- Beitritt
- 02.02.2004
- Beiträge
- 3.690
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 26
Ausgebrannt
"... und da hat der Chef gesagt, das hätte nicht passieren dürfen, ich sei nicht belastbar. Die ganze Baustelle stand still ..."
Wie er da sitzt, auf meiner roten Couch. Wippende Bewegung, fast wie beim Down-Syndrom.
"Immer diese Überstunden, meine Kinder sehe ich nur noch auf dem Foto im Spind ..."
Ein Haufen Elend, krummer Rücken, reibt seine grossen Hände - nein Pranken - rissig mit dunklen Rändern, gewaschen, aber alter Dreck noch sichtbar, sitzt tief. Hände sprechen Bände. Schlaff herunterhängend, zittern leicht, schmutziges Laub. Herbst. Ausgebrannt. Wie lange sie das wohl noch mitmacht, die Couch, seine Frau, wie lange ich? Ist sie schön? Ob er ein Bild dabei hat? Nächste Sitzung muss sie mit. Machen wir eine hübsche Paartherapie daraus.
"Das sind doch kräftige Hände, aber in letzter Zeit, der Stress, die Kollegen, ..."
Beine übereinander, Brille mit der Hand pendeln lassen. Einstudiert, aber effektvoll. Zuhören, Decke muss gestrichen werden. Winterweiss, nein heller, weisser, mit Persil gewaschen. Selber machen? Pinsel tropfen, Teppich muss eh ein neuer rein, wie heissen ... Roller. Farbroller. Kritzeleien auf dem Papier, endloses Geschwätz mit wiederkehrenden Phrasen, Sitzung für Sitzung. Zum Glück ist die Stunde fast voll. Ein Glas Wasser? Könnte auch Whisky, hab noch was unterm Tisch, sauf dich tot. Besser für dich, für deine wartende Alte, mich.
Das Glas vom Vorgänger, kaum angerührt, kriegt es halt der hier. Womit sollte er sich anstecken, müsste schon dumm laufen. Vogelgrippe? Haha! Stubenarrest für Hühner, zwanghafte Verordnungen. Jaha, Zwangshaft für Freilandviecher, Schweiz wird sonst zur EU-Insel, eh schon so. Belastende Argumente, belastend wie mein Klient. Ach so, hier, das Glas. Oh Mann, nicht so hastig. Klasse danke, das gibt Flecken, schnell ein Kleenex.
"Und da habe ich den ganzen Krempel hin, und Sie haben geschrien, soll abhauen, ich, der immer pünklich, der immer, - immer -, ach ..."
Nicht doch, hatten wir bereits letzte Woche. Manche lernen es nie, und das für zweihundert die Stunde. Och, wie er heult, eins fünfundachtzig bei Hundert Kilo und flennt wie ein Säugling. Glitzernde Tränen, feistes Gesicht. Noch mehr Flecken. Flecken überall. Im Gesicht, auf dem Sofa, an der Decke? Also doch Winterweiss.
Klar, nur zu, Selbstbedienung, Hauptsache nicht noch mehr aufs Sofa. Habe ja auch den ganzen Schrank voll davon. Ich bin der Kleenexmeister, kommt zu Roland, da gibt’s massenweise Kleenex. Muss morgen zu Aldi, am besten die Familienpackungen drei für zwei. Ist noch Brot da? Klopapier, das war's, und Rasierklingen, aber die mit der dreifachen, sonst blutet's wie Sau.
Schluss jetzt, mein Auftritt. Ja, jetzt kommt der psychologische Tsunami mein Freund. Da wird dir ganz anders, genau so ist es und da besteht kein Zweifel. Achtzehn lange Jahre, Examen mit Bravour, Hingabe, keine Ablenkungen. Und du, Kaminsky? Junge Mädchen, hinter dem Friedhof, Tauben erschiessen im Park, Handlanger, schnelle Arbeit, schnelles Kind, keine Zukunft. Da holt dich niemand raus. Ne.
Seite achtundzwanzig, Kapitel acht bis dreizehn, runterbeten, wiederholen, Fragen? Gut.
Ich lächle, hier das Rezept, immer schön vor dem Essen und jetzt Abmarsch, nächste Woche, gleiche Uhrzeit, Kopf hoch Kaminsky.
Endlich Ruhe, einsam, aber ruhig. Der Schreibblock ist voll, keine Aussagen, nur Strichmännchen, Wasserlinien, ganze Seen voller Tränen. Stummer Zeuge einer weiteren leblosen Sitzung. Was ist aus dem Feuer für die Sache geworden, der Begeisterung für den Menschen und dessen Psyche?
Ich sehe meine Hände, kein Zittern, nichts bewegt sich, es ist auch nichts da, was sie bewegen könnten. Oh, es juckt, die Nase, Kleenex, die Decke ...
Nasse Handflächen kommen nicht gut, Mist, die Schachtel ist leer, Hosenbund tut es auch, gibt es noch Klienten heute? Die letzten Kleenex, der letzte Kunde. Rasch den Planer, kurze Notizen zu Kaminsky. Laptop zu und Beine hoch. Jetzt einen Schluck, nur einen kleinen, wir wollen es ja nicht schon wieder übertreiben, Roland.
Die Flasche ist fast leer, setz ich hinter Klopapier und Klingen. Ahh, brennt und wärmt. Kalte Wärme, flüchtig und einsam. Winterweiss.
Die Holztäfelung müsste auch weg, zu schwer, kriegt man ja Depressionen. Ha, der war gut.
- Örps -
Hoppla, kam von ganz unten. Das stinkt vielleicht, Kaminsky, der war für dich. Ich sollte gleich noch die Rechnung, ach, ich trinke erst mal aus.
Oha, kommt vom Treppenhaus. Kaminsky?
Was zum Teufel ... nein, zu klein für Kaminsky. Aber wer ...
"Hallo Doktor. Wie geht es Ihnen?"
Diese Stimme, so bekannt und doch weit weg. Kreuzer? Kramer?
"Ich kam gerade hier vorbei, da dachte ich, schau mal rein."
Freundliche Töne. Doch irgendwie falsch. Drohend? Warnend?
Langsam die Beine sortieren, aufstehen und jetzt nur nicht wanken, Roland.
"Sie haben mir ja so geholfen."
Ehrlich? Der Name, wie war der Name, verdammt.
"Oh, Sie wissen doch noch, wer ich bin, oder?"
Dieses oder, so gedehnt, zynisch und doch, könnte es aufrichtig sein?
Nebel im Moor, Winter. Eiseskälte. Frost.
"Jetzt enttäuschen Sie mich aber. Wissen Sie noch? Loslassen, auch wenn's weh tut?"
Reichenberg, Erich. Beziehungsprobleme, drohende Scheidung, genau so durch den Wind wie Kaminsky. Ausgebrannt, aber zahlungskräftig. Und seine Frau, Gabi, herrliche Schenkel, warm und weich. Scheisse meine Hose spannt, doch nicht jetzt ... absurd.
"Hat eigentlich prima geklappt, und jetzt will ich Ihnen danken."
Will er nicht, zu schrill die Stimme, zu wirr der Blick. Rache, das will er, versperrt mir den Weg, mit ... ist das eine Pistole? Oh Gott, er will mich erschiessen, nein, Moment, denk nach verdammt, die Flasche? Nicht wirksam. Warum nur? Ducken? Keine Chance, eingesperrt, hinter dem eigenen Schreibtisch.
"Ich danke Ihnen, dass Sie mir alles genommen haben."
Was redet der? Warum hebt er die Waffe höher, oh mein Gott, er beisst hinein, nicht! Es muss doch einen Ausweg, da kann man doch noch mal
- REDEN -
oh, scheisse, wie das spritzt. Die Wand, der Boden. Blut, überall. Warum bloss? Was läuft hier falsch? Hat Gabi geredet? Quatsch. Hat Erich was gewusst? Unmöglich. Wie sage ich das Gabi ... halt, da bin ich meine Lizenz los. Nee, Erich, den Gefallen tu ich dir nicht. Wer bist du denn, hä? Glaubst wohl, ich mache mit bei deinem Spielchen? Das bleibt schön unser kleines Geheimnis.
Was mache ich mit ihm ... vergraben, im Hof? Verbrennen, womit? Besser entsorgen.
Der Teppich! Klar, einrollen und ab in den Container. Mann, geht das schwer, ah, mein Rücken, wie Glassplitter. Blut auf dem Boden, an meinen Händen. Verdammt. Sie sagen, Aids nimmt wieder zu. Tsunami? Leid. Tod. Angst. Spenden. Habe ich irgendwo Handschuhe? Wohl auch gespendet. Eh zu spät, raus mit ihm und zwar schnell. Über die Treppe? Das schafft mein Rücken nicht. Das Fenster, hoffentlich sieht das keiner. Und los, ahh, Nägel im Kreuz. Jetzt aber raus, mehr rechts, mehr Kraft, reicht nicht, wie das zieht, warum eigentlich bei mir und nicht von einer Brücke? Na bitte, voll auf den Kompost. Rollt sich auf, roter Glanz im Mondschein, halb voll hinter Wolken.
Schnell nach unten, wenn jetzt wer kommt, Krause? Heute ist Mittwoch, Skat im Bären. Die Küppers? Erzählt gleich alles rum, der sollte man, nur nicht springen jetzt, leise öffnen, Türe quietscht, Klasse, wirklich klasse, dann halt schneller raus. Kalte Luft fällt über mich, nasse Haut spannt, nur im Hemd, nicht sehr schlau, soll ich die Jacke? Ach, dauert ja nicht lange, darf nicht lange!
Runter hier vom Haufen, Moder, Fäulnis, Orangenduft, Zimtsterne, Abflussrohr, Weihnachten, mir wird schlecht. Der Kompost lädt ein, kurzer Kampf, die Übelkeit siegt. Es dampft, der Fusel brennt, Spaghetti Carbonara vom Italiener, mit Gabi, noch mal Carbonara, nur noch Galle. Kurz durchatmen, geht schon, wird gleich besser.
Arm rein, einrollen, dir werd ich helfen. Aufrichten, anpacken, knirschende Knochen, Rücken gefühllos, ich? Frag mal Gabi, ich und gefühllos, besorg's ihr, schreit und tanzt vor Gefühl, hoppla, spannt schon wieder,... los, hoch jetzt mit dem Teppich.
Ein Glück, morgen kommt die Müllabfuhr. Guter Zeitpunkt, Erich, wirklich guter Zeitpunkt.
Auf den Rand schieben, warum sind Container so hoch? Denkt wieder niemand an die kleinen Leute? Tief durchatmen, zum letzten Mal, und eins und zwei und drrrrei. Deckel zu, geschafft.
Ein Stich, Blitzgewitter vor den Augen, dumpfer Schmerz im Kreuz. Meine Beine sind weg, wie Gummi, erst mal sitzen bleiben. Muss was verrenkt sein, tut verdammt weh. Keine Lichter, alles ruhig. Nicht flennen, Roland, reiss dich zusammen, das geht vorbei, du musst das doch wissen.
Morgen kaufe ich Farbe und dann wird alles gestrichen. Winterweiss.