werden uns bald wieder sehen.“ , sagte er noch und polterte die Treppe hinunter.
Endlich war er weg. Aber ich konnte mich immer noch nicht bewegen und der Schmerz ergriff die Überhand. Jetzt erst spürte ich wie mein dickflüssiges, warmes Blut die weiße Decke unter meinem Kopf tränkte. Aber es war vorbei.
Dad setzte sich neben mich um mich in seinen Armen zu halten. „ Es ist vorbei. Du bist jetzt sicher.“, flüsterte er so oft bis ich irgendwann endlich einschlief.


Was Roper mir angetan hat, war das Schlimmste, was mir bis zu dem Zeitpunkt in meinem jungen Leben widerfahren ist. Er hatte gesagt er würde wiederkommen, und er kam sehr bald wieder. Mein Fehler aber war es zu denken, es könnte nicht noch schlimmer werden.
Wenn ich jetzt auf alles zurückblicke, gibt alles, was passiert ist endlich einen Sinn. Es war wie ein Puzzle, dessen unverständlichen Einzelteile nur als Ganzes ein Bild ergaben. In den ganzen Situationen wusste ich nie, was wirklich vor sich ging und ich konnte es auch nicht verstehen Aber nun verstehe ich. Und ich weiß jetzt auch, dass früher oder später etwas passieren musste. Jedes Geheimnis kommt früher oder später ans Tageslicht.

3

Sie kamen bei Nacht. Ich war immer noch schwach und mein Kopf schmerzte, als unsere Tür aufgeschlagen wurde und einige Männer zu unseren Betten stürzten um uns nach draußen zu zerren. Es war stockdunkel, aber ich konnte trotzdem die weiße Robe erkennen, die Dad auch trug, nur ohne die violetten Streifen. Die Männer fielen so grob und schnell in unsere Träume ein wie ein Spätsommersturm und für mich entwerteten sie die Farbe, die sie trugen auf einen Schlag. Hier war
nichts hell und friedvoll. Sie waren wie die gefallenen Engel des Teufels selbst, die versuchten, uns jede Art von Lebensfreude aus dem Körper zu jagen.
Ich wusste ja was am Nachmittag passiert war, ich habe gehört was Roper zu Das gesagt hat. Es war logisch, dass es früher oder später Rache geben würde. Aber für Alice und Noah war es unerklärlich, weder Dad noch ich haben den beiden den wahren Hintergrund meiner Verletzungen erzählt. Nur Mutter wusste, was vorgefallen war, denn sie musste meine Wunde versorgen und sie anzulügen wäre kontraproduktiv gewesen. Und sie war unfassbar besorgt: Wegen mir und wie ich mich fühlte, wegen meiner Verletzung und zuletzt auch wegen den Konsequenzen dieses Vorfalls. Nun gut, Mutter war nun einmal so, immer wegen allem und jedem besorgt, vor allem wenn es um ihre Kinder ging. Ihre warmherzige und sorgende Natur war wirklich liebenswert, aber ab und zu waren meine Geschwister und ich genervt, so wie Kinder ab und zu genervt von ihren Eltern sind, weil wir uns so sicher waren dass nichts passieren würde. Aber dieses mal war es anders. Ich konnte es in ihren Augen sehen als sie versuchte, die Blutung zu stoppen. Es war nicht nur die tiefe Besorgnis, die sich in ihren gedankenverlorenen Augen widerspiegelte. Es war auch die Angst. Eine Angst, die sie schweigen ließ und jeden Muskel ihres Körpers anspannte als stünde sie unter Strom. Ich sah, wie sie diese Angst von innen genauso auffraß wie mich, als Roper mich entdeckt hatte.
Aber auch sie konnte der Angst nicht entkommen, sie konnte nicht ausbrechen. Nicht, wenn ich anwesend war.
Und deshalb fühlte ich mich noch schlechter. Wie konnte ich bloß so rücksichtslos sein? Wie konnte ich riskieren, dass ich meine ganze Familie in Gefahr brachte? Es was ein so schlimmes Gefühl Probleme für die Menschen zu verursachen, die man liebte, die Familie, die man liebte. Meine Eltern gaben mir nicht eine einzige Sekunde die Schuld, aber nicht einmal das nahm mir das Gefühl, schuldig zu sein. Und der Schmerz war viel schlimmer als hätte ich mir selbst die grausamsten Dinge angetan.
Jedenfalls war Mutter der Meinung Noah und Alice nichts von Roper zu erzählen. Sie wollte sie nur davor bewahren sich zu fürchten. Wir erzählten ihnen, ich sei auf ungeschickte Weise die Treppe
hinuntergestürzt, was eine ziemlich abgegriffene Notlüge war, aber sie glaubten es trotzdem. Deshalb waren sie so überrascht und verständnislos gegenüber dem nächtlichen Besuch. Ihre angsterfüllten und schockierten Gesichter, als sie an den Armen aus ihren Betten gerissen wurden ließ mich schon wieder schuldig fühlen. Es war schrecklich. Und bloß der Anfang dieser Nacht.
Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wie ich aus dem Haus gekommen bin. Sondern nur, wie kräftige Hände meine Arme umklammerten und mich in verschiedene Richtungen zerrten, sodass ich kaum selbst laufen musste. Meine Erinnerungen verschwammen zu einem nie endenden schrecklichen Traum. Aber es war mit Sicherheit so surreal, dass ich mich im Nachhinein immer noch wundere, dass Menschen zu so etwas im Stande waren.

Der Anblick der sich mir draußen bot war einfach nur so furchtbar, dass ich in diesem Moment nicht fassen konnte, wie furchtbar er wirklich war. Überall in unserem Garten waren Männer mit weißen Roben, die Männer und Frauen mit dunkler Haut zur Lebenseiche stießen. Diese Menschen sahen mir mit ihrer Haut und ihren Haaren ähnlicher als meine Familie und mir wurde klar, dass sich jeder von uns abgegrenzt fühlte. Schon allein wie respektlos sie durch die Gegend gescheucht wurden wie Rinder, die keinen eigenen Willen hatten. Diese Menschen trugen zerlumpte Klamotten, wahrscheinlich weil sie niemals in ihrem Leben die Möglichkeit bekommen hatten, sich besseres zu leisten. Einige von ihnen schrien vor Angst, einige waren wie versteinert. Aber entwürdigt waren sie alle.
Ein Mann in weißer Robe kam auf uns zu und mir wurde klar, dass wir in die selbe Richtung geführt werden würde. Je näher wir meiner schönen Lebenseiche kamen, desto stärker spürte ich die glühende Hitze, die von einem gewaltigen brennenden Kreuz ausging, das in der Nähe des Baums aufgestellt wurde. Das Feuer erleuchtete die Lebenseiche in einem gelben Licht und jedes Blatt bildete einen hellen Kontrast zu der uns umgebenden, tiefschwarzen Nacht. Es sah fast so aus als sei der Baum wütend und versuchte alle abschreckend davon abzuhalten, weiterzumachen.
Die Schreie wurden lauter und intensiver, alles verfloss zu einem erregten Rauschen menschlicher Stimmen. Vereinzelt hob sich ein „ Das ist die Macht von Ku Klux!“ und schmerzdurchzogene Schreie aus dem Rauschen ab.
Alles ging so schnell und hektisch vor sich, dass ich nicht einmal eine Sekunde Zeit hatte darüber nachzudenken warum das passierte was eben passierte und was uns allen noch blühen würde. Es war als seien meine Gedanken nicht schnell genug um das zu erfassen, was mein Körper wahrnehmen musste. Sobald ich dann an der Lebenseiche angekommen war, spürte ich den ersten Peitschenhieb auf meinem Rücken. Der lange Lederriemen traf mich so überraschend wie eine Fliege die Zunge eines Chamäleons traf um sie restlos zu vernichten. Und es fühlte sich so an, als ob jemand jede einzelne Zelle meines Rückens mit Dynamit sprengen würde.
Ein zweiter Peitschenhieb zwang mich auf die Knie.
Noch ein Peitschenhieb.
Ich sank auf den Boden.
Abertausende Tritte die mein Innerstes noch tiefer zu drücken schienen.
Mein Gesicht presste sich auf den kalten Boden unter mir. Die weiche Erde rieb sich in mein Haar und die frischen, kurzen Grashalme streichelten nahezu meine Haut und nahmen behutsam die Tränen auf, die vereinzelt von meinen Wangen abperlten. Mein Körper aber spürte die Hitze des brennenden Kreuzes hinter mir und es war so heiß, dass ich das Gefühl hatte meine offenen Wunden würden nun versengt werden. Der qualvolle Schmerz verweigerte es mir mich zu bewegen oder auch nur de aufgestauten Druck in die Welt hinaus zu schreien.
Plötzlich aber packte mich jemand an meinen Haaren und zog meinen Kopf gen Himmel. Es war ein weiterer Höllenschmerz, der über mich hereinbrach. Aber es war auch ein erlösender Stoß und ich konnte endlich schreien. Durch meine verquollenen Augen sah ich die Äste meiner Lebenseiche und den klaren Nachthimmel, was mich für einen Augenblick beruhigte. Doch dann kam eine weiße Haube mit zwei Löchern immer näher und näher und näher, bis sie direkt vor meiner Nase anhielt und verächtlich zischte: „ Das ist es, war wir mit Niggern wie dir machen. Das ist es, was sie wirklich verdienen! Du solltest jetzt aufmerksam zusehen.“
Ich konnte nicht das Gesicht hinter der Haube sehen. Mir war es aber, als hätte ich das kalte Blau von Ropers Augen durch die beiden Löcher blitzen sehen und als hätte der Hass seiner Stimme mich endgültig gebrochen. Er hatte mein Haar fest umklammert, also hatte ich keine andere Möglichkeit als aufmerksam zuzusehen.
Eines dieser weißen Gestalten band auf einer Leiter vier Seile mit einer Schlaufe an eine starken Ast. Sie sahen genau so aus wie das eine Seil, das Noah vor einigen Jahren entdeckt hatte. Ich schauderte.
Einen nach dem anderen, hängten sie jede einzelne schwarze Person. Ich habe davor noch nie gesehen, wie jemand gestorben ist. Aber obwohl es Fremde waren, brach mein Herz jedes Mal aufs Neue, als jemand seinen verzweifelten, letzten Atemzug nahm. Das war es also, was wir damals gefunden hatten: ein Tötungsapparat. Das mit Abstand grausamste war neben all diesen Schmerzen und qualvollen Erinnerungen die Apathie oder in manchen Fällen auch die Schadenfreude der Männer in den weißen Roben. Ihr gehässiges Lachen unterstrich die Lächerlichkeit ihrer Denkweise und noch viel mehr die Unmenschlichkeit ihrer selbst. Doch es schien ihnen nicht aufzufallen. Sie genossen den Tod.
Ich versuchte wieder hinauf zum Himmel zu schauen und sah das Glitzern der Sterne. Ein anderer Teil dieser unschuldigen Natur, die nichts weiter tun konnte als zuzuschauen, was die Menschheit tat. Das war so ein Moment in dem ich mir wünschte, dass jeder einzelne Stern als kosmischer Regen auf uns alle hinabfällt um uns aufzulösen. Und vielleicht auch zu erlösen.
Roper riss mich aus meinen Gedanken. „ Und das ist es, was wir weißen antun, die sie gut behandeln.“
Ich verstand, ließ panisch den Blick über meine Umgebung wandern und entdeckte meine Familie an dem schlimmsten Ort, wo sie sich hätten befinden können. Sie standen alle unter der Lebenseiche, bereit, gehängt zu werden. Mutter. Noah. Alice. Das. Noch nie in meinem Leben habe ich so markerschütternd geschrien, aber ich konnte nicht aufhören. Sie sahen auf mich hinab, komplett emotionslos aber dennoch mit Tränen in ihren Augen. Meinen Bruder und meine Schwester so zu sehen, war wahrhaftig nicht zu ertragen. Diese tiefe Liebe, die Geschwister miteinander verband war stärker als alles andere. Und wenn Hass diese Verbindung versuchte zu zerreißen fühlte es sich so an, als würden man mit seinen eigenen Händen sein Herz entzwei reißen.
Wie sich Mutter wohl fühlen musste, ihre Kinder so zu sehen? Ihr eigenes Fleisch und Blut kurz davor, vor ihrer Zeit zu sterben. Aber sie war bei ihnen. Sie war dort wo ich sein sollte. Ich würde tausend Tode sterben um sie zu retten. Um ihre Kinder zu retten. Und Dad? Er war immer so stark, so stolz. In all seinem Leid war er es auch in diesem Moment. Den Mut in seinen fordernden Augen werde ich nie vergessen. Ich wusste genau, dass er meine Dankbarkeit spürte, meinen Respekt und meine Liebe für alles, was er für mich getan hatte. Mein Leben führte ins Nichts. Meine Familie war mein Leben. Ohne sie war ich nichts, ich war leer. Die Folter die ich in diesem Moment erlitt war nicht in Worte zu fassen. Sie war kaum in Gedanken zu fassen.
„ Hazel! Hazel hör mir zu. Es ist nicht deine schuld, es ist ihre!“
Das war das Letzte, was ich von Das hörte. Das Letzte Mal, dass ich meine Familie Lebend sah. Ich hörte den Enthusiasmus um mich herum. Ich wollte sterben.
Ich hörte immer noch nicht auf zu schreien und deshalb traten sie mich so lange, bis ich ohnmächtig wurde.

Ich schaue immer noch auf meine Familie, die mit ihren weißen Nachthemden über mir hängt. Ehrlich gesagt glaube ich immer noch nicht, dass sie tot sind. Nein, sie schlafen nur. Sie sehen so aus wie immer, das Gesicht meiner Schwester ist immer noch bildschön, das Haar meines Bruders ist immer noch so blond wie sonst auch. Und meine Eltern, Seite an Seite, sahen aus wie das schönste Liebespaar, das es jemals gegeben hatte. Es war so friedlich.
Ich bin davon überzeugt, dass mein eigener Frieden vollkommen sein würde, wenn ich für immer hier liegen bleibe. Es gibt keinen anderen Weg. Ich will nicht in einer Welt leben, wo solche Dinge jeden Tag passieren. In einer Welt, in der Menschen nicht gleich viel wert sind. Es macht einfach keinen Sinn.
Die Blätter rascheln im Wind. Mein liebster, liebster Baum. Es ist so unfair, oder nicht? Sie haben dich für so grausame Dinge benutzt. So grausam…
Ich muss lächeln. Es ist doch ironisch wie viele Tode es unter dieser Lebenseiche gab. Leben. Es schwindet. So wie meins.
Ich höre Schritte. Wer ist das? Wer stört mich hier?
Ein kleiner Junge taucht in meinem Blickfeld aus. Seine Haut war genauso dunkel wie meine. Was für ein schönes Kind. Er kniet sich hin und kommt meinem Gesicht sehr nah. Nein, lass mich in Ruhe mir geht es gut hier.
Für eine Sekunde ist er absolut ruhig und hält den Atem an. Aber jetzt lächelt er. Seine Zähne sind so weiß, unglaublich. Der kleine Junge setzt sich wieder auf. Was plant er bloß?
„ Schnell, komm her!“, ruft er, „ Sie lebt!“

 

Ich würde gerne eine konstruktive Kritik für meine erste Kurzgeschichte erhalten. Ich bin gespannt wie Leser auf die Geschichte an sich und meine Schreibweise reagieren
heißt es in Deinem Profil,

liebe/r milaaa,

und das wird jeder verstehen, sind doch auch wir alten Hasen immer noch gespannt, wie unsere Geschichten ankommen oder gar einschlagen, um wie vieles mehr bei unserem Einstand!

Hallo und herzlich willkommen hierorts,

da mutestu nicht nur dem Leser bei 16 Seiten Manuskript deiner Ku-Klux-Klan-Geschichte ziemlich viel zu, sondern überhebst Dich gleichsam an der Historik, spätestens mit dem zwoten Satz

Die zwei Löcher, die in seine Kapuze geschnitten wurden, waren viel zu klein um auch nur ansatzweise eine gute Sicht zu haben.
sind doch die Klan-Kostüme keine Bettlaken, die zu Halloween oder einem beliebigen anderen Karneval zu Gespensterkostümen zurechtgeschnitten werden.

Nein, diese Kostüme werden wie jedes andere Textil, das man im Handel erwerben kann, professionell hergestellt und auch im Online-Versand gehandelt. Im Übergang der Weimarer Republik zum Dritten Reich wurde die deutsche Sektion dieser „Ritter“ (“Knights of the Ku Klux Klan“ nennen sie sich) aufgelöst, die Kostümierung durch schicke Uniformen ersetzt.

Das nächste, was auffällt – wir sind immer noch in der Einleitung – ist die handwerkliche Schwäche etwa in einer Substantivierung

Genauso machte der Stoff das Tragen der ganzen Robe unangenehm
die eigentlich entbehrlich ist, wird das „Tragen“ doch mit dem Folgesatz näher beschrieben,
So hart und rau[,] wie er war, kratzte er an jeder möglichen und unmöglichen Stelle und man hatte das Gefühl[,] in einem mit Läusen besetzten Mehlsack gefangen zu sein.
der freilich die nächste handwerkliche Schwäche aufzeigt – die Zeichensetzung (warum sind dort Kommas zu setzen? 1. leitet die vergleichende Konjunktion „wie“ einen vollständigen Satz ein [wobei unerheblich ist,ob es ein Haupt- oder Nebensatz ist] und 2. ist die Infinitivgruppe von einem Substantiv [dem Mehlsack, die Läuse sind das Attribut des Mehlsacks] abhängig.

Dem dann folgenden Satz widerfährt auch durch das lausige „um“ zur Infinitivgruppe das Komma, der sich noch ein Relativsatz anschließt

Also legte Montgomery seine Konzentration auf sein Gehör[,] um zu erahnen[,] was sich vor ihm abspielte.

Sehn wir mal von ab, dass „das Schnaufen“ wieder eine unnötige Sunstantivierung ist, kenn ich Schimmel gemeinhin als weiße Pferde, gelegentlich mit bestimmten Flecken in diversen Färbungen wie etwa beim Apfelschimmel, aber hier schlägt nicht so sehr eine Felle-, sondern die Fälle-Falle zu
Das schwere Schnaufen seines majestätischen, dunkelbraun[en] Schimmels wurde von den unterschiedlichsten Geräuschen übertönt:
aber die Farbbezeichnung („dunkelbraun“ schwarz?, dann besser „Rappe“) als Attribut, wäre der gleiche Fall wie dem gleichrangigen ertsgenannten Attribut „majestätisch“ zuzusprechen.

Fehler, die durch Beschränkung der Adjektive aufs notwendige Maß gar nicht erst aufgekommen wären, denn nun betreibstu Beschreibungsliteratur, die so entbehrlich ist wie das Klanggemisch nebst Mond und Erdkugel zu dieser Geschichte mit dem Höhepunkt im nackten Kitsch

Während er aber mit der Natur im Einklang zu sein schien, kämpfte der Mondschein gegen die tosenden Flammen an, die aus den Hütten brachen wie die gierigen langen Finger des Todes selbst. Aber sie ließen sich nicht löschen.

Da wäre besser die Feuerwehr/firebrigade statt des Mondes am Werk.

Und wieder taucht eine vergleichende Konjunktion im Duo auf, das nach Kommas ruft

Wellen aus Qualm und Hitze trafen Montgomery so regelmäßig[,] als würden sie einem für Menschen unhörbaren Takt folgen. Sie brachen an seinem Körper[,] als wären sie tatsächlich die machtvollen Wellen des Meeres[,] und der helle Stoff seiner Robe sog sie auf wie ein Schwamm.

Ich vermute, dass Du sehr jung bist und im Eifer eine besonders außergewöhnliche Geschichte schreiben wolltest. Deine Vorbilder kenn ich nicht, aber die Adjektiv-Lastigkeit solltestu in den Griff kriegen. Was manchem Roman gut tut, schadet der Kurzgeschichte (und auch der Novelle), bläht sich auf und ohne Erdkugel gäbe es sicherlich weder den Mond noch den Klan noch irgendeine außergewöhnliche Begebenheit, über die man spräche/schriebe.

Also streich zusammen, was eigentlich selbstverständlich ist, aber auch, was sich selbst erklärt (wie vorhin der kratzende Stoff). Vor allem aber schau Dir die ersten hundert Seiten des Rechtschreibdudens an, der die Rechtschreibung, wie sie aktuell gilt, zusammenfasst und erläutert. Mit einiger Ausdauer hastu die in fünf Tagen drin. Bei den amtlichen Richtlinien zur Rechtschreibreform merkt man hingegen, dass Kultusbürokratien das Sagen hatten - Du siehst, ich kann auch "Substantivierung", aber etwas zu sagen, ist was anderes, als etwas zu Sagen zu haben - und wie jedes Gesetz/fast jede Verordnung keineswegs widerspruchsfrei ist (besonders in den aufgeführten Beispielen), ist es auch die Rechtschreibreform. Gelegentlich zeigt auch die Dudenredaktion nackten Opportunismus, wenn sie unterschiedliche Schreibungen zulässt. Was auseinandergeschrieben wird, sollte auch etwas anderes bedeuten als das, was auseinander geschrieben wird. Immerhin wird i. d. R. eine Schreibweise „empfohlen“.

Also, nicht den Kopf hängen lassen. Sieh‘s als Fingerübung an und kürz, was der Text hergibt! Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Was hätte der auch von einem gebrochenen Genick?

Nix!

Tschüss

Friedel,
der sicher ist, dass es was wird ...

 

Hallo Reinhard,

ich habe Django tatsächlich gesehen und die Themen gleichen sich etwas, aber den Satz habe ich wirklich nicht in Verbindung gebracht.

Vielleicht habe ich mich auch unterbewusst leiten lassen, danke dass es dir aufgefallen ist!

Mfg,

milaaa:)

 

Hi milaaa

Eins vorneweg: ich mag deine Geschichte. Vor allem, weil sie zutiefst menschlich ist und versucht tief hineinzukriechen in den Schmerz, den Hazel empfindet und all das, was sie ansehen und erleben muss.

Dennoch gibt es aus meiner Sicht einiges zu verbessern. Zunächst einmal die Länge der Geschichte. Wenn du den Text um die Hälfte kürzen würdest, die ganze Vorgeschichte, wie Hazel zu dem Ku-Klux-Clan Vater kam, vor allem, wie sie aufwuchs, bis zum Kern zerschmelzen würdest, wäre sie konzentrierter und intensiver. Du nimmst da viel an Spannung raus, gleitest in einen Roman-Modus, als folgten noch hundert weitere Seiten und man müsste sich erst mal wohlfühlen in dieser Welt, bevor das Schreckliche passiert. Dazu kommt ein Logik-Problem. Zu welcher Zeit spielt die Geschichte? 19.Jahrhundert, früher? Wenn es da noch Sklaven gab, muss es das 18.Jahrhundert sein und damals lebten viele Schwarze auf den Farmen der weißen Landbesitzer. Wie kann es also sein, dass Hazel nicht einmal wie, was ein Farbiger ist? (Auch Coca-Cola, seit wann gab es das?). Auch das Ende ist in meinen Augen unlogisch. Warum überlebt Hazel und die Familie wird aufgeknüpft? Und was ist mit dem Vater? Den verlierst du aus dem Blick.

Einige Fehler sind drin, Kommas, Großschreibung, du solltest unbedingt noch mal drüber lesen, ein paar suche ich dir raus. Sprachlich ist der Text oft zu schwülstig, das müsstest du entschlacken, paar Adjektive weniger, nur dann, wenn sie etwas zeigen, auf das du nicht verzichten kannst.

Textstellen:

seines majestätischen, dunkelbraun Schimmels
wie sieht denn so ein majestätischer Schimmel aus? und: dunkelbraunen

Der gräuliche Qualm schnitt Montgomery wie ein Strick das schwerelose Nichts ab, das jedes Wesen zum Leben brauchte.
kapiere ich nicht, den Satz

Aber es war mehr als nur Todesangst, die er aus ihrem Blick lesen konnte. Es war viel mehr als das. Ein unendliches Leiden, die qualvolle Sorge um die Zukunft ihres Kindes und das Entsetzten darüber, wie Menschen in der Lage sein konnten so etwas zu tun.
das ist sehr dick aufgetragen, braucht es das wirklich?

entführte sie in die fantastischsten Welten, die schöner waren als alles, was in der Realität jemals hergestellt werden konnte.
warum beschreibst du das als Superlativ, ohne es zu beschreiben?

Schon seit ich denken kann war es für mich strengstens verboten, mein Zimmer zu verlassen als ein Fremder im Haus war oder nach draußen zu gehen wenn ein Fremder auch nur ansatzweise in der Nähe sein könnte.
wenn ein Fremder im Haus war (und das würde auch reichen, was folgt, braucht es nicht.

Kerzen in die geheimnisvollsten Traumwelten, riss uns mit in die wildesten Abenteuer und stellte uns die verzaubertsten Wesen vor.
du liebst diese Superlative :Pfeif:

und es würde wahrscheinlich Jahre dauern bis man die länglich ovalen, immergrünen Blätter gezählt hatte.
schönes Bild :thumbsup:

der breiter war als Das groß.
??

merkte ich, dass ich am ganzen Körper. Der Druck der Angst entlud sich nun in intervallartigem Zucken und ich konnte mich nicht dazu zwingen mich zu beruhigen.
da fehlt was, oder?

Voller Entsetzten hörte ich auf zu atmen. Ich war eines dieses Nigger? Wie konnte das sein? Ich habe noch nie etwas Böses gemacht, nie jemandem geschadet. Ich war kein Monster!
na ja

Roper hat mir beigebracht dass wir unterwürfig waren, ein niedriger gestelltes Wesen. Trotzdem fing er an mit seinen warmen, groben Händen meine Hüften zu umschlingen.
nur weil dich einer vergewaltigen will, wirst du nicht gleich unterwürfig, oder?

Es war wirklich warm im Zimmer aber für mich war es eisig kalt. Es war kälter als die Eiswürfel in der Coca-Cola, die wir manchmal im Sommer bekamen. Und die Eiswürfel waren das kälteste was ich kannte.
Cola, echt?

und ich genervt, so wie Kinder ab und zu genervt von ihren Eltern sind,
genervt passt nicht zu dem historischen Duktus

Das war das Letzte, was ich von Das hörte. Das Letzte Mal, dass ich meine Familie Lebend sah. Ich hörte den Enthusiasmus um mich herum. Ich wollte sterben.
letzte; und Enthusiasmus passt nicht

Ich hoffe, du kannst was mit anfangen
viele Grüße
Isegrims

 

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