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Das Spiel der Meister

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08.07.2012
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Das Spiel der Meister

Johanna Hedlund schlug den Mantelkragen hoch und starrte in die Dunkelheit. Der Mann, der sich dort drüben im Schatten eines Hauseingangs verbarg, war nicht der erste Agent, den der Geheimdienst auf sie angesetzt hatte. Gerüchte behaupteten, dass der Dienst jetzt eine kompromisslose Politik der Beseitigung aller Personen verfolgte, die irgendwie zum Widerstand gehörten. Die Zeiten des Beobachtens und Auskundschaftens waren offenbar vorbei. Man begnügte sich nicht mehr damit, die Kuriere zu überwachen oder hier und dort eine einzelne Zelle hochzunehmen. Die Regierung hatte einen Vernichtungskurs eingeschlagen, und der Dienst tat alles, um diese Strategie ins Werk zu setzen.
Während Johanna weiter die Straße hinunter ging, umklammerte sie den Griff der Pistole in ihrer Manteltasche. Sie spürte das Pochen ihres Herzschlags in den Schläfen, und schluckte, denn es war, als schnürte ihr etwas die Kehle zusammen. Noch zehn Schritte, und der Agent würde aus dem finsteren Winkel treten, seine Waffe heben und ihrem Leben ein Ende setzen. Oder er schoss direkt aus seinem Versteck heraus. Das machte kaum einen Unterschied. Doch jetzt umzukehren hieß nur, diesem Kretin einen sauberen Genickschuss zu ermöglichen. Denn das würde er ohne Zweifel tun. Sie abknallen, wie man Hunderte von politischen Gefangenen in den Zuchthäusern und Lagern liquidierte. Von hinten, aus nächster Nähe, mit einer Kugel in den ersten Halswirbel. War es da nicht besser, dem Unvermeidlichen entgegenzutreten?
Vor dem Hauseingang blieb Johanna stehen. Obwohl sie den Agenten nicht sehen konnte, wusste sie, dass er dort lauerte. Wahrscheinlich richtete er in diesem Augenblick seine Automatik auf sie und genoss den Moment vor dem Schuss.
Johanna stand still da, und bestimmt hörte nur sie das Klicken, als sie den Sicherungshebel ihrer Pistole nach unten drückte. Doch anstatt die Waffe aus der Tasche zu ziehen, sagte sie mit belegter Stimme: »Komm raus. Ich will dein Gesicht sehen.«
Es vergingen ein paar Sekunden, in denen Johanna dachte, sie hätte sich getäuscht, glaubte, sie hätte sich das alles nur eingebildet, weil eben Angst und Paranoia seit einigen Jahren untrennbar zu ihrem Leben gehörten und man wegen der Krankheit, die alle nur die Degeneration nannten, kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Dann sah sie das Glänzen der Laufmündung, und kurz darauf hatte sich die ganze Waffe aus der Dunkelheit in das trübe Licht der Straßenlaterne geschoben.
Johanna schaute auf die Mündung. Von dem Mann, der sie töten würde, war nicht mehr zu sehen, als eine Hand in einem schwarzen Lederhandschuh.
»So wie wir dich gekriegt haben, werden wir euch alle kriegen«, sagte eine Stimme irgendwo hinter der Automatik. »Wir radieren euch aus, einen nach dem -«
Ein Knall peitschte durch die Straße und hallte von den Häuserwänden wider. Die Pistole des Agenten verschwand mit einem Ruck in der Finsternis. Auf der Straße hinter Johanna stieß jemand einen Pfiff aus, und es war, als hätte irgendetwas in ihr das Kommando übernommen, als sie sich umdrehte und losrannte.


»Sie gehen jetzt auf Frontalkurs«, sagte Klara Sundland. Ihre Fingerspitzen trommelten auf ein abgegriffenes Buch mit fleckigem Einband, das vor ihr auf dem Tisch lag. Johanna kannte Sundland von mehreren Treffen her, hatte sie jedoch niemals bei irgendeiner Aktion erlebt. Der Führungsstab achtete darauf, die wichtigen Leute im Hintergrund zu halten. Sundland gehörte zu den Offizieren des Widerstands, und die verheizte man nicht im alltäglichen Guerillakrieg. Trotzdem: Mit ihrer stahlgefassten Brille, dem streng zurückgekämmten Haar und der Pistole, die sie in einem Gürtelholster trug, gab sie die kampferprobte Partisanenbraut.
»Und was bedeutet das für uns?«, fragte Johanna.
Sundland schaute sie nachdenklich an. »Es bedeutet, dass uns die Zeit davonläuft«, sagte sie schließlich.
Johanna strich eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr und fragte sich, ob sie aufgeflogen waren. Dieser Agent hatte ihr hier in der Nähe des Treffpunktes aufgelauert. Das hieß, sie wussten von dem Meeting, oder nicht? Ihr Blick schweifte durch das Zimmer der kleinen konspirativen Wohnung. Der Mann, der ihr das Leben gerettet hatte, stand am Fenster und beobachtete die Straße. Sein blasses Gesicht wirkte wie eine Maske - leblos, kalt, verhärtet. Johanna kannte diesen Ausdruck verbissener Entschlossenheit, die Tag für Tag sinnloser erschien, weil inzwischen kaum noch jemand so richtig verstand, wofür sie alle eigentlich kämpften.
»Bitte, was?«
»Ich sagte, uns läuft die Zeit davon.«
»Hm«, gab Johanna zurück. Seitdem die Degeneration um sich griff, spielte es im Grunde keine Rolle mehr, ob man sich die Kugel eines Agenten fing oder in völliger Verblödung endete. Offenbar konnte nichts den Niedergang aufhalten. So oder so, sie waren Soldaten in einem aussichtslosen Krieg.
»Mach dir wegen des Agenten keine Gedanken, Johanna. Der Dienst hat seit ein paar Tagen überall in der Stadt Männer postiert. Sie schüchtern nachts alle Leute ein, die ihnen über den Weg laufen.«
»Er wusste, dass ich zum Widerstand gehöre.«
»Ach was. Der wollte bloß auf den Busch klopfen.« Sundland wies mit einer Bewegung des Kopfes zu dem Mann, der am Fenster Wache stand. »Gut, dass ich dir Gregor entgegengeschickt habe.«
»Ihr hättet mich warnen müssen.«
»Ich habe es selbst erst vor ein paar Stunden erfahren. Die Regierung führt einen grundlegenden Strategiewechsel durch. Das betrifft alle möglichen Bereiche. Beim Stab geht's gerade chaotisch zu.«
Johanna nickte, obwohl sie nicht begriff, wovon Sundland redete. Der Führungsstab war für die einfachen Kämpfer eher ein Mythos als ein reguläres Kommando. Kaum jemand hatte eine Vorstellung davon, wie der Stab arbeitete oder auf welchem Wege seine Entscheidungen zustande kamen.
»Wie geht es deinem sexy Regierungsfreund, Johanna?«
»Hm?«
»Dir ist doch klar, dass wir diese Beziehung nur dulden, solange sich Adrian für uns als nützlich erweist?«
»Keine Ahnung.«
»Was soll das heißen?«
Johanna hob das Kinn und sah Sundland mit einem harten Blick ins Gesicht.
»Ich weiß nicht, was er macht. Er meldet sich nicht.«
»Hat er eine andere?«
Johanna zuckte die Schultern.
»Sehr bedauerlich«, sagte Sundland.
Die Dielen unter Gregors Füßen knarrten, als seine Hand zur Hüfte ging. Er starrte mit schmalen Augen auf irgendeinen Punkt draußen in der Dunkelheit.
»Wir haben einen Auftrag für dich, Johanna.« Sundland betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Einen wichtigen Auftrag.«
Von unten her war ein Wagen zu hören, der langsam am Haus vorbei fuhr, und Johanna bemerkte, wie alle im Raum den Atem anhielten. Sie warteten einen Moment lang schweigend. Schließlich war es wieder still auf der Straße.
»Es geht um die Degeneration«, fuhr Sundland fort. Sie setzte ihre Brille ab und rieb sich die Stirn. »Mittlerweile ist beinahe der gesamte Widerstand davon betroffen. Wir wissen immer noch nicht, wie sie die Bevölkerung damit infizieren oder wie sie sich selbst davor schützen. Aber wenn es so weitergeht, wird der Widerstand in zwei Jahren nur noch ein Haufen stammelnder Idioten sein.«
Johanna nickte. Sie kannte die Symptome nur zu gut. Vergesslichkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Verwirrungszustände, Angst. Es war, als führte man Krieg gegen den Verfall des eigenen Verstandes. Inzwischen nutzten sie alle Listen und Merkzettel, um ihr Leben zu organisieren, doch weil sich das bei Kommandoeinsätzen von selbst verbot, endeten Gefangenenrettungen oder Sabotageaktionen nicht selten in einem Fiasko. Die Kämpfer versäumten, ihre Waffen durchzuladen, Zünder auf die richtige Zeit einzustellen oder handelten einfach zu langsam. Mit dieser Truppe ging es abwärts, das war klar.
»Es gibt ein Mittel gegen die Degeneration«, sagte Sundland, setzte ihre Brille wieder auf und betrachtete Johanna, während ein feines Lächeln ihre Lippen umspielte.
Johanna nickte, doch dann hielt sie inne und sagte: »Was?«
»Ja, es klingt verrückt, aber wir haben Leute, Spezialisten, die eine Menge davon verstehen. Und die meinen, dass es ein Mittel gibt.«
Johanna wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Es klang tatsächlich zu phantastisch.
»Die Sache hat nur einen Haken«, sagte Sundland. »Bei dem Mittel handelt es sich nicht um Medizin, die man einfach schlucken oder spritzen könnte.«
»Sondern?«
»Es ist eine Art Training. Ein Brettspiel, um genau zu sein.«
»Ein Spiel«, sagte Johanna.
Sundland hob die Hände. »Ich weiß, wie sich das anhört.«
»Für so einen Schwachsinn habe ich keine Zeit, Klara.«
»Setz dich hin und hör zu.«
Sundland holte ein Päckchen Look aus ihrer Jacke und schob es über den Tisch. »Bedien dich.«
Johanna nahm sich eine Zigarette. Ein Feuerzeug segelte durch die Luft, und Johanna fing es.
»Gute Reflexe«, bemerkte Sundland. Sie schien einen Augenblick lang den Faden verloren zu haben, blinzelte und sagte dann: »Es soll das komplexeste Spiel der Welt sein. Sehr alt, sehr vielschichtig, überaus schwierig, wenn man es meistern will.«
Johanna rauchte und genoss die Wirkung des Nikotins.
»Offenbar werden beim Spielen Neuronen aktiviert, die in der Lage sind, die Degeneration zu hemmen.«
Johanna zuckte mit den Schultern und sah Sundland an.
»Leider weiß kaum jemand, wie man es spielt. Die Regierung hat alle bekannten Meister des Spiels inhaftieren lassen, und es gibt so gut wie keine Bücher oder Dokumentationen darüber.«
Sundland erhob sich, machte ein paar Schritte durch den Raum und nestelte an ihrer Brille. Johanna schnippte die Asche von ihrer Zigarette.
»Es gibt da allerdings einen Meister, den sie nicht erwischt haben, und dieser Mann lebt in unserer Stadt. Das ist unsere Chance.«
»Okay«, sagte Johanna. »Mal ganz davon abgesehen, dass ich die Geschichte für Blödsinn halte, bin ich bestimmt nicht die Richtige für diesen ... Auftrag. Soll ich das Spiel bei diesem Meister lernen? Ja? Ist das etwa der Plan? Da kann ich nur lachen, Klara.«
»Wieso?«
»Wieso? Weil ich sicher nicht zu den klügsten Köpfen im Widerstand gehöre.«
»Aber zu den hübschesten.«
»Hm?«
Sundland trat wieder an den Tisch.
»Wir haben bereits drei Leute auf den Mann angesetzt, um ihn zu bewegen, uns das Spiel zu lehren. Aber der alte Sack weigert sich.«
Johanna betrachtete die Rauchschwaden, die vor ihr zur Zimmerdecke stiegen.
»Der Mann ist nicht einzuschüchtern und nicht zu bestechen. Er behauptet, das Spiel nicht zu kennen. Aber ich bin mir sicher, bei einer hinreißenden Blondine im zarten Alter von ... wie alt bist du eigentlich?«
»Zweiundzwanzig.«
»Ja, für so eine reizende junge Dame macht er sicher eine Ausnahme.«
Ein paar Augenblicke lang war es so still im Raum, dass man von der Küche her das Ticken der Wanduhr hören konnte.
»Okay«, sagte Johanna schließlich. »Wenn das mein Beitrag sein soll, dann bitte.«
»Gregor wird dich morgen zu dem Mann führen. Der Alte heißt Kjell Nestor und zecht gern in einem Speakeasy, das uns gehört. Verwickle ihn in ein Gespräch. Bring ihn dazu, dich zu unterrichten.«
»Und wie soll ich das tun?«
»Zeig ihm deine Titten«, erwiderte Sundland. »Und spiel ihm die Eingeweihte vor.« Sie klopfte auf das Buch, das auf dem Tisch lag und schob es zu Johanna herüber. »Das ist ein seltenes Exemplar. Ein Lehrbuch über die Eröffnungstheorie des Spiels.«
Johanna klappte das Buch auf und blätterte ein wenig darin herum.
»Aber am wichtigsten ist, dass du ihm deine Titten zeigst.«


Das Leben, in dem Johanna mehr als zwei Kleider im Schrank hängen hatte, war lange vorbei. An diesem Abend fiel es ihr deshalb nicht schwer, eine Auswahl zu treffen, die zur bevorstehenden Mission passte - ein nachtblaues Kleid, so enggeschnitten, dass sie nicht wusste, wie sie darunter eine Waffe verstecken sollte.
Gleich nachdem sie das Speakeasy betreten hatten, schaute sich Gregor um und wies dann mit einer Kinnbewegung auf einen älteren Mann mit Brille, der etwas abseits an einem Tisch saß und ein Whiskyglas in der Hand hielt. Während sich Gregor unter die Gäste mischte, öffnete Johanna ihren Mantel, trat an den Tresen und orderte einen Black Russian.
Im Laufe der folgenden Stunde verbrachte sie eine Ewigkeit mit dem Versuch, einen zufällig wirkenden Blickkontakt zu Nestor herzustellen, aber der Mann schien vollauf damit beschäftigt, über seinem Drink zu meditieren. Scheiß drauf, sagte sie schließlich zu sich selbst, ergriff ihr Glas und trat an seinen Tisch.
»Leisten Sie mir etwas Gesellschaft?«
Nestor hob den Blick. Er betrachtete sie einen Moment lang ohne jede Regung.
»Sie sehen nicht aus, wie eine Professionelle.«
»Das nehme ich mal als ein Ja«, erwiderte Johanna und setzte sich zu ihm. Während sie irgendwas über die Zeiten plapperte, in denen man sich abends legal einen Drink genehmigen konnte, forschte sie in dem Gesicht des Mannes nach einem Anhaltspunkt, einem Hinweis dafür, wie sie vorgehen sollte.
Nestor hörte ihr eine Weile schweigend zu und sagte dann: »Was wollen Sie von mir?«
»Okay, ich will offen zu Ihnen sein«, sagte Johanna. »Eine Freundin hat mir von Ihnen erzählt. Sie sagte, wenn ich ernsthaft lernen möchte, dann sind Sie der beste Lehrer, den man kriegen kann.«
»Was lernen?«
»Das Spiel der Tauben und Raben«, erwiderte sie. Ohne es zu beabsichtigen, hatte sie die Stimme gesenkt.
Nestor lehnte sich zurück und schwieg. Johanna versuchte in den Augen hinter diesen dicken Brillengläsern zu lesen, was er von ihrer Bitte hielt, aber da war nichts als Leere, aus der heraus sie betrachtet, ja gemustert wurde. Dem Anschein nach hatte der Mann seine besten Jahre hinter sich, aber ob er auf die Sechzig oder gar auf die Siebzig zuging, ließ sich unmöglich mit Bestimmtheit sagen. Trotz der Strenge, die in Nestors Zügen lag, gab es da etwas, das diesem Eindruck von Härte und Unnahbarkeit zu widersprechen schien; eine kaum wahrnehmbare Bewegung seiner Mundwinkel vielleicht, so als könnte er jeden Moment in dröhnendes Gelächter ausbrechen. Und plötzlich wünschte Johanna, ohne dafür den Grund zu wissen, das Lachen dieses Mannes zu hören.
»Ist es möglich, dass sich Ihre Freundin für den Widerstand engagiert?«
Johanna hatte schon den Mund geöffnet, aber Nestor hob die Hand. »Nein, bitte tischen Sie mir keine weiteren Lügen auf.«
Er nahm einen Schluck von seinem Whisky.
»Ich nehme an, Sie wissen, dass das Spiel seit Jahren verboten ist.«
Johanna nickte.
»Und Sie wissen auch, dass man Spieler verfolgt und ins Gefängnis wirft?«
»Das weiß ich.«
»Und trotzdem wollen Sie es lernen.«
»Stimmt.«
Nestor leerte sein Glas und setzte es behutsam wieder ab.
»Und wie hatten Sie sich die Bezahlung meines Unterrichts vorgestellt?«
Johanna sah ihm in die Augen und sagte ohne zu zögern: »Was immer Sie dafür verlangen.«
Nestor lächelte. Er schüttelte den Kopf, erhob sich und nahm seine Jacke von der Stuhllehne.
Den Blick auf seine Schuhspitzen gerichtet, sagte er: »Sprechen Sie mich nie wieder an.« Dann nickte er dem Mann hinter dem Tresen zu und verließ das Speakeasy.


Johanna schreckte um sechs Uhr in ihrem Bett hoch, als aus der Kommunikationseinheit der alltägliche Morgengruß ertönte - ein Fanfarenstoß, dem eine motivierende Kurzansprache folgte.
In ihren Schläfen dröhnten Hammerschläge. Sie schleppte sich unter die Dusche und hörte einige Minuten lang den Anklageverlesungen des Tages zu. Mehr als zwanzig Gefangene erwarteten ihre Urteile. Um sechs Uhr dreißig endete die Morgensendung. Selbstverständlich konnte man die Kommunikationseinheit sabotieren, doch das rief nur den Sicherheitsdienst auf den Plan. Die Strategen des Widerstands behaupteten, dass es lediglich eine Frage der Zeit sei, bis man die Kommunikationseinheiten mit umfassender Audio- und Videoüberwachung ausstatten würde.
Johanna saß am Küchentisch und hielt ihre Kaffeetasse in der Hand, als die Wohnungstür mit einem Krachen aufsprang und eine Einheit der Staatspolizei hereinstürmte. Der erste Knüppelhieb traf sie über der linken Augenbraue, ein zweiter Schlag trieb ihr die Luft aus den Lungen. Johanna rutschte vom Stuhl und lag eine Zeitlang keuchend am Boden. Die Männer des Sturmkommandos sicherten die Wohnung und fesselten Johannas Hände mit einem Kabelbinder. Jemand zog ihr eine Kapuze über den Kopf, und dann wurde sie hochgerissen und fortgeschleift.
Während sie auf dem Boden des Einsatztransporters lag, der sie vermutlich zu einem der vielen Verhörzentren bringen würde, dachte Johanna voller Schrecken an die Methoden, die von Staatspolizei und Geheimdienst bei den berüchtigten Gefangenenbefragungen eingesetzt wurden. Nach einer endlosen Fahrt zog ihr jemand die Kapuze vom Kopf. Der Transporter bremste so scharf, dass Johanna mit der Stirn gegen eine Sitzbank des Einsatzwagens schlug. Sie hörte ein raues Lachen und dann kippte sie rückwärts in die Dunkelheit.


»Wissen Sie, weshalb Sie hier sind, Frau Hedlund?«
Johanna brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass die eigenartig geformte Landschaft, auf die sie aus einem sonderbaren Winkel hinabzuschauen schien, ihr eigener, unbekleideter Körper war. Offenbar saß sie auf einem Stuhl, die Arme hinter dem Rücken gefesselt.
»Heben Sie den Kopf und sehen Sie mich an.«
Ja, genau. So war es. Sie saß auf einem Stuhl und schaute an sich selbst hinab, schaute auf ihre Brüste, ihren Bauch und ihren Unterleib.
»Sehen Sie mich an, sagte ich.«
Demzufolge waren das dort ihre Schenkel und ihre Kniegelenke.
Der Verhöroffizier schlug mit der Hand auf den Tisch, und Johanna riss den Kopf hoch.
»Vielen Dank«, sagte der Offizier. »Ich fragte Sie soeben, ob Sie wissen, weshalb Sie hier sind.«
Johanna starrte ihn mit halbgeöffnetem Mund an. Der Mann hinter dem Tisch trug die schwarze Uniform des Reichsheeres und einen Wolfskopf auf dem Kragenspiegel.
»Nein? Dann werde ich Ihnen gern auf die Sprünge helfen.« Er erhob sich. »Doch zunächst möchte ich mich vorstellen, damit Sie verstehen, in welcher Lage Sie sich befinden.«
Er lief im Raum auf und ab, einer etwa zehn Quadratmeter großen fensterlosen Zelle. Ihr einziges Mobiliar bestand aus einem Tisch und zwei Stühlen. Die weißgekalkten Wände reflektierten das grelle Licht der Deckenleuchte. Der Boden war mit grauen und dunkelblauen Fliesen ausgelegt, die man in einem quadratischen Mosaik um ein schmutzig vergrindetes Abflussloch in der Mitte der Zelle angeordnet hatte.
»Ich bin Major Anquist. Ich ermittle in einem schweren Fall von Meuterei und Aufruhr in einem Bataillon des dritten Jägerregiments. Wie Sie sich bestimmt denken können, nimmt das Militär jede Form von Insubordination sehr ernst.«
Johanna versuchte, sich aufzurichten. In ihrem rechten Schultergelenk knackte es, und erst jetzt bemerkte sie, dass sich ihre Hände kalt und taub anfühlten.
»Wollen Sie, dass ich Ihnen die Fessel abnehme?«
Johanna nickte.
Anquist trat hinter sie, und sie spürte seinen Blick auf ihrem Körper.
»Solange ich der Überzeugung bin, dass Sie vollständig kooperieren, Frau Hedlund, gibt es keinen Anlass zur Sorge.«
Johanna zuckte zusammen, als Anquist seine Hände auf ihre Schultern legte.
»Sehen Sie, ich habe volle Freigabe für jede Art von Verhörtechnik, die notwendig ist, um meine Ermittlungen voranzutreiben.«
Die Hände des Majors glitten ein Stück an Johannas Armen hinab.
»Können Sie sich vorstellen, weshalb Sie zu dieser Vernehmung einbestellt wurden?«
»Einbestellt?«, wiederholte Johanna mit trockenem Mund. »Verschleppt wurde ich, in meiner Wohnung überfallen und verschleppt.«
Anquist zog scharf die Luft ein, trat zur Seite und umrundete den Tisch. Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl und betrachtete sie eine Weile mit zusammengepressten Lippen und einem Blick, der sich in ihre Stirn zu bohren schien.
Er wies mit der Hand auf die Zellentür. »Wenn ich jetzt da raus gehe und dem Gefreiten, der vor der Tür Wache steht, sage, dass er sich eine Stunde lang mit Ihnen befassen soll, was glauben Sie, wird dann geschehen?«
Johanna blies eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und obwohl ihre Lippen ein wenig zitterten, schaute sie Anquist kalt in die Augen und sagte: »Er wird mich vergewaltigen.«
»Falsch«, erwiderte Anquist leise, und ein dünnes Lächeln erschien auf seinem blassen Gesicht. »Er wird Sie verprügeln, wird Ihnen die Scheiße aus dem Leib prügeln, bis Sie nicht mehr wissen, wie Ihr Name lautet. Und dann wird er Sie vergewaltigen. Und dann verprügelt er Sie wieder.«
Anquist legte die Fingerspitzen aneinander.
»Was halten Sie davon, Frau Hedlund?«
Johanna ignorierte, dass ihr Herz schmerzhaft bis in den Hals pochte und hob das Kinn.
»Dann wär's wohl vorbei mit dem Verhör«, sagte sie und beobachtete, wie Anquists Nasenflügel bebten.
»Gefreiter Frese«, brüllte der Major. »Reinkommen!«
Die Zellentür wurde aufgerissen und ein Soldat in der Uniform der Militärpolizei trat in den Raum. Der Mann hatte etwas von einer Bulldogge. Johanna kam nicht dazu, ihn genauer zu betrachten. Auf einen Nicken von Anquist hin machte Frese einen Schritt auf sie zu, wobei er sein ganzes Gewicht in die Bewegung legte, und schmetterte seine Faust in ihr Gesicht. Die Wucht des Schlages schleuderte Johanna zu Boden.
»Danke, Frese. Stellen Sie den Stuhl wieder auf und dann Wegtreten.«
Während Johanna beobachtete, wie sich das Blut, das ihr aus Mund und Nase geschossen war, in einer Lache sammelte und schließlich träge in Richtung der Zellenmitte floss, redete Anquist auf sie ein und erging sich in Erläuterungen, von denen nur ein Bruchteil in ihr Bewusstsein drang. Einen Moment lang sah sie sich selbst so, wie sie hier nackt vor diesem Sadisten am Boden lag, die Hände auf den Rücken gebunden und mit blutendem Gesicht. Und ihr wurde übel, so ekelte sie der Gedanke, diesem Mann ausgeliefert zu sein.
»Geben Sie uns Klara Sundland, dann kommen wir ins Geschäft«, sagte Anquist. »Wir wissen, dass sie eine entscheidende Rolle bei dieser Meuterei spielt. Wir wissen, dass sie den Kontakt zwischen dem Bataillonskommandeur und dem Widerstand hergestellt hat.«
»Kenne ... ich nicht«, sagte Johanna mühevoll und würgte.
»Wie bitte? Was sagten Sie? Sprechen Sie gefälligst lauter.«
»Ich kenne niemanden ... der so heißt.«
»Sie kennen Klara Sundland nicht?«
»Nein.«
Anquist sprang von seinem Stuhl und stürzte sich auf Johanna. Er packte sie an der Kehle und presste sie auf den Zellenboden, bis sie röchelte. Johanna spürte, wie sich das Blut in ihrem Gesicht staute und wie ihr Brustkorb in Krämpfen zuckte.
»Ich habe keine Zeit für diese Spiele«, stieß Anquist zwischen den Zähnen hervor. »Und das, meine Liebe, ist schlecht für Sie.«
Er ließ von ihr ab, und Johanna drehte sich hustend auf die Seite. Sie erbrach ein wenig Schaum und dunkle Flüssigkeit, und dann spuckte sie Blut.
»Aufstehen.«
Betäubt vom Schlag des Soldaten, versuchte Johanna, sich zu orientieren. Nichts in dieser Zelle stimmte. Die Decke des Raumes hing schräg, und dort, wo der Tisch und die Stühle stehen sollten, befand sich die Tür.
»Hoch, habe ich gesagt.«
Johanna zog die Knie an und versuchte, ihren Oberkörper aufzurichten.
»Los, machen Sie schon. Weiter, weiter.«
Noch immer sickerte Blut aus ihrem Mund, und hinter den Augen pulsierte ein Schmerz, der sie beinahe zurücksinken ließ, doch schließlich kam sie auf die Füße, und eine Minute später stand sie schwankend und mit zitternden Knien vor Anquist.
»Na also«, sagte der Major. »Jetzt drehen Sie sich zur Wand. Beine spreizen und vorbeugen.« Seine Stimme war rau vor Erregung und Zorn.
»Füße auseinander und weiter vorbeugen.«
»Kann nicht«, sagte Johanna, erschrocken vom Klang ihrer Stimme. Sie zerrte an ihrer Fessel. »Sonst kippe ich um.«
Anquist packte sie an den Haaren und stieß sie mit dem Kopf gegen die Wand.
»Zu blöd, sich gegen eine Wand zu stützen, wie? So. Füße noch weiter auseinander.«
Johanna spürte, wie ihre Füße auf den blutverschmierten Bodenfliesen rutschten.
»Ich gebe Ihnen jetzt die letzte Chance zu kooperieren, Frau Hedlund«, sagte der Major und ging zur Zellentür.
Johanna drehte den Kopf zur Seite, und aus den Augenwinkeln sah sie, wie Anquist die Tür öffnete.
»Frese, holen Sie aus dem Wachbüro einen kurzen Gummischlagstock. Beeilung.«
Johanna fühlte, wie sich ihr Bauch verkrampfte. Sie presste die Kiefer zusammen.
Anquist kehrte zu ihr zurück. »Sagen Sie mir, wo sich Klara Sundland aufhält.«
»Kenne die Frau nicht«, stieß Johanna hervor und konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken.
Mit einem Poltern trat Frese in die Zelle. In der Hand hielt er einen Schlagstock von etwa einem halben Meter Länge.
»Kommen Sie her, Gefreiter. Geben Sie mir den Knüppel.«
Johannas Schenkel zitterten, als Frese zu ihnen herangestampft kam.
»Letzte Chance«, sagte Anquist.
»Bitte nicht.« Johanna schmeckte das Salz ihrer Tränen und das Blut, das an ihrer Wange herablief.
»Frese, halten Sie sie fest.«
Johanna unterdrückte einen Würgereiz und schloss die Augen.
In diesem Moment wurden draußen auf dem Gang Befehle gebrüllt. Johanna hörte das Knallen genagelter Stiefel, und dann riss jemand die Zellentür weit auf.
»Was zur Hölle«, fluchte Anquist und fuhr herum.
»Gehen Sie sofort weg von ihr«, sagte eine Stimme, die Johanna kannte.


Als Johanna am nächsten Abend zu Nestor an den Tisch trat, trug sie nicht ihr nachtblaues, enggeschnittenes Kleid, sondern Jeans und einen groben Pullover.
»Zeigen Sie mir, wie man das Spiel spielt«, sagte sie.
Nestor betrachtete sie eine Weile, dann sagte er: »Setzen Sie sich.«
Johanna stützte sich auf die Tischplatte und nahm neben ihm Platz.
Eine Weile schwiegen sie. Im Speakeasy herrschte an diesem Abend kaum Betrieb. Zwei Gäste unterhielten sich leise am Tresen, und nur drei oder vier Tische waren besetzt.
»Einen kleinen Unfall gehabt?« Nestor nahm einen Schluck von seinem Whisky.
»So was in der Art.«
»Sie sollten vorsichtiger sein.«
»Tja, dafür fehlt uns leider die Zeit.« Johanna steckte sich eine Look an und betrachtete ihre zitternden Finger.
»Ach ja?«
»Wenn Sie uns nicht helfen, wird der Widerstand bald nur noch aus Zombies bestehen.«
»Und Sie wollen das verhindern, ja?«
»Genau.«
Nestor nickte und und rückte seine Brille zurecht. Dann fragte er: »Woher wollen Sie wissen, dass das nicht ohnehin passiert?«
»Keine Ahnung, ich muss es einfach versuchen.«
»Ich denke, Sie haben nicht die geringste Vorstellung davon, was es bedeutet, das Spiel zu spielen.«
»Da haben Sie sicher recht.«
»Also gut«, sagte Nestor. »Wie heißen Sie?«
»Nennen Sie mich Johanna.«



»Das war verdammt knapp.« Sundland ging im Raum auf und ab. Sie hielt eine glimmende Zigarette zwischen den Fingern.
»Knapper geht's nicht«, sagte Johanna. »Wäre Adrian da nicht aufgetaucht ...«
Gregor drehte sich von seinem Fensterposten zu Johanna um und nickte ihr zu.
»Schon gut. Behalt die Straße im Auge«, sagte Sundland. Sie wandte sich wieder an Johanna: »Zumindest weißt du jetzt, dass er zu dir steht.«
»Vergiss es. Er hat mir klar gemacht, dass er mich nicht noch mal aus der Scheiße holen wird.«
»Diese Kanaille.«
»Überhaupt nicht, Klara.« Johanna stützte den Kopf in ihre Hände und sagte: »Er hat bei der Aktion sein Leben für mich riskiert. Der Job im Ministerium macht ihn nicht unangreifbar.«
Sundland trat an den Tisch und drückte ihre zur Hälfte heruntergebrachte Zigarette im Ascher aus.
»Du musst jetzt auf jeden Fall untertauchen. Gregor bringt dich gleich im Anschluss in ein Safehouse.«
»Und Nestor?«
»Ich habe das geregelt. Ihr könnt das Hinterzimmer im Speakeasy nutzen. Pass auf, dass du auf dem Weg dorthin keinem Agenten in die Arme läufst.«
»Okay. Und noch etwas.«
»Ja?«
»Ich will bei der Sache mit dem Jägerbataillon dabei sein.«
Sundland setzte sich Johanna gegenüber und betrachtete sie mit leicht gehobenen Augenbrauen.
»Ich bin nicht sicher, ob du schon so weit bist«, sagte sie dann. »Das Projekt ist heikel.«
Johanna nickte. »Darauf wette ich. Aber denke daran, was ich für dich getan habe.«
»Du meinst, ich schulde dir was?«
»Und ob, Klara.«
»Also gut.« Sundland rieb sich die Schläfen. »Ach ja. Was ist mit deiner Waffe und dem Buch? Ich nehme an, sie haben deine Wohnung gründlich auseinandergenommen.«
»War beides sicher im Keller versteckt«, erwiderte Johanna.
»Kluges Mädchen.«


Ein Spielbrett aus Eibenholz, auf dem ein Gitternetz mit jeweils neunzehn Linien horizontal und vertikal aufgetragen war und zwei Kirschholzdosen, in denen sich weiße und schwarze, linsenförmige Spielsteine befanden – Johanna konnte nicht glauben, dass dies die Utensilien waren, von denen der Kampf gegen die Degeneration abhängen sollte.
»Wenn du beginnst, das Spiel zu spielen«, sagte Nestor, »wird sich dein Leben grundlegend ändern.«
»Ich verstehe«, erwiderte Johanna. »Fangen wir an.«
»Es ist das Spiel der Spiele, das Spiel der Meister, denn in ihm offenbaren sich alle Dinge dieser Welt.«
Nestor entnahm den Dosen ein paar schwarze und weiße Steine und legte sie auf das Brett. »Das sind die Raben und die Tauben«, sagte er. »Sie symbolisieren Schatten und Licht. Diese Kräfte befinden sich in ständigem Konflikt, in ständigem Kampf.«
»Okay«, sagte Johanna. »Aber was ist das Ziel des Spiels? Worum geht es?«
»So wie sich Licht und Schatten die Welt teilen«, sagte Nestor, »so verteilen sich die Tauben und die Raben auf dem Spielbrett. Sie ringen um jeden freien Fleck, versuchen, sich gegenseitig zu verdrängen. Am Ende einer Partie wird ausgezählt, welcher Spieler das Brett beherrscht. Es ist also ein Spiel um Gebiet.«
»Gebiet?«
Nestor nickte. »Ja, es geht darum, möglichst viele Punkte auf dem Brett zu beherrschen. Bedenke aber, dass beide Spieler abwechselnd setzen.«
»Und das heißt?«
»Du kannst deinen Gegner nicht ignorieren und so tun, als ob dir das ganze Brett gehören würde. Bist du zu gierig, hältst du am Ende nichts in den Händen.«
Er schob alle Steine vom Spielbrett und sagte: »Du nimmst Schwarz und beginnst.«
Nachdem sie ein paar Züge gespielt hatten, sagte Johanna: »Gut. Aber was hindert mich daran, meine Steine in das Gebiet des Gegners zu setzen?«
Nestor lächelte. »Du stellst die richtigen Fragen.«
Johanna erfuhr, dass Gruppen von Steinen im Verlauf einer Partie nur überleben konnten, wenn es ihnen gelang, spezielle Formationen zu entwickeln. Gelang dies nicht, konnte der Gegner die Steine fangen und für sich selbst als Punkte beanspruchen. Das machte das Ganze schlagartig kompliziert, denn Johanna war einfach nicht in der Lage, in all dem Wirrwarr der Formen die Strukturen zu erkennen, die die Kräfteverhältnisse zwischen den Tauben und den Raben bestimmten.
Nach drei Stunden und hunderten von Spielzügen, lehnte sie sich erschöpft zurück und sagte: »Das reicht fürs Erste.«


Von der Mannschaft des Bunkers war selbst mit dem Nachtsichtgerät nichts zu erkennen, doch Johanna wusste, dass hinter den Schießscharten zwei Maschinengewehre darauf warteten, jeden zu zerfetzen, der sich dem Lager vom Waldrand her näherte. Unter einer hauchdünnen Mondsichel lag die Feuchtwiese da wie ein sumpfiger Todesstreifen, und die Vorstellung, sich im Kugelhagel durch den binsenbewachsenen Brühl zu schlagen, presste Johanna die Kehle zusammen.
»Letzte Gelegenheit«, sagte Leutnant Nyborg und deutete auf die Uhr an seinem Handgelenk.
Johanna schüttelte den Kopf. »Das sind unsere Leute da drinnen. Ich gehe mit.«
Nyborg nickte. Ein Lächeln glitt über das mit Tarnfarben bemalte Gesicht.
»Hoffentlich haben sie unsere Nachricht bekommen.«
»Keine Sorge, Leutnant.«
Einige Meter entfernt machten sich zwei Männer für das Abfeuern einer Panzerbüchse bereit. Der Richtschütze setzte den Werfer auf seine Schulter. Er visierte die Bunkerstellung an, deren knochenbleiche Kuppel über dem Todesstreifen wachte. Ein Fuchsschrei gellte durch die Nacht, und Johanna erschauerte. Sie beobachtete, wie der Ladeschütze das Raketengeschoss bis zum Gefechtskopf einführte, den Sicherungsstift zog und seinem Partner auf den Helm klopfte.
»Achtung«, sagte Nyborg. Im gleichen Moment zischte die Rakete über den Brühl. Krachend platzte der Bunker auseinander, und brennende Trümmerteile flogen durch die Luft. Die Männer des Angriffsteams sprangen auf. Im Flammenschein rannten sie los. Hundegebell setzte ein, auf den Wachtürmen gingen Flutlichtstrahler an, und das Stottern von Maschinenpistolen war zu hören. Eine Gruppe von Jägern erwiderte vom Waldrand her das Feuer, und Nyborgs Scharfschützen, verborgen zwischen Seggen und Wollgras, schossen auf die Suchscheinwerfer. In der Nähe der Gefangenquartiere detonieren Handgranaten, und kurz darauf strömten unzählige Menschen auf den Lagerhof.
Die Pistole in der Hand setzte Johanna dem Leutnant hinterher. Ihre Stiefel sanken tief in den Morast. Sie hörte, wie dicht neben ihrem Kopf Kugeln durch die Nachtluft pfiffen. Eine weitere Rakete rauschte über den Sumpf hinweg ins Lager und riss unter lautem Getöse eine MG-Stellung auf dem Dach der Kommandeursbaracke in Stücke. Johanna stürzte und schlug der Länge nach ins schlammige Wasser. Nyborg wandte sich zu ihr um.
»Kopf runter!«, rief er. »Bleiben Sie unten!«
Alles geriet in Aufruhr. Atemlos verfolgte Johanna das Spektakel. In das Schreien der Gefangenen hinein brüllten Offiziere der Militärpolizei den Wachmannschaften Kommandos zu, doch die gingen in Deckung, denn aus den Karabinern der Jäger prasselte Salve um Salve auf sie nieder. Über dem Tumult kreischte die Lagersirene, und als ein funkensprühender Kurzschluss die Hundeketten am äußeren Patrouillengang ausklinkte, war das Chaos perfekt. Die Tiere schienen weder Freund noch Feind zu kennen. Geifernd und wie von Sinnen stürzten sie sich in den Kampf. Johanna sah, wie einer der Wachposten von einem Rottweiler angesprungen wurde. Der Hund verbiss sich in den Arm des Mannes und ließ nicht locker, bis ihn irgendjemand mit dem Schuss aus einer Schrotflinte niederstreckte.
Nyborgs Männer erreichten den Zaun, zerschnitten den Draht, und schlüpften ins Lager. Der Leutnant hockte am Rande des Sumpfes und schoss auf das stark befestigte Lagertor, wo zwei Militärpolizisten eine MG-Lafette ausrichteten. Unter dem Sperrfeuer zogen die beiden Männer die Köpfe ein. Als Nyborg sein Magazin leergeschossen hatte, donnerten die schweren Repetierer der Scharfschützen und verwandelten die Lafette in einen Haufen Schrott.
Johanna stemmte sich hoch. Sie erreichte den Lagerzaun kurz nach dem Leutnant.
»Fast geschafft«, sagte er zu ihr. »Wenn wir drüben sind, bleiben Sie in meiner Nähe. Suchen Sie sich Deckung.«
Sie stiegen durch den Zaun und krochen hinüber zu Nyborgs Männern, die sich auf dem Lagerhof hinter Panzersperren aus Beton verschanzt hatten. Überall rannten Gefangene umher, und einige von ihnen wurden getroffen, als Schützen der Wachmannschaften vom Dach der Lagerverwaltung in die Menge schossen.
Johanna kauerte neben Nyborg am Boden. Die Pistole in ihrer Hand zitterte. Ein blutjunger Unteroffizier kam herbeigespurtet, reichte dem Leutnant ein Nachtglas und meldete: »Der Lagerkommandeur ist mit zehn Mann beim Waffendepot in Stellung gegangen. Ein Uhr.«
Nyborg schaute durch das Glas. »Okay, der Funker soll es den Mörsern durchgeben. Und die sollen auch die Penner auf dem Dach eindecken.«
Der Unteroffizier bestätigte und rannte davon.
Nyborg packte Johanna am Arm. »Alles klar? Sie sehen übel aus.«
»Alles bestens«, erwiderte Johanna, und einen Moment lang glaubte sie, sich auf der Stelle übergeben zu müssen.
Der Leutnant lachte. »Ist nur der Stress.«
In diesem Augenblick ließen mehrere Detonationen die Erde beben.


Sundland lächelte und füllte drei Gläser mit schwedischem Wodka. »So viele Gefangene haben wir noch nie befreit. Die Aktion war ein großer Erfolg.«
Nyborg nickte. »Wir hatten ein paar Verluste, aber ich stimme Ihnen zu. Der Punkt ging an uns.«
»Was wird die Regierung jetzt tun?«, fragte Johanna.
Nyborg zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Man wird wahrscheinlich versuchen, unser Bataillon kaltzustellen.«
Sie stießen an und tranken.
»Ja, sicher«, sagte Sundland. »Aber dabei wird ihnen klarwerden, dass bereits das gesamte dritte Jägerregiment mit dem Feind kollaboriert.«
»Sie waren ziemlich fleißig, Klara.«
Sundland schob ein Päckchen Zigaretten über den Tisch, steckte sich selbst eine Look an und blies den Rauch unter die tiefhängende Deckenlampe. »War so alles nicht geplant«, sagte sie. »Wir dachten, wir hätten viel mehr Zeit. Der Strategiewechsel der Regierung zwingt den Widerstand zu dieser Reaktion.« Mit einem Blick zu Johanna fügte sie hinzu: »Und die Degeneration.«
»Wie geht es eigentlich Ihren Männern, Leutnant?«, fragte Johanna. »Wie kommen Sie damit klar?«
Nyborg rollte eine Zigarette zwischen den Fingern. »Wir sind alle ziemlich angeschlagen. Es geht das Gerücht, dass Dienstgrade vom Major aufwärts ein Mittel erhalten. Aber ehrlich gesagt, glaube ich es nicht.«
Sundland füllte ihre Gläser nach. »Was meinen Sie damit?«
»Ich denke, dass es kein Mittel gibt, Klara. Das Militär ist ebenso von der Degeneration betroffen, wie die Bevölkerung und der Widerstand. Und ich denke, das gilt auch für den Geheimdienst und sogar für die Regierung.«
»Nein«, sagte Sundland und schüttelte den Kopf. »Die haben es uns angehängt. Die haben uns mit der Degeneration infiziert.«
Nyborg steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen, und Johanna gab ihm Feuer. Sie schwiegen eine Weile.
»Oder es ist so etwas wie Karma«, sagte Johanna schließlich.


Nestor hielt einen Spielstein zwischen Mittelfinger und Zeigefinger. »Wie mit einer Pinzette, siehst du?«
Johanna nickte.
»So kannst du die Steine besser auf dem Brett platzieren«, sagte Nestor.
Sie hatten jetzt zwei Monate lang beinahe jeden Abend gespielt. Ziel dieses Trainings war es, die Grundlagen zu vermitteln, wie sich Nestor ausdrückte.
»Liest du noch in dem Buch über die Eröffnungstheorie?«
»Nein, das ist zwecklos.«
Nestor nickte. »Ich sagte dir ja bereits, dass du erst einmal begreifen musst, wie du eine Steingruppe sichern kannst. Die Verteidigung zu beherrschen, ist unverzichtbar.«
Johanna stützte das Kinn auf ihre Hände und schaute auf das Spielbrett. Die Gruppen schwarzer und weißer Steine dort erzählten eine Geschichte von Angriff und Gegenangriff, von Invasionen, Umgehungsattacken, Aufspaltungsmanövern. Je nachdem, wie man auf das Brett blickte, schien sich diese Geschichte zu wandeln. Eine Gruppe von schwarzen Steinen, die Johanna gerade noch für einen Angriffstrupp gehalten hatte, wirkte plötzlich isoliert und verloren, wenn man bedachte, welche Stärke von den weißen Positionen ringsumher ausstrahlte.
Nestor lachte. »Orientierung verloren?«
Johanna kaute auf ihrer Lippe. Es war zum Verrücktwerden. Das Spiel stellte sich als Übung in dauerhaftem Krisenmanagement heraus. Egal, wie man die eigenen Reihen verstärkte, stets brach der Gegner durch. Schloss Johanna die Ostseite ihrer Stellung, schob Nestor sich von Westen in ihr Gebiet. Sicherte sie den Westen ebenfalls, hörte sie nur: »Zu langsam. Du brauchst drei Züge, wo ich einen mache.«
Nachdem sie an diesem Abend die Partie beendet hatten, sagte Nestor: »Du siehst unzufrieden aus.«
Johanna zuckte die Schultern. »Es ist nur, weil ich das Gefühl habe, bei jeder Partie schlechter zu spielen. Ich kapiere immer weniger.«
Nestor nickte. »Das ist gut so.«
Johanna sah ihn an. »Ach, wirklich?«
»Dieses Gefühl der Verwirrung ist der Augenblick vor einer Erkenntnis.«
»Und dann werde ich das Spiel beherrschen.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Nestor und lachte wieder. »Du bewegst dich von Verwirrung zu Erkenntnis, und dann folgt wieder Verwirrung.«
»Na, das klingt ja großartig.«
»Mich interessiert etwas anderes, Johanna.«
»Hm?«
»Bemerkst du die Veränderungen hier oben«, Nestor tippte sich an die Stirn, «die das Spielen auslöst?«
Johanna schüttelte den Kopf. »Mein Leben ist ein Chaos. Also, alles wie immer.«
»Du darfst dich nicht damit begnügen, es als Chaos zu betrachten.«
»Sondern?«
»Suche nach den verborgenden Verbindungen, nach den Bedeutungen der Ereignisse in deinem Leben.«
»Keine Ahnung, was Sie damit meinen.«
Nestor lächelte. »Das kommt schon«, sagte er. »Bald.«


Von hier oben sah man die Stadt mit anderen Augen. Johanna betrachtete die im Dunst schimmernden Dächer der Häuser, die regennassen Straßen und Plätze. Solange sich jeder einzelne Mensch einredete, das Beste aus den Umständen zu machen, sein Leben so gut zu leben, wie es in diesen Zeiten eben ging, würde sich im Großen nicht viel ändern. Aber gab es das überhaupt? Gab es das Große, den Gesamtzusammenhang, oder war das nicht mehr als eine theoretische Betrachtungsweise, die verblasste, sobald man sie den realen Lebenserfahrungen des Einzelnen gegenüberstellte?
Johanna hörte Nyborgs Schritte im Gras. »Gute Idee«, sagte er. »Dieser Platz ist perfekt. Wir können die Funkstation hier aufbauen und erzielen eine Reichweite von mehr als fünfhundert Kilometern.«
»Mein Vater war hier oft mit mir wandern«, sagte Johanna.
»Sördal möchte, dass wir beide das zusammen koordinieren.«
»Den Aufbau der Funkstation?«
»Du klingst enttäuscht.«
Johanna scharrte mit dem Fuß in der Erde. »Kannst du deinen Kommandeur nicht bitten, uns einen anderen Auftrag zu geben? Ich würde gern eine dieser verfluchten Verhörzentralen in die Luft sprengen.«
Nyborg lächelte. »So läuft das nicht beim Militär. Befehl ist Befehl.«
»Hm.«
»Es geht nicht nur um die Funkstation. Eine Hütte hier oben in den Wäldern wäre auch ein guter Stützpunkt, eine Basis für die weiteren Aktionen.«
»Schon klar«, sagte Johanna.
»Wir werden in der Nähe der Hütte ein Waffenversteck einrichten. Das könnte einmal sehr nützlich werden.«
Sie standen noch eine Weile beisammen und beobachteten, wie sich die Konturen der Stadt in der Abenddämmerung auflösten.


Nestor kratzte sich am Kopf, als müsste er über die Frage nachdenken, aber Johanna war sich sicher, dass er nur nach den richtigen Worten suchte, um ihr klarzumachen, was für ihn auf der Hand lag.
»Ich sympathisiere mit den Ideen des Widerstands, aber das ist nicht mein Kampf«, sagte er schließlich.
Johanna schüttelte den Kopf. »Wie können Sie so etwas nur sagen? Sehen Sie nicht, was mit diesem Land passiert?«
Nestor schaute auf das Spielbrett. »Hinter dem Offensichtlichen gibt es stets das Verborgene, Johanna. Wenn du dich nach dem Offensichtlichen richtest und das Verborgene außer acht lässt, kommst du zu fragwürdigen Entscheidungen.«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass Sie so denken. Ich habe oft an diesem Kampf gezweifelt, weil ich nicht mehr verstanden habe, wofür wir eigentlich unser Leben riskieren. Aber als mich dieser Typ verhört hat, wurde mir klar, dass wir gar nichts anderes tun können, weil die uns vernichten wollen, Nestor. Das ganze System ist ein einziger Vernichtungsapparat.«
Nestor platzierte einen Stein auf dem Brett. »Soweit zum Offensichtlichen.«
»Und was bitte soll daran falsch sein?«
Nestor schaute vom Brett auf, betrachtete Johanna einen Moment lang mit einem sonderbaren Blick, in dem eine ungeheure Intensität lag. Dann verschwand das Feuer aus seinen Augen.
»Ich habe nicht behauptet, dass das falsch ist. Aber es ist nur ein Teil des Ganzen. Und du musst lernen, das Ganze zu sehen.«


Anquist ächzte, als die Faust von Nyborg gegen sein Kinn krachte. Der Major taumelte ein paar Schritte zurück, spuckte Blut und ging auf die Knie.
»Dafür werden Sie hängen«, sagte er keuchend.
»Gut möglich«, erwiderte Nyborg. »Aber das werden Sie bestimmt nicht mehr erleben.«
Johanna trat aus der Ecke in das Licht der Glühbirne, die lange Schatten auf den Wänden der Waldhütte tanzen ließ.
»Erkennen Sie mich, Herr Major?«
Anquist hob den Kopf und betrachtete Johanna mit einem höhnischen Lächeln.
»Ich hätte Sie fertigmachen sollen.«
»Naja, das war wohl der Plan, oder?«
Anquist blinzelte.
»Erinnern Sie sich nicht? Sie haben mich nicht aus Güte verschont.«
Nyborg zog seine Waffe und zielte auf Anquists Kopf. »Wir haben keine Zeit für Plaudereien, Johanna. Sag ihm, was du zu sagen hast.«
Johanna öffnete den Mund, doch dann schwieg sie. Sie schaute Anquist in die Augen. Noch immer spielte ein blasierter Zug um die Lippen des Majors, aber sein Blick ging hin und her, wie der eines gehetzten Tiers.
»Können wir ihn gehen lassen?«, fragte Johanna, und sie schluckte, als sie begriff, was sie gesagt hatte.
Nyborg blickte zu ihr herüber. »Wie?«
»Ich finde ihn nutzlos. Soll er sich doch verpissen.«
»Drei Männer haben ihn zwei Wochen lang rund um die Uhr oberserviert, bis wir ihn schnappen konnten. Er ermittelt gegen unser Regiment, und er hätte dich beinahe ...«
»Das weiß ich alles.«
»Und du findest, wir sollen ihn gehen lassen?«
»Ja.«
»Tja, du weißt, wie mein Befehl lautet.«
»Wenn wir ihn gehen lassen, werden sich seine Vorgesetzten fragen, ob da was faul ist.«
»Das werden sich meine Vorgesetzten auch fragen, Johanna. Und wie willst du das Klara erklären?«
»Strategie.«
»Was?«
»Es ist eine strategische Entscheidung.«
Einen Moment lang herrschte Stille in der Hütte. Nur draußen vor der Tür waren Nyborgs Männer zu hören, die sich leise unterhielten.
»Tut mir leid, Johanna. Wenn du nicht dabei sein willst, dann geh.«
Johanna schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. Sie betrachtete das Gesicht des Majors, der jetzt wusste, dass ihm die Stunde geschlagen hatte. Er richtete einen trotzigen Blick auf den Leutnant, doch seine Todesverachtung war gespielt. In diesem Augenblick war er ein einfacher Mann, der Angst vor dem Sterben hatte und vor dem großen Nichts, das danach folgte.
Nyborg zielte mit seiner Waffe noch immer auf Anquists Kopf.
»Ein letztes Wort, Major?«
»Dafür werden Sie bezahlen, Nyborg.«
Als die Kugel Anquists Schädel durchschlug, hörte Johanna nicht das Krachen des Schusses. Sie sah, wie roter Nebel aufsprühte, sah, wie Fetzen der Gehirnmasse durch die Hütte geschleudert wurden und das Leben in Anquist Augen erlosch, noch ehe sein Körper zu Boden gesunken war.


Nachdem die Funkstation in Betrieb genommen war, schoben zwei oder drei Leute des Widerstands Wache und hielten die Geräte in Schuss. Außer der Funkanlage mussten ein Dieselaggregat und eine Druckpresse gewartet werden. Obwohl es Johanna überraschte, liebte sie es, auf der Station zu arbeiten. Sie dechiffrierte Funksprüche und vervielfältigte Flugblätter, und bald spürte sie, wie sich ihre Aufmerksamkeit und Konzentration allmählich verbesserten. Wenn sie auf Posten stand oder im Wald patrouillierte, kam sie endlich dazu, in Ruhe über sich und ihr Leben nachzudenken.
Als sie an diesem Herbstmorgen unter einer Fichte hockte und mit dem Fernglas zum gegenüberliegenden Bergkamm spähte, fühlte sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit frei und lebendig, eins mit sich selbst. Am Himmel zogen strahlend weiße Cumuluswolken träge dahin. Der Boden roch nach Moos und Pilzen. Eine friedliche Stille lag über dem Wald.
Seit einigen Tagen beschäftigte sie ein seltsames Graffiti, das vermutlich von Aktivisten des Widerstands in der Nähe des Speakeasys an eine Hauswand gesprüht worden war. Schau in den Spiegel!, lautete die Botschaft, und als Johanna sie zum ersten Mal gelesen hatte, verstand sie den Aufruf als eine Mahnung zur Selbstbesinnung. Sich selbst klar zu sehen, bedeutete das nicht auch, die eigene Verantwortung und Pflicht zu erkennen? Hieß das nicht, den Kampf aufzunehmen gegen diesen Vernichtungsapparat? Doch allmählich zweifelte Johanna an dieser Deutung. In den Spiegel zu schauen, das schien weniger eine Aufforderung zur Revolte zu sein, als vielmehr ein Hinweis, dass der blinde Fleck der Wahrnehmung bei der eigenen Person liegen könnte. Und wirklich: Machte sie sich etwas vor? War sie die Frau, für die sie sich hielt?
Das Motorengeräusch eines Geländewagens riss Johanna aus ihren Gedanken. Sie fuhr herum, und sah einen olivfarbenen Jeep mit MP-Zeichen, der querfeldein den Hang zum Gipfel hinaufjagte. Hinauf zur Station!
Johanna rannte los. Militärpolizei, dachte sie. Es war klar, dass sie die Station nicht rechtzeitig erreichen würde. Aber zum Waffenversteck würde sie es schaffen.
In ihrer Brust brannte es wie Feuer und Kiefernzweige peitschten ihr Gesicht, doch Johanna lief so schnell durch den Wald, dass sie bei der getarnten Grube ankam, noch bevor oben auf dem Gipfel die ersten Schüsse fielen. Sie öffnete die mit Blätterwerk bedeckte Klappe des Erdlochs, ergriff ein Sturmgewehr und ein geladenes Magazin. Ihr Blick fiel auf eine Kiste mit Splitterhandgranaten.
Als bei der Station Maschinenpistolen knatterten, war Johanna auf dem Weg. Schweiß biss in ihren Augen, die Schultern schmerzten und sie keuchte vor Anstrengung. Schon hörte sie die Stimmen der Soldaten. Nur noch ein paar Meter ...
Die beiden Militärpolizisten waren hinter ihrem Jeep in Deckung gegangen und schossen in Richtung der Station, wo ein Mann des Widerstands das Feuer erwiderte. Sie bemerkten Johanna nicht, die sich von der Seite genähert hatte.
Die Granate beschrieb einen flachen Bogen, prallte gegen den Kotflügel des Geländewagens und sprang zurück. Johanna sah, wie einer der Soldaten über seine Schulter blickte. Die Wucht der Detonation schleuderte den Jeep in die Luft und riss die beiden Männer in Stücke. Von der Station her wurden noch ein paar Schüsse abgegeben, dann trat Stille ein.


»Wir sind eben ein gutes Team«, sagte Nyborg, gab Johanna die Zigarette zurück und sprang aus dem Bett. Johanna rauchte und beobachtete, wie Nyborg sich ankleidete.
»Sagt das dein Kommandeur?«
Nyborg legte den Gürtel mit seinem Waffenholster an. »Sördal? Der hat andere Sachen im Kopf.«
»Was zum Beispiel?«
»Ich höre nur Gerüchte, aber es heißt, dass sich jetzt mehrere Divisionen dem Widerstand angeschlossen haben. Könnte sein, dass in den nächsten Tagen die Stadt eingenommen wird.«
»Von wem?«
»Von zwei oder drei Bataillonen unseres Regiments.«
»Dafür brauchtet ihr also die Informationen des Widerstands.« Johanna bemerkte, dass ihre Stimme plötzlich schrill klang.
»Informationen?«
»Über die Lage hier in der Stadt.«
»Hey, wir sind im selben Team«, sagte Nyborg und stützte die Hände in die Seite. »Unser Glück ist, dass es seit Jahren überall im Heer brodelt. Die Generäle der anderen Verbände halten sich zurück. Sonst hätten die uns im Handumdrehen plattgemacht.«
»Und wie geht es weiter?«
»Naja, die Armee ist zerstritten, aber Polizei und Geheimdienst sind immer noch regierungstreu, und daran wird sich so schnell nichts ändern. Es läuft wohl auf Kämpfe hinaus.«
»Hm«, machte Johanna und starrte aus dem Fenster in den schmutziggrauen Himmel des anbrechenden Tages. »Du meinst Krieg.«
Nyborg hielt inne. »Hey, Sördal hat mitgekriegt, wie du die Station gerettet hast. War schwer beeindruckt.«
Johanna nickte gedankenverloren.
»Klara hat dich auch gelobt.«
»Stimmt«, sagte Johanna.
Nyborg zog seine Waffe unter dem Kopfteil der Matratze hervor und schob sie in das Holster. »Was ist los mit dir?«
Johanna schüttelte den Kopf, öffnete den Mund, sagte dann aber nichts.
»Wenn es hier zum Kampf kommt, hole ich dich natürlich vorher raus.«
»Schon klar.«
»Ist es wegen der beiden Männer, die du getötet hast? So läuft das im Krieg leider.«
»Ja, aber ...«
»Das waren Soldaten. Keine Zivilisten.«
Johanna sah ihn an. »Und jetzt soll ich mich besser fühlen?«
Nyborg setzte sich zu ihr aufs Bett. In einer zärtlichen Geste hob er die Hand zu ihrem Gesicht, ließ den Arm dann aber sinken. »Ich weiß, das ist nicht einfach. Einen Menschen zu töten, ist schlimm. Auch, wenn es richtig ist.«
Johanna rollte sich zur anderen Seite aus dem Bett und stand auf. Sie lief nackt im Zimmer umher und rauchte.
»Der erste Mann, den ich getötet habe«, sagte Nyborg, »den werde ich wohl nie vergessen. Der war gerade mal achtzehn, eigentlich noch ein ...«
»Du verstehst gar nichts«, sagte Johanna. Sie drückte ihre Zigarette im Ascher aus, der auf dem Nachttisch stand. »Ich ... ich weiß nicht mehr ...«
»Du weißt nicht, was?«
»Ich ... hatte gedacht, es wäre alles klar. Wir sind auf der richtigen Seite und die ...«
»Na, wir sind doch auf der richtigen Seite. Hast du vergessen, wie das bei deinem Verhör ablief?«
»Und was haben wir dann mit Anquist gemacht?«
Nyborg hob die Schultern. »Was meinst du?«
Johanna starrte ihn an. Die Adern an ihrem Hals pochten.
»Sag mal, kriegst du jetzt ernsthaft moralische Bedenken? Du bist eine Widerstandskämpferin, vergiss das nicht.«
Johanna nickte. »Ja«, sagte sie. »Aber da stimmt irgendwas nicht.«


Nestor lächelte. Seine Lippen zitterten ein wenig.
»Habe ich wirklich gewonnen?« Johanna starrte auf das Brett.
»Du machst mich sehr stolz, Johanna.«
Johanna stieß einen Freudenschrei aus und sprang vom Stuhl. Nestor lachte und klatschte in die Hände.
»Sehr gut«, sagte er. »Wirklich, sehr gut.«
»Heißt das, wir reduzieren jetzt die Vorgabe? Versuchen wir es mit acht Steinen?«
Das Spiel besaß eine Regel, die es ermöglichte, verschieden starke Spieler mit ausgeglichenen Siegchancen gegeneinander antreten zu lassen. Diese sogenannte Vorgaberegel besagte, dass dem schwächeren Spieler zu Beginn der Partie Steine auf das Brett gelegt wurden, was einen erheblichen Vorteil darstellte. Johanna und Nestor hatten heute mit neun Vorgabesteinen gespielt.
»Du musst mich drei mal mit neun Steinen Vorgabe besiegen, dann reduzieren wir auf acht.«
»Okay, verstehe.« Johanna setzte sich wieder. Ihr Gesicht war gerötet, sie strahlte und zupfte an ihren Haaren.
»Ein gutes Gefühl, stimmt's? Du kriegst dich ja gar nicht wieder ein.«
Johanna lachte. »Phantastisch. Ein echter Orgasmus.«
»So, so.« Nestor lachte dröhnend. »Was für ein tolles Spiel habe ich dir da beigebracht.«
Als sie das Spielmaterial zusammenräumten, erzählte Johanna von den Gedanken, die sie sich über das Graffiti in der Nähe des Speakeasys gemacht hatte.
Nestor hörte schweigend zu. Schließlich sagte er: »Mag sein, da steckt noch mehr dahinter.«
»Wie meinen Sie das?«
Aber Nestor winkte ab, schüttelte den Kopf und sagte nur: »Spiegel sind merkwürdige Objekte.«
Nachdem Johanna das Speakeasy verlassen hatte, ging sie nicht direkt zum Safehouse, sondern machte einen Umweg, nur um das Graffiti noch einmal zu sehen. Als sie vor der Mauer stand, sah sie, dass jemand eine zweite Zeile hinzugefügt hatte: Schau hinter den Spiegel!
Einen Moment lang war da absolute Leere in Johannas Kopf. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper, und sie rannte los.


»Ich verstehe immer noch nicht, weshalb du mich hierher gebracht hast«, sagte Nestor und schaute hinunter auf die Stadt, die im fahlen Licht des Mondes wie ausgestorben dalag.
»Sie werden es gleich verstehen«, sagte Johanna. Sie wies mit der Hand auf den Horizont im Westen, wo sich ein Schatten über die Ebene ausbreitete. Nestors Blick folgte der Geste, und hinter den Brillengläsern wurden seine Augen schmal.
»Ich wollte Ihnen noch sagen, dass ich aus dem Widerstand aussteige.«
»Du steigst aus?«
»Ja. Ich ...«
Nestor nickte. »Schon gut.«
Irgendwo in der Tiefe des Himmels im Osten setzte ein Summen ein, das stärker und stärker wurde. Als unten in der Stadt die erste Sirene heulte, schwebten die Bomber bereits als Flecken tiefster Schwärze vor der Knochenscheibe des Mondes.
Johanna ergriff Nestors Hand. »Es tut mir sehr leid«, sagte sie, schloss die Augen, und mit geschlossenen Augen sah sie, wie im Westen die Mündungsfeuer schwerer Geschütze aufzuckten. Von Osten her schoben sich immer mehr Bomber aus der Finsternis heran, gegen das Donnern von Artillerie und Flak. Ein paar Sekunden lang lag ein Kreischen in der Luft. Dann brandete eine Flammenwoge gegen die Skyline und verschluckte die Stadt.

 

Hallo Achillus,

Du machst deinem Nick (wieder einmal) alle Ehre. Gewalt: Erscheinungsbild, Auswirkungen auf die Psyche. In diesem Text legst du den Fokus auf die Auswirkung von permanentem Umgang mit Gewalt. Du nennst sie "Degeneration".

Ich habe keine Ahnung, ob du diese Krankheit erfunden hast, oder ob sie tatsächlich in den militärischen Zirkeln ein Rolle spielt. Du beschreibst ein strategisches Brettspiel, mit dem der Krankheit gegengesteuert werden kann. Das Spiel kennt nur schwarz-weiß, das heißt für mich, Freund - Feind - Konstellationen. Woher soll da die Heilung erfolgen? Schließlich lässt du deine Prota Johanna aussteigen.

Ich weiß nicht, ob ich alles verstanden habe. Das Szenario ist für mich abstrakt, etwa wie ein Computerspiel. Gewaltszenen halte ich kaum aus. Interessant finde ich, dass du zwischen den Geschlechtern keine Unterschiede machst, was die Gewaltbereitschaft angeht. Da hat Christa Wolfs "Achill, das Vieh" eine "Penthesilea" an die Seite bekommen. Ist das nun Trend oder hat es nicht schon immer "Flintenweiber" gegeben?

Jedenfalls finde ich deine Geschichte souverän geschrieben und spannend aufgebaut.. Du wirst mir verzeihen, wenn ich sie nicht unbedingt zu meinen Lieblingen zähle ;)

Freundliche Grüße
wieselmaus

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Achillus,
harter, spannender Stoff. In gewohnt brillianter Qualität.

Hat ein bisschen gebraucht, die Geschichte zu lesen, aber es zieht sich überhaupt nicht, weil es halt sehr aufregend und immer aus der Sicht Johannas ist, die einem als Leserin einfach angenehm ist. Schon gleich von Beginn an, als sie noch nicht das Spiel der Spiele spielte.
Was gefiel mir an der Geschichte so gut?
Es ist zum einen natürlich die Figur der Johanna, ihr Wandlungen, dann aber auch die Übereinstimmungen oder Analogien zwischen Strategiespiel und tatsächlichem Geschehen. Und das Ende - das kam für mich trotzdem unerwartet. Und das fand ich sehr toll geschrieben.

Ich hab an einigen Stellen aber auch gebraucht, zu kapieren, warum und wozu bestimmte Sequenzen geschrieben sind, oder so lang ausfallen, und manchmal hab ich mich auch schwer getan damit, die Zusammenhänge für mich rauszuklamüsern. Ich bin heut extrem müde und fertig, da kann es sein, es liegt einfach nur an mir, vielleicht bin ich auch von der Degeneration (halt von einer anderen Sorte) betroffen. :) Ich zähl die Stellen trotzdem mal auf, vielleicht kommt ja noch jemand und rafft es nicht, dann hast du für dich einen Hinweis. Und ansonsten schiebst du die Verwirrtheit einfach auf mich.

Was ich noch sagen wollte. Irgendwie mag ich das an deinen Geschichten, dass mir immer wieder bestimmte Elemente auftauchen. Die taffe Frau, der weise Lehrer, der manchmal (in anderen deiner Geschichten) auch ein ganz schön harter Knochen sein konnte. Das humanistisch-philosophische Gedankengut, okay, bei dir ist es immer eine östliche Weisheit, aber gemeinsam ist den beiden wohl mehr, als man auf den ersten Blick glauben mag. Das sind Elemente, die ich einfach selbst immer gerne lesen mag. Und sie haben natürlich einen hohen Wiedererkennungswert zusammen mit deiner klaren, prägnanten Sprache und deinen Kenntnissen in Waffentechnik oder militärischen Operationen. Das liest sich einfach sehr versiert. Wie ein richtiger Thriller eben.

So - jetzt aber mal Durchgang durch die Geschichte - selbstverständlich ohne jeglichen Kleinkram, das wär einfach zu viel.

»Ich habe es selbst erst vor ein paar Stunden erfahren. Die Regierung führt einen grundlegenden Strategiewechsel durch. Das betrifft alle möglichen Bereiche. Beim Stab geht's gerade chaotisch zu.«
Johanna nickte, obwohl sie nicht begriff, wovon Sundland redete. Der Führungsstab war für die einfachen Kämpfer eher ein Mythos als ein reguläres Kommando. Kaum jemand hatte eine Vorstellung davon, wie der Stab arbeitete oder auf welchem Wege seine Entscheidungen zustande kamen.
Hier habe ich nicht verstanden, von welchem Stab hier gesprochen wird. Der Führungsstab der Regierung? Oder der des Widerstandes. Könnte aus dem Text heraus beides sein.


»Okay«, sagte Johanna. »Mal ganz davon abgesehen, dass ich die Geschichte für Blödsinn halte, bin ich bestimmt nicht die Richtige für diesen ... Auftrag. Soll ich das Spiel bei diesem Meister lernen? Ja? Ist das etwa der Plan? Da kann ich nur lachen, Klara.«
Zwei Sachen an dieser Stelle: Wenn das wirklich ein so schwieriges Spiel ist, müsste Joh. schon mehr aufzuweisen haben als nur gute Titten. Das ist nur eine Voraussetzung. Okay, dass sie selbst über sich sagt, sie wäre nicht so schlau, das kann man als sympathisches understatement deuten. Dass sie also klüger ist als sie selbst weiß. Und auch die hervorragenden Reflexe, auf die die andere Frau sie ja quasi testet, indem sie ihr das Feuerzeug zuschmeißt. Trotzdem an dieser Stelle hätte ich gerne einen weiteren kleinen Hinweis gehabt, warum J. sich dafür so hervorragend eignet.
Der Hintergrund ist der, dass ich es ehrlich gesagt eine ziemlich alberne Idee finde, mit dem Spiel den geistigen Verfall eines ganzen Widerstandsheeres aufzuhalten. Wenn das ein probates Mittel sein sollte, dann müsste entweder J., sobald sie angefangen hat mit dem Lernen ganz viele Widerstandgruppen unterrichten, wenigstens schon mal, was die Anfänge betrifft, oder es ist so gemeint, dass eine bestimmte Person wenigstens das Spiel lernen soll, um fit zu bleiben in der Birne, gute Entscheidungen treffen zu können, dann wäre das aber eine Führungspersönlichkeit und als solche wird J. hier nicht eingeführt und auch später eben nicht.
Deine Geschichte entwickelt sich ja anders weiter, als dass das Spiel ein Kampf gegen das Vergessen ist, du baust die Verhältnisse komplexer und J. macht eine andere Entwicklung durch als avisiert. Dennoch funktioniert für mich hier die Ausgangssituation nicht so ganz. Ach Mensch, ich hoffe, ich hab das verständlich rübergebracht. Frag einfach noch mal, wenn du mein Geschreibsel hier grad nicht so richtig nachvollziehen kannst.
Jedenfalls wirkt die Idee an dieser Stelle für mich nicht wirklich ausgereift: Funktion Johannas im Widerstand und Rolle des Spiels als "Medikament" gegen die Degeneration. Was mich noch interessiert. Wie ist das mit der Degeneration. Sind nur Leute davon betroffen, die sich in Gegnerschaft befinden? Man erfährt, dass der Widerstand betroffen ist, später ist zu lesen, auch das Militär sei betroffen. Ist das ein Virus, dass alle Menschen befällt? Oder nur die, die eben Gewalt ausüben?
Das wär ja mal ein Mittel.

Das Leben, in dem Johanna mehr als zwei Kleider im Schrank zu hängen hatte, war lange vorbei. An diesem Abend fiel es ihr deshalb nicht schwer, eine Auswahl zu treffen, die zur bevorstehenden Mission passte - ein nachtblaues Kleid, so enggeschnitten, dass sie nicht wusste, wie sie darunter eine Waffe verstecken sollte.
Na also. Die ist im Widerstand, hat keine Klamotten mehr, dann aber ausgerechnet dieses Schätzchen von Kleid im Schrank hängen? Sehr glaubhaft. :D
Anbei: eng geschnitten würd ich schreiben
Anbei. im Schrank zu hängen hatte - vielleicht kann man das so machen, aber es ist eine ungewöhnliche Konstruktion. ich glaub, ich würd das zu streichen.


Johanna saß am Küchentisch und hielt ihre Kaffeetasse in der Hand, als die Wohnungstür mit einem Krachen aufsprang und eine Einheit der Staatspolizei hereinstürmte.
Ich kann mir das nicht vorstellen, dass man das so wahrnimmt: eine Einheit der Staatspolizei. Gut, ich würd das wohl eher als eine Horde Bewaffneter wahrnehmen, nicht als die militärische Bezeichnung "Einheit". Aber gut, ich bin ja auch nicht im Widerstand.
Ein etwas größeres Problem hatte ich damit, dass in der Szene danach, in der Verhörszene ich ein bisschen Schweirigkeiten damit hatte, wieso die jetzt hops genommen worden ist. Sie soll Informationen über ihre Chefin rausgeben. Ich hatte halt ein bisschen das Problem, dass ich beim Lesen diese Verhaftungssituation viel zu sehr geistig mit der vorherigen Szene verknüpft habe, also hab ich ganz fest erwartet, die verhaften sie jetzt wegen des Spiels. Und dann nix. Da war ich mal kurz draußen aus dem Geschichtesverlauf und hab gebraucht, wieder reinzufinden.
Die Folterszene danach ist erschreckend gut geschreiben. Toll. Aber manchmal mag man gar nicht weiterlesen. Ulkig, bei Horror ginge mir das ganz anders. Aber es liegt wohl auch dran, dass solche eine Szene, wie du sie hier sehr beschreibst eben auch in der Wirklichkeit vorkommt.


Noch immer sickerte Blut aus ihrem Mund, und hinter den Augen pulsierte ein Schmerz, der sie beinahe zurücksinken ließ, doch schließlich kam sie auf DIE Füße,

Was ich sehr sehr geil fand, das war dann nach der Szene, wie sie da nur in Jeans und Pulli zu dem Nestor tritt. Ohne Verführungsfinessen, einfach so, und man nimmt ihm ab, dass in dieser Frau gerade eine Veränderung passiert ist, und er sie auch wahrnimmt. Überhaupt die Spielszenen mochte ich sehr. Ich persönlich hasse ja Strategiespiele, weil ich mir nix merken und vorausplanen kann, aber ich fand die Szenen geil, wie gesagt, auch weil das Spiel so ein merkwürdiges friedliches Abbild der realen Geschichtengeschehnisse ist.

»Ich will bei der Sache mit dem Jägerbataillon dabei sein.«
Sundland setzte sich Johanna gegenüber und betrachtete sie mit leicht gehobenen Augenbrauen.
»Ich bin nicht sicher, ob du schon so weit bist«, sagte sie dann. »Das Projekt ist heikel.«
Johanna nickte. »Darauf wette ich. Aber denke daran, was ich für dich getan habe.«
»Du meinst, ich schulde dir was?«
»Und ob, Klara.«
Warum will sie das. Wurde mir an dieser Stelle nicht klar. Rache? Solidarität mit den Gefangenen und den eigenen Leuten? Was treibt sie da genau an, sich in diese gefährliche Situation zu begeben? Oder war sie schon immer so und ich als Leserin habe das nicht gemerkt? Oder vielleicht auch vom Autor nicht gezeigt bekommen? :D
Insgesamt ist das eine spannende Szene gewesen. Aber als Funktionselement für die Geschichte ist mir die Länge nicht klar. Auch die Funktion nicht so wirklich.

Johanna scharrte mit dem Fuß in der Erde. »Kannst du deinen Kommandeur nicht bitten, uns einen anderen Auftrag zu geben? Ich würde gern eine dieser verfluchten Verhörzentralen in die Luft sprengen.«
Nyborg lächelte. »So läuft das nicht beim Militär. Befehl ist Befehl.«
»Hm.«
Also doch Rache?


Was ich dann immer wieder mal fantastisch finde, ist das Spiel auf der einen Seite und was Nestor darüber sagt, dass es immer eine Ebene darunter gibt, und das, was mit Johanna selbst passierts und auch das, was sich in diesem Krieg, in dem viele die Seiten wechseln und auch nichts so ist, wie es scheint, das mochte ich sehr. Ist so schön weise. :)

Aber als mich dieser Typ verhört hat, wurde mir klar, dass wir gar nichts anderes tun können, weil die uns vernichten wollen, Nestor. Das ganze System ist ein einziger Vernichtungsapparat.«
OkaY, hier ist Johannas Motiv. Aber naja für meinen Geschmack kommt das bissel spät. Ich kann mir vorstellen, dass das in deiner Vorstellung einer von Johannas Entwicklungsschritten ist, also dass sie erst an dieser Stelle, die ja direkt vor der Szene mit Anquists Tod kommt, ihr eigenes Motiv nach dem Verhör überhaupt so formulieren kann. Dass sie vorher eher getrieben und unbewusst reagiert. Trotzdem, das Fragezeichen, warum sie bei dem Einsatz dabei sein will, war mir einfach ein bisschen zu groß. Ein Miniturhinweis hätte mir wahrscheinlich genügt, um konstruktiv zu stutzen und nicht so, wie es mir jetzt passiert ist, da bin ich halt blöd gestolpert.

»Ich höre nur Gerüchte, aber es heißt, dass sich jetzt mehrere Divisionen dem Widerstand angeschlossen haben. Könnte sein, dass in den nächsten Tagen die Stadt eingenommen wird.«
Das betrifft jetzt gar nicht unbedingt diese Stelle hier, sondern schon lang vorher, als ich las, dass Nyborg sich mit seinen Leuten dem Widerstand angeschlossen hat. Ich hab mich gefragt, warum. Die Regierung schien ja alles in der Tasche zu haben. Wieso ist das Militär dann unzufrieden? Für Nyborg muss es doch einen Grund gegeben haben. Dass es dann später im Militär brodelt, wenn der Widerstand wächst (also hier jetzt an dieser Stelle) da finde ich das klar, wie das Militär kalkuiert. Aber vorher halt, beim Nyborg verstehe ich sein Beweggründe nicht.


Das Ende. Hmm, ja, Das ist fulminant geschrieben. Auf jeden Fall. Aber weder habe ich es so wirklich verstanden. Noch die Funktion des Graffiitos "kapiert".

Ich fang mal mit letzterem an. Natürlich habe ich Sinn und Grund der Wandaufschrift kapiert, auch die Funktion in der Geschichte als Symbol für die Wandlung Johannas, aber mir erschien das trotzdem künstlich, kein essentieller Bestandteil der Geschichte, sondern halt eher themenbedingt durch die Challenge.
Vielleicht kapiere ich es aber auch nicht und es steckt mehr dahinter als Johannas Erkenntnis, dass die Gegnerschaft zwischen Widerstand und Regierung zu einem vernichtenden Krieg führt. Der Widerstand also, ihre eigenen ursprünglichen Motive missbraucht worden sind und sich eskaliert haben zu einem Vernichtungswillen, also zwischen den beiden Seiten des Tötens gar kein Unterschied mehr besteht. So verstehe ich den Schluss. Aber irgendwie hab ich die ganze Zeit das Gefühl, mir ist was entgangen. Ich weiß nicht, ist ganz komisch.

Naja, das waren meine Gedanken zu deiner Geschichte. Ziemlich ins Unreine, aber du weißt ja, dir antworte ich gerne, wenn ich mich zu pieselig ausgedrückt hab.

ich wünsch dir was, lieber Achillus und bin immer noch voller Hochachtung vor dieser langen und ausgefeilten und durchkomponierten Geschichte. Dunnerlittchen.
Novak

 
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Lieber Achillus,

wirklich beeindruckend, mit welcher Professionalität du schreibst. Da sitzt wirklich jeder Satz und ich kann nur meine Hochachtung für deinen Schreibstil ausdrücken.

Du kannst dir sicher denken, dass das Geschehen nicht mein Ding ist. Das ist nicht meine Welt und auch nicht mein Genre. Deshalb habe ich mein Augenmerk auf Johanna und Nestor gerichtet. Ich fand diese Geschichte in der Geschichte (für mich) interessanter.

Deine Grundidee, dass sich durch die Aktivierung von Neuronen Prozesse in unserem Gehirn verändern lassen, finde ich sehr interessant. Inwieweit die Wissenschaft das unterstützen kann, vermag ich nicht zu beurteilen. Allerdings finde ich, dass dieser Aspekt im weiteren Verlauf der Geschichte in den Hintergrund tritt. Ich erfahre von einer Persönlichkeitsveränderung Johannas, aber nichts mehr – wenn ich denn richtig gelesen habe – davon, ob die Degeneration durch das Erlernen des Spiels gestoppt werden kann.
Viel wichtiger ist ja wohl auch, wie die Begegnung mit Nestor und das Spiel Johanna in ihrer Persönlichkeitsstruktur und ihrem Denken verändern.

Am Ende steht da eine Johanna, die sich vom Widerstand abwendet und aussteigt. Sie hat eine andere Sichtweise bekommen, sieht nun, dass auch ihr Tun sich nicht so sehr von dem der Gegner unterscheidet.
Wenn man darüber nachdenkt, stellt sich natürlich sofort die Frage nach der Ethik des Handelns: Lässt sich brutales Verhalten dadurch rechtfertigen, dass es für die gerechte Sache eingesetzt wird? Darauf beziehst du dich, wenn du Johanna sagen lässt:

»Ich ... hatte gedacht, es wäre alles klar. Wir sind auf der richtigen Seite und die ...«
»Na, wir sind doch auf der richtigen Seite. Hast du vergessen, wie das bei deinem Verhör ablief?«
»Und was haben wir dann mit Anquist gemacht?«

Die Antwort auf die Frage nach der ethischen Bewertung überlässt du dem Leser. Das gefällt mir.

Ungeordnet noch ein paar andere Bemerkungen:

Allem Anschein nach hatte der Mann seine besten Jahre hinter sich, aber ob er auf die Sechzig oder gar auf die Siebzig zuging, ließ sich unmöglich mit Bestimmtheit sagen. Trotz der Strenge, die in Nestors Zügen lag, gab es da etwas, das diesem Eindruck von Härte und Unnahbarkeit zu widersprechen schien; eine kaum wahrnehmbare Bewegung seiner Mundwinkel vielleicht, so als könnte er jeden Moment in dröhnendes Gelächter ausbrechen. Und plötzlich wünschte Johanna, ohne dafür den Grund zu wissen, das Lachen dieses Mannes zu hören.

Diesen Nestor kann ich mir gut vorstellen und er ist mir sofort sympathisch.

Nestor entnahm den Dosen ein paar schwarze und weiße Steine und legte sie auf das Brett. »Das sind die Raben und die Tauben«, sagte er. »Sie symbolisieren Schatten und Licht. Diese Kräfte befinden sich in ständigem Konflikt, in ständigem Kampf.«

»Du kannst deinen Gegner nicht ignorieren und so tun, als ob dir das ganze Brett gehören würde. Bist du zu gierig, hältst du am Ende nichts in den Händen.«

Das gefällt mir auch: das alte Yin und Yang-Bild der Kräfte die sich einerseits bekämpfen, gleichzeitig aufeinander bezogen und voneinander abhängig sind.

Ein paar Stellen haben mich nicht so überzeugt:

Nestor schaute auf das Spielbrett. »Hinter dem Offensichtlichen gibt es stets das Verborgene, Johanna. Wenn du dich nach dem Offensichtlichen richtest und das Verborgene außer acht lässt, kommst du zu fragwürdigen Entscheidungen.«

Das erscheint auf dem ersten Blick kryptisch wie eine tiefe Weisheit, auf dem zweiten ist es aber doch eher eine triviale Wahrheit.

»Ich habe nicht behauptet, dass das falsch ist. Aber es ist nur ein Teil des Ganzen. Und du musst lernen, das Ganze zu sehen.«
So aus dem Zusammenhang gerissen, ist das natürlich auch eine Binsenweisheit, die mMn immer ihre Berechtigung hat. (Klingt jetzt härter, als es gemeint ist.)

Auch mit den beiden Spiegel-Aufforderungen tue ich mich schwer. Das In-den-Spiegel-schauen als Schritt zur Selbsterkenntnis ist natürlich eine bekannte Metapher, aber was erkenne ich, wenn ich hinter den Spiegel schaue? Es teilt sich mir leider nicht mit, was damit gemeint sein könnte. Wenn ich hinter eine Fassade schaue, sehe ich das Eigentliche, aber was sehe ich, wenn ich hinter einen Spiegel schaue?

Mit dem Schluss hatte ich dann noch ein Verständnisproblem:

Johanna ergriff Nestors Hand. »Es tut mir sehr leid«, sagte sie, schloss die Augen, und mit geschlossen Augen sah sie, wie im Westen die Mündungsfeuer schwerer Geschütze aufzuckten.

Was tut ihr leid? Möglicherweise ist mir da etwas entgangen.

Lieber Achillus, leider kann ich deine Geschichte nicht so würdigen, wie sie es sicher verdient hat, weil ich mit dem Genre nicht so viel anfangen kann. Was ich mitbekommen habe ist, dass dir da eine sehr gut durchdachte, detailreiche und interessante Geschichte gelungen ist, in die du viele Ideen und Gedanken eingebracht hast, von der sprachlichen Brillanz des Textes ganz zu schweigen.

Wie oben schon gesagt: sehr beeindruckend.

Liebe Grüße
barnhelm

 
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Hallo Wieselmaus,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich hätte nicht gedacht, dass zu der langen Geschichte so schnell Feedback kommt. Das freut mich sehr.

Meine Hoffnung war, den Text so zu schreiben, dass man ihn auf verschiedene Weise lesen kann. Und ich finde, die Art, wie Du ihn liest, ist völlig gerechtfertigt. Kann so ein Schwarz-Weiß-Spiel irgendwie die Komplexität der Welt widerspiegeln? Deine Zweifel kann ich verstehen, denn das läuft doch auf Feind-Freund, Böse-Gut Konstellationen hinaus, wie Du sagst. Trotzdem sehe ich es etwas anders. Vielleicht so: Auf den ersten Blick gibt es da nur Schwarz und Weiß, Sieg und Niederlage, Angriff und Verteidigung. Das ist sozusagen die Matrix des Spiels. Aber Nestor betont ja auch die Notwendigkeit, hinter die Oberfläche zu schauen. So reime ich mir das zusammen.

Deine Assoziation mit Computerspielen finde ich überraschend und gut beobachtet. Das mag sicher ein Einfluss beim Schreiben gewesen sein. Und was das Thema Gewalt betrifft, das ist sicher auch ein Kernpunkt der Geschichte. Ich denke seit Ewigkeiten über die Frage nach, ob Gewalt ein natürlicher Bestandteil des Lebens ist, und eben einfach dazugehört, wenn man als Individuum oder Spezies nicht untergehen will oder ob sie eine Konsequenz der Bewusstseinslage darstellt. So ein bisschen habe ich mich dazu eben auch in dieser Geschichte ausgetobt. Wieselmaus, vielen Dank fürs Lesen und Deine Rückmeldung.

Gruß Achillus

Hey Novak, schön, dass Du geschrieben hast. Es freut mich sehr, dass Dir der Text gefällt. Deine Fragen finde ich berechtigt. Mal sehen, inwieweit das von anderen Lesern auch so empfunden wird, dann muss ich gegebenenfalls nachbessern.

Ich hab an einigen Stellen aber auch gebraucht, zu kapieren, warum und wozu bestimmte Sequenzen geschrieben sind ...

Das würde mir beim Lesen sicher auch so gehen. Während des Schreibens fand ich es schwierig, die Dinge einerseits in einen Zusammenhang zu stellen, das Ganze andererseits nicht zu offensichtlich und zu einseitig werden zu lassen. In der jetzigen Form hoffe ich darauf, dass man den Text je nach Sichtweise und persönlicher Präferenz verschieden lesen kann.

Was ich noch sagen wollte. Irgendwie mag ich das an deinen Geschichten, dass mir immer wieder bestimmte Elemente auftauchen.

Was soll ich da sagen, Novak – man kann eben nicht aus seiner Haut :) Freut mich aber, dass Du das magst.

Hier habe ich nicht verstanden, von welchem Stab hier gesprochen wird. Der Führungsstab der Regierung? Oder der des Widerstandes. Könnte aus dem Text heraus beides sein.

Guter Punkt. Ich hatte den Begriff Stab eigentlich bisher nur mit militärischen Kommandos in Verbindung gebracht. Es war im Text die Führung des Widerstands gemeint. Aber Du hast recht, auch Politiker haben ihren Stab. Mal gucken, ob ich das noch klarer mache.

Trotzdem an dieser Stelle hätte ich gerne einen weiteren kleinen Hinweis gehabt, warum J. sich dafür so hervorragend eignet ... Wenn das wirklich ein so schwieriges Spiel ist, müsste Joh. schon mehr aufzuweisen haben als nur gute Titten.

Hm, war wohl chauvinistisch gedacht, von mir. Argh. Ich bin einfach davon ausgegangen, dass Nestor die superklugen Anwärter des Widerstands abgelehnt hat, und der Widerstand nun auf Sex setzt und dabei natürlich auch jemanden wählt, der etwas im Kopf hat. Hängt auch ein bisschen mit meiner Vorstellung von dem Spiel zusammen. Dass ein Spiel sehr komplex ist, bedeutet nicht zwangsläufig, dass man sehr klug sein muss, um es gut zu spielen. Denn Klugheit ist im Grunde eine Begriffsblase. Wer die Art von Klugheit besitzt, die man für das Spiel braucht, lässt sich nicht von vornherein sagen.

Aber Deinen Einwand verstehe ich gut. Oft ist es ja auch ein Element einer Quest-Geschichte, den Anwärter vor der Mission zu prüfen. Lass ich mir durch den Kopf gehen.

Der Hintergrund ist der, dass ich es ehrlich gesagt eine ziemlich alberne Idee finde, mit dem Spiel den geistigen Verfall eines ganzen Widerstandsheeres aufzuhalten.

Ja, das ist nicht von der Hand zu weisen. Das klingt ein wenig schräg. Die Idee kam mir, als ich von japanischen Forschungen gelesen habe, mithilfe eines Brettspiels Anfänge von Demenz zu bekämpfen.

Wenn das ein probates Mittel sein sollte, dann müsste entweder J., sobald sie angefangen hat mit dem Lernen ganz viele Widerstandgruppen unterrichten, wenigstens schon mal, was die Anfänge betrifft, oder es ist so gemeint, dass eine bestimmte Person wenigstens das Spiel lernen soll, um fit zu bleiben in der Birne, gute Entscheidungen treffen zu können, dann wäre das aber eine Führungspersönlichkeit und als solche wird J. hier nicht eingeführt und auch später eben nicht.

Ich hatte es mir in der Tat so vorgestellt, dass Joh. die Grundzüge des Spiels lernen soll, um dann andere zu unterrichten. Im Altertum wurde das in Militärakademien gemacht, um den Offizieren die Grundlagen strategischen Denkens zu vermitteln. Dazu wäre dann aber eben jemand nötig, der nicht nur die Regeln kennt, sondern auch die Strategien des Spiels. Deshalb war Nestor nötig, und weil der den Widerstand nicht direkt unterrichten würde, sollte Joh. als Multiplikator dienen. Ist das zu weit hergeholt? Hm.

Was mich noch interessiert. Wie ist das mit der Degeneration.

Ja, die Degeneration kann man auf verschiedene Weise lesen, denke und hoffe ich. Eingeführt wird sie erst mal als physiologische Tatsache. Aber beim Schreiben gingen mir auch andere Sachen durch den Kopf. Ich möchte das erst mal offen lassen und sehen, was andere Leser dazu denken.

Na also. Die ist im Widerstand, hat keine Klamotten mehr, dann aber ausgerechnet dieses Schätzchen von Kleid im Schrank hängen? Sehr glaubhaft.

Ups. Da gingen wohl die Hormone mit mir durch, haha. Werde ich ändern.

Anbei. im Schrank zu hängen hatte - vielleicht kann man das so machen, aber es ist eine ungewöhnliche Konstruktion. ich glaub, ich würd das zu streichen.

Stimmt. Mache ich. Danke.

Ich kann mir das nicht vorstellen, dass man das so wahrnimmt: eine Einheit der Staatspolizei. Gut, ich würd das wohl eher als eine Horde Bewaffneter wahrnehmen, nicht als die militärische Bezeichnung "Einheit". Aber gut, ich bin ja auch nicht im Widerstand.

Mir war schon wichtig, dass das kein anarchistischer Haufen, keine Bande ist, sondern dass hier staatliche Gewalt wirkt.

Ein etwas größeres Problem hatte ich damit, dass in der Szene danach, in der Verhörszene ich ein bisschen Schweirigkeiten damit hatte, wieso die jetzt hops genommen worden ist. Sie soll Informationen über ihre Chefin rausgeben. Ich hatte halt ein bisschen das Problem, dass ich beim Lesen diese Verhaftungssituation viel zu sehr geistig mit der vorherigen Szene verknüpft habe, also hab ich ganz fest erwartet, die verhaften sie jetzt wegen des Spiels. Und dann nix. Da war ich mal kurz draußen aus dem Geschichtesverlauf und hab gebraucht, wieder reinzufinden.

Guter Hinweis. Vielleicht habe ich den Leser da auf die falsche Fährte geschickt. Das Verhör war als Konsequenz dessen gedacht, dass Joh. schon länger im Fokus der Regierung steht. Aber nicht im Zusammenhang mit dem Spiel oder Nestor, sondern aufgrund ihres Kontakts zu Sundland, die wiederum aus anderen Gründen gesucht wird. Mal sehen, ob andere Rückmeldungen dazu kommen, die das merkwürdig finden.

Die Folterszene danach ist erschreckend gut geschrieben. Toll. Aber manchmal mag man gar nicht weiterlesen. Ulkig, bei Horror ginge mir das ganz anders. Aber es liegt wohl auch dran, dass solche eine Szene, wie du sie hier sehr beschreibst eben auch in der Wirklichkeit vorkommt.

Ich habe mich in der Recherche ein bisschen mit chinesischen Foltermethoden befasst. Amnesty International (glaub ich) hat eine Liste der gebräuchlichsten Methoden rausgebracht, die in staatlichen Gefängnissen angewendet werden. Außerdem hatte ich noch ein paar Szenen von 1984 im Kopf, wie Ronnie ja auch bemerkt hat.

Wenn man sich mit Folter befasst, frappiert, welches Vergnügen Menschen am Quälen finden. Ich finde das faszinierend, weil ich bisher keine so richtig überzeugende Begründung dafür kenne. Selbsterhöhung durch Unterwerfung spielt da sicher eine Rolle, aber auch sexuelle Aspekte sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Das wurde mir auch bei den Recherchen klar: Viele Foltermethoden haben einen sexuellen Kontext.

Was ich sehr sehr geil fand, das war dann nach der Szene, wie sie da nur in Jeans und Pulli zu dem Nestor tritt. Ohne Verführungsfinessen, einfach so, und man nimmt ihm ab, dass in dieser Frau gerade eine Veränderung passiert ist, und er sie auch wahrnimmt.

Ja, das war die Hoffnung beim Schreiben. Ich hatte auch gedacht, dass dem Leser klar wird, warum Joh. nun unbedingt kämpfen will, aber das fandest Du ja nicht so überzeugend. Mal sehen, was ich da noch mache.

Überhaupt die Spielszenen mochte ich sehr. Ich persönlich hasse ja Strategiespiele, weil ich mir nix merken und vorausplanen kann, aber ich fand die Szenen geil, wie gesagt, auch weil das Spiel so ein merkwürdiges friedliches Abbild der realen Geschichtengeschehnisse ist.

Eine Grundthese der Geschichte ist ja, dass sich in den Spielszenen irgendwie die realen Verhältnisse abbilden. Ich war mir nicht ganz sicher, ob das so ankommt. Freut mich, dass das für Dich so funktioniert.

Warum will sie das. Wurde mir an dieser Stelle nicht klar. Rache? Solidarität mit den Gefangenen und den eigenen Leuten? Was treibt sie da genau an, sich in diese gefährliche Situation zu begeben?

Ich hatte es so gedacht, dass die Verhörszene dafür das Motiv bildet, aber vielleicht muss ich das noch mehr betonen.

OkaY, hier ist Johannas Motiv. Aber naja für meinen Geschmack kommt das bissel spät.

Da hast Du vielleicht recht. Werde ich drüber nachdenken.

Das betrifft jetzt gar nicht unbedingt diese Stelle hier, sondern schon lang vorher, als ich las, dass Nyborg sich mit seinen Leuten dem Widerstand angeschlossen hat. Ich hab mich gefragt, warum.

Das war ein bisschen um die Ecke gedacht von mir. Das Militär ist immer eine kritische Komponente bei Regierungsumstürzen. Oft gibt es in militärischen Kreisen eine bestimmte Denkart, die nicht unbedingt mit der Regierungsdenkart übereinstimmen muss. (Beispiel Türkei) Ich habe es hier nicht genauer beleuchtet, aber mir vorgestellt, dass es einen Konflikt zwischen der Regierung und dem Militär gibt, der dazu führt, dass Teile des Heeres gemeinsame Sache mit dem Widerstand machen. Dafür gibt es ja historische Beispiele. Vielleicht sollte ich das etwas verdeutlichen, erklären, warum.

Ich fang mal mit letzterem an. Natürlich habe ich Sinn und Grund der Wandaufschrift kapiert, auch die Funktion in der Geschichte als Symbol für die Wandlung Johannas, aber mir erschien das trotzdem künstlich, kein essentieller Bestandteil der Geschichte, sondern halt eher themenbedingt durch die Challenge.

Die Wandaufschrift gab mir einen äußeren Auslöser, der Johannas Sichtweise ins Kippen bringt. Du hast völlig recht. Der Prozess hätte auch ohne diesen Auslöser Sinn gemacht. Aber ich wollte, dass sie etwas sieht und schlagartig begreift.

(Ein Bezug, der allerdings völlig unwichtig ist, hängt mit dem Plattform-Sutra von Huineng zusammen. Dort spielen zwei Gedichte eine Rolle, die nachts heimlich an Klosterwände geschrieben werden und die thematisch um einen Spiegel kreisen.)

Vielleicht kapiere ich es aber auch nicht und es steckt mehr dahinter als Johannas Erkenntnis, dass die Gegnerschaft zwischen Widerstand und Regierung zu einem vernichtenden Krieg führt.

Der Blick hinter den Spiegel war als eine Metapher gedacht, die das Ganze noch einmal auf eine neue Ebene hebt. Aber vielleicht ist das alles zu kryptisch. Mal sehen, was die anderen dazu sagen.

Novak, vielen Dank fürs Lesen und Deine vielen hilfreichen Hinweise.

Gruß Achillus

Hey Ronnie,

vielen Dank für Dein Feedback. Freut mich ja sehr, dass Du die lange Geschichte nachts noch gelesen hast.

Deine Assoziationen zu Hesse und Orwell sind voll berechtigt. Ich habe beide Bücher gelesen, wenn auch vor längerer Zeit. Und die beiden Bücher waren auch Einflüsse beim Schreiben dieser Geschichte.

Johannas Entscheidung, mit dem Widerstand zu brechen, kann man verschieden lesen, denke ich. Aber das Spiel hat sicher dazu beigetragen. Mein Problem beim Schreiben war, dass ich allzu eindeutige Aussagen, die sich aus dem Spiel ableiten vermeiden wollte, denn ich wollte nicht, dass es so aussieht, als würde das Spielen bei jedem Menschen zu einer einheitlichen Sicht der Welt führen.

Und Du hast völlig recht, aus dem Widerstand auszusteigen ist ebenfalls eine moralisch fragwürdige Entscheidung. Ist das nicht das Gleiche wie Wegsehen? Ich bin mir dieses Zwiespalts bewusst, wollte aber, dass der Leser das mit sich selbst ausmacht. Ich denke, es wird Leser geben, die das kritisieren, weil im Widerstand gegen eine Diktatur zu sein ja im Grunde eine humanistische Pflicht darstellt. Bin gespannt, wie andere Leser das sehen.

Ronnie, vielen Dank für Deinen Kommentar.

Gruß Achillus

Hallo Barnhelm,

schön, dass Du die Geschichte gelesen und kommentiert hast. Vielen Dank dafür und für Dein Lob des Schreibstils.

Du kannst dir sicher denken, dass das Geschehen nicht mein Ding ist. Das ist nicht meine Welt und auch nicht mein Genre. Deshalb habe ich mein Augenmerk auf Johanna und Nestor gerichtet. Ich fand diese Geschichte in der Geschichte (für mich) interessanter.

Ja, das verstehe ich. In der Tat wirken Nestor und Johanna ein bisschen wie eine Geschichte in der Geschichte. Das war so eigentlich nicht geplant, aber jetzt bin ich ganz zufrieden damit.

Deine Grundidee, dass sich durch die Aktivierung von Neuronen Prozesse in unserem Gehirn verändern lassen, finde ich sehr interessant. Inwieweit die Wissenschaft das unterstützen kann, vermag ich nicht zu beurteilen.

Soweit ich es verstanden habe – denn dazu gibt es tatsächlich Forschungen – ist der springende Punkt weniger die Komplexität eines Spiels oder eines sonstigen Gehirntrainings, sondern die Systematik und Regelmäßigkeit, mit der das Gehirn beübt wird. Tatsächlich schützt solch ein Training bis zu einem gewissen Grad vor Demenz. So wie Muskeltraining vor Atrophie schützt.

Ich habe zum übergeordneten Thema ein phantastisches Buch von Gerald Hüther gelesen: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Sehr spannend und aufschlussreich.

Viel wichtiger ist ja wohl auch, wie die Begegnung mit Nestor und das Spiel Johanna in ihrer Persönlichkeitsstruktur und ihrem Denken verändern.

Ja, das sehe ich auch so.

Wenn man darüber nachdenkt, stellt sich natürlich sofort die Frage nach der Ethik des Handelns: Lässt sich brutales Verhalten dadurch rechtfertigen, dass es für die gerechte Sache eingesetzt wird?

Das ist wirklich ein Dilemma in diesem Text. Gegen einen repressiven Apparat kämpfen, heißt Gewalt anwenden. Doch was bedeutet das wiederum aus ethischer Sicht. Schwierige Frage und nicht eindeutig zu beantworten, glaube ich.

Das gefällt mir auch: das alte Yin und Yang-Bild der Kräfte die sich einerseits bekämpfen, gleichzeitig aufeinander bezogen und voneinander abhängig sind.

Ja, diese Assoziation liegt sehr nahe. Die gegenseitige Durchdringung und Abhängigkeit ist etwas, über das man stundenlang nachdenken kann, denn heißt das nicht auch, irgendwie auf der selben Ebene mit seinem Gegner zu stehen?

Das erscheint auf dem ersten Blick kryptisch wie eine tiefe Weisheit, auf dem zweiten ist es aber doch eher eine triviale Wahrheit.

Das Verborgene und das Offensichtliche waren als Kontext für das ganze Dilemma der Gewaltfrage gedacht. Siehe Spiegelanalogie.

Auch mit den beiden Spiegel-Aufforderungen tue ich mich schwer. Das In-den-Spiegel-schauen als Schritt zur Selbsterkenntnis ist natürlich eine bekannte Metapher, aber was erkenne ich, wenn ich hinter den Spiegel schaue? Es teilt sich mir leider nicht mit, was damit gemeint sein könnte. Wenn ich hinter eine Fassade schaue, sehe ich das Eigentliche, aber was sehe ich, wenn ich hinter einen Spiegel schaue?

Das hängt ein bisschen mit der Lesart zusammen, das Ganze, also sowohl die Welt und als auch Selbst in allen Erscheinungsformen und Reflektionen zu hinterfragen. Der Spiegel reflektiert die Welt, deshalb könnte man ihn als objektiv bezeichnen. Aber was ist, wenn man den Spiegel selbst als eine Reflektion betrachtet? So ungefähr.

Was tut ihr leid? Möglicherweise ist mir da etwas entgangen.

Ich lese das nicht als eine Entschuldigung für eine konkrete Handlung, sondern für einen Irrtum im Allgemeinen.

... leider kann ich deine Geschichte nicht so würdigen, wie sie es sicher verdient hat, weil ich mit dem Genre nicht so viel anfangen kann.

Das kann ich gut nachvollziehen. Manche Texte liegen einfach nicht in der persönlichen Sphäre. Das geht mir oft auch so.

Was ich mitbekommen habe ist, dass dir da eine sehr gut durchdachte, detailreiche und interessante Geschichte gelungen ist, in die du viele Ideen und Gedanken eingebracht hast, von der sprachlichen Brillanz des Textes ganz zu schweigen.

Das ist toll und freut mich sehr. Vielen Dank dafür, Barnhelm.

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus,

ich habe deine Geschichte gestern schon gelesen, aber es war schon spät und ich habe meinen Kommentar auf heute verschoben =)

Schon bei deiner letzten Geschichte ist mir aufgefallen, was für einen professionellen Schreibstil du hast. Aber ohne dabei so klingen zu wollen. Deine Sätze sind stimmig, sie passen genau, sie treiben die Geschichte voran. Auch wie du das komponiert hast, also diese Abwechslung zwischen Spiel und Realität, hat mir gut gefallen.

Die Folter-Szene war natürlich hart, da hab ich unterm Lesen das Gesicht verzogen und war heilfroh, als Johanna gerettet wird. Aber hier muss es auch weh tun, Folter ist nun mal schrecklich, also warum sollte man da um dein heißen Brei herumschreiben. Diese Szene war sehr eindringlich.

Auch die Beziehung, die sich zwischen Johanna und ihrem Meister entspinnt, habe ich interessiert verfolgt. Ihre Affäre mit Nyborg lässt mich hingegen eher kalt. Das tut für mich irgendwie nichts zur Sache, außer dass Johanna hier in dieser Szene ihre Zweifel äußert. Johanna an sich ist eine Protagonistin, der ich gerne gefolgt bin. Sie ist keine übertriebene Emanze, sondern getrieben von Idealismus, den sie schlussendlich dann doch in Frage stellt. Sie hat Selbstzweifel, stellt ihr Licht manchmal vielleicht sogar unter den Scheffel und ist eine knallharte Braut, ohne damit zu prahlen. Das hast du gut gemacht. Oft wirken solche Frauenrollen zu übertrieben und gefallen mir nicht. Aber Johanna hat mir echt gefallen.

Nur das Ende, das habe ich nicht so ganz verstanden ... Dennoch, sehr gerne gelesen!
RinaWu

 
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Hey RinaWu,

vielen Dank für das Lesen der Geschichte und Deine Gedanken zum Text. Freut mich sehr, dass Dir mein Schreibstil gefällt. Und dass Du den Wechsel zwischen Spiel und Realität mochtest, ist toll, denn das ist eine Grundidee beim Schreiben dieser KG gewesen. Ursprünglich wollte ich nur das Spiel beschreiben, aber dann fand ich, dass das zu trocken wäre.

Bei der Folterszene wollte ich das Psychologische reinbringen und auch diese Vermischung von Gewalt und Bürokratie, wobei Bürokratie eigentlich immer irgendwie Gewalt bedeutet, scheint mir. Wenn Du die Szene eindringlich fandest, hat es wohl geklappt.

Ja, was die Szene zwischen Nyborg und Johanna betrifft, die ist auch im Grunde eher kalt. Ich habe das so geschrieben, weil ich die Affäre oder was immer auch zwischen den beiden läuft als ein Nebenprodukt der Zusammenarbeit zeigen wollte, als etwas, das nun mal passiert, ohne, dass es tiefere Bedeutung hätte.

Ich sehe Johanna wie Du als Frau, die einem geistigen Ideal folgt, dieses Ideal am Ende aber doch in Frage stellt, aufgrund ihrer Erfahrungen und der Gedanken, die sie sich über diese Erfahrungen macht.

Das Ende kann man sicher verschieden deuten. Ich habe es so angelegt, dass die finale Schlacht, das Bombardement der Stadt als Konsequenz aus all den Kämpfen verstanden werden kann, in die auch Johanna verwickelt war.

Habe mich über Dein Feedback gefreut, Rina.

Gruß Achillus

Hey Bea Milana,

schön, dass Du reingeschaut, gelesen und kommentiert hast. Vielen Dank dafür. Du beschreibst eine Menge von Fragen, die Du zum Text hast, was mir zeigt, dass der Rätselfaktor bei dieser Geschichte wohl höher als sonst bei mir üblich ausgefallen ist. Das tut mir leid. Es war nicht mein Vorsatz, eine rätselhafte Geschichte zu schreiben. Ich denke, es liegt ein bisschen an meinem Wunsch, fertige Interpretationen zu umgehen, den Leser nicht zu entmündigen, indem ich ihm vorschreibe, wie er die Zusammenhänge und vor allem die Moral der Geschichte zu deuten hat. Das ist nicht ganz leicht, denn ich selbst habe natürlich einen Standpunkt.

Vom Rätselhaften abgesehen monierst Du auch Logikschwächen. Schauen wir mal.

1. Szene Straße: Willst du mir ernsthaft erzählen, eine Agentin würde sich so verhalten?, fragte ich mich. Wie führst du deine Prot ein? Hinten wartet der Genickschuss, vorne der Stirnschuss und dann die nebulöse Waffe des Widersachers aus dem Dunkel (ein gecovertes Bild aus Spielfilmen, das m.M.n. nicht am Anfang eines Textes funktioniert) und sie läuft sehenden Auges in der Schusslinie? Du beschädigst deine Agentin, sorry, das gefällt mir nicht.

Johanna ist keine Agentin, sondern eine Widerstandskämpferin. Im Grunde also eine Zivilistin, die sich aus welchen Gründen auch immer einer Untergrundorganisation angeschlossen hat, die die Regierung mit verschiedenen Mitteln bekämpft. Ich schreibe das, weil Widerstandskämpfer in der Regel Amateure sind, keine ausgebildeten Agenten oder Soldaten.

Ich sehe die Szene so, dass Joh. den Agenten bemerkt, als sie nicht mehr einfach umdrehen kann, und ehrlich gesagt, verstehe ich Deine Vorbehalte nicht. Kennst Du nicht die Situation, wenn es für ein Zurück einfach zu spät ist?

Hört sich ein bißchen nach Amtsdeutsch an.

Stimmt, das schau ich mir noch mal an.

Warum? Weil sie dem Widerstand angehörten? Was macht der Widerstand? Klar, er kämpft gegen die Regierung und gegen die Degeneration. Aber warum will die Regierung die Degeneration? Was ihr Ziel?

Ich hatte ursprünglich die Anklagegründe aufgezählt: Raub, Vergewaltigung, politische Agitation, Schnapsbrennerei usw. fand dann aber, dass es darauf gar nicht ankommt. Viel aussagekräftiger ist doch die Tatsache, dass das im Frühstücksprogramm läuft, findest Du nicht?

Natürlich wird sie wieder einmal gerettet! Na gut. Der Plot will es so.

Naja, stimmt sie wird gerettet. Aber sie kommt nicht ungeschoren davon. Die Verhörszene will ja zeigen, wieso sich Joh. persönlich ins Zeug legt. Bis dato hat sie offenbar keine ernsthaften Schwierigkeiten gehabt. Jetzt erlebt sie, wovon andere Kämpfer berichtet haben.

Das zerschlagene Gesicht wird später nicht mehr erwähnt. Müsste doch verdammt weh tun, oder? Selbst wenn sie mit dem Schlagstock keine zerbrochene Nase davon getragen hat, wäre es schön, das später nochmal kurz aufzugreifen.

Guter Punkt. Werde ich mitreinnehmen.

Danach kommt Adrian, ihr Freund, den sie lange nicht mehr gesehen hat, und der im Ministerium arbeitet und rettet sie aus der Folterkammer. Wie Kai aus der Kiste entsprungen? Scheint mir unplausibel.

Der kommt nicht aus der Kiste, sondern wurde ja in der Szene davor eingeführt.

Jägerbataillon? Ich verliere langsam den Faden. Ok. Irgendeine Aktion, aber warum hat die so einen dämlichen Namen? Ach, damit ist die Befreiungsaktion später gemeint.

Bezieht sich auf die Rebellion innerhalb des Militärs, von der Anquist in der Verhörszene spricht. (»Ich bin Major Anquist. Ich ermittle in einem schweren Fall von Meuterei und Aufruhr in einem Bataillon des dritten Jägerregiments. Wie Sie sich bestimmt denken können, nimmt das Militär jede Form von Insubordination sehr ernst.«)

Hm, Deine Verwirrung könnte an der militärischen Bezeichnung liegen: Jäger sind eine Truppengattung der Infanterie, kennt man vielleicht von Fallschirmjäger, Feldjäger, Gebirgsjäger etc. Keine Ahnung, ob das ein allgemeingültiger Begriff oder ein erklärungswürdiger Fachterminus ist.

Woher kommt auf einmal der Richtungswechsel bei Nestor? Nu sitzen die beiden auf einmal da und er zeigt ihr das Spiel? Warum? Das Brettspiel hört sich nach Schach an.

Den Umschwung in Nestors Haltung kann man glaub ich recht gut aus der Folterszene ableiten und wie Joh. danach wieder bei ihm auftaucht. By the way: Schach ist es nicht.

Dass Bunker so schnell auseinanderfliegen, ist mir vollkommen neu. Ist nur im Film und in Videospielen möglich. Habe mich selbst gerade intensiv mit allen möglichen Arten von Bunkern beschäftigt, weil ich es für ein gutes Motiv für meinen Roman hielt. Habe sogar an einer Führung im Hamburger Atombunker teilgenommen, aber eines weiß ich genau: Bunker wären nicht so zahlreich gebaut worden und boten einigen Wenigen Schutz, wenn sie von einer einzelnen Rakete auseinanderfliegen würden.

Bazookas wurden im zweiten Weltkrieg massenhaft und erfolgreich zur Bekämpfung von Bunkern eingesetzt. Bunker ist ja ein Sammelbegriff für geschützte Bauwerke verschiedener Art. Natürlich wird ein Raketenwerfer keinen Atombunker sprengen. Das ist klar. Aber für kleinere Zwei-Mann-Bunker aus Beton reicht das allemal.

Was für eine unwillige Schülerin. Wohl doch zuviel Titten und kein Hirn, oder?

Hey, was bist'n so garstig? Eröffnungstheorie ist nichts für Anfänger, denn im Grunde ist die Spieleröffnung ein Spiel für sich, folgt anderen Strategien und Prinzipien. Dass Joh. das begreift und das Buch zur Seite legt, ist im Grunde ein Erkenntnisfortschritt.

Ich bin genauso erstaunt, wie Nyborg. Begründung Johanna: »Ich finde ihn nutzlos." und »Es ist eine strategische Entscheidung.« Ok. Aber ich kann ihren Wunsch nicht nachvollziehen.

Ja, das kommt ein bisschen überraschend. Meine Idee war, hier einen Sichtwechsel von Joh. anzudeuten, für den sie selbst gar keine präzise Erklärung hat.

Sie hat die Station gerettet. Da war soviel los, das habe verpasst, sorry.

Das bezieht sich auf die Action bei der Funkstation, wo sie die beiden MP´s mit einer Handgranate angreift.

»Ist es wegen der beiden Männer, die du getötet hast? So läuft das im Krieg leider.« Wer spricht hier? Stimmt die Reihenfolge der Sprecher in dem Dialog?

Ja, das sagt Nyborg. Es geht noch immer um die beiden Militärpolizisten.

Orgasmus beim Brettspielen hatte ich noch nie. Das Spiel hätte ich auch gerne.

Kann ich Dir beibringen, Bea.

Was genau ist der entscheidene Punkt für ihren Ausstieg aus dem Widerstand? Der Spiegel, das Spiel, die Erkenntnis, dass Gewalt eine nie endenden Spirale ist und sie dabei drauf gehen könnte, die "Liebe" zu Nestor, was? Insgesamt sind mir zuviele Andeutungen zu nebulös, jedenfalls habe ich es nicht kapiert.

Hm, wie gesagt, war so nicht meine Absicht. Sollte keine Ratestunde werden. Vielleicht muss ich da noch nachbessern. Ich schau mal, was da noch an Rückmeldungen kommt.

Vielen Dank für Deine Hinweise, Bea, ist viel Stoff zum Nachdenken dabei.

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus,

Degeneration und sinnloser Widerstand. Du bringst Deine Botschaft gut rüber. Diese Geschichte trägt - im Vergleich zu Deinen anderen - ein tiefere Botschaft. Zum ersten Mal die Hinterfragung des Kämpfens. Es wird auch kein Grund für den Widerstand genannt. Es ist einfach die Macht über Menschen, die eine Regierung mit Gewalt erhalten will. Und die folgende Regierung wird das gleiche tun. Vielleicht ist hier der Vorschlag, eine Welt ohne Regierungen zu versuchen? Dann wären die Menschen selbständiger, freier, und die Degeneration würde zur Aufgeneration.

Dein Spiel ist wahrscheinlich eine Variante des japanischen Go. Das Buch Kawabatas "The Master of Go" liegt leider noch ungelesen in meinem Regal. (Ich hatte mir viele Bücher in der Vor-Internet-Zeit auf Vorrat zugelegt.)

Nur eines noch.

Der Hund verbiss sich in den Arm des Mannes und ließ nicht locker, bis ihn irgendjemand mit dem Schuss aus einer Schrotflinte niederstreckte.
Der Hund, der mit Schrot erschossen wird, ist doch doch so nahe am Opfer, dass dieses auch vom Schrot abbekommt, oder? Und warum wird überhaupt Schrot verwendet? Dass man mit Schrot auf fliegende Enten schiesst, kann ich etwas nachvollziehen. Zudem habe ich gehört, dass Enten, die an Vogelgrippe verreckt sein sollen, Schrotkörner im Magen gehabt hätten.

Hat Spass gemacht, Deine neue Geschichte zu lessen. Die Handlung ist sehr spannend, gerade wegen der Komplexität. Das Ende enthält eine vernünftige Wendung.
Viele Grüsse
Fugu

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Fugu,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Schön, dass Du mal wieder reingeschaut hast. Ich sehe es auch so, dass der Kampf und die Anwendung von Gewalt in dieser Geschichte deutlich hinterfragt wird, obwohl es dazu sicher auch in meinen anderen Geschichten einige Gedanken und Ansätze gab.

Insbesondere ging mir beim Schreiben die offene staatliche Repression durch den Kopf. Man sieht das in der Türkei, Russland, China, aber das sind längst nicht alle Beispiele. Regierungen tendieren dazu, die Instanzen und Personen kaltzustellen oder auszuschalten, die Gegenpositionen einnehmen können. Ich glaube, das liegt einfach in der Natur der Sache.

Ich finde tatsächlich, dass es Alternativen zu den staatlichen Regierungen gibt, die wir bisher so in der Geschichte erlebt haben. Keine Ahnung, ob mich das zum Anarchisten macht, ich glaube nicht.

Dein Spiel ist wahrscheinlich eine Variante des japanischen Go. Das Buch Kawabatas "The Master of Go" liegt leider noch ungelesen in meinem Regal. (Ich hatte mir viele Bücher in der Vor-Internet-Zeit auf Vorrat zugelegt.)

Da spricht der Japankenner. Gut beobachtet. Erzähl mal, wenn Du den Kawabata gelesen hast, würde mich interessieren, wie Du es fandest.

Kurz noch zur Schrotflinte. Bei Polizei und Militär werden Schrotflinten eingesetzt, wenn man in eher engen Straßen und Räumen große Mannstopwirkung erzielen will. Der hohe Geschossdurchmesser setzt Gegner schnell außer Gefecht. Die Streuung hat den Vorteil, dass man nicht so genau zielen muss und deshalb schneller schießen kann. (Auch bei der Entenjagd z.B. wäre es sehr schwierig einen fliegenden Vogel präzise zu treffen, da eignet sich Schrot besser.)

Je dichter man am Ziel steht, desto geringer ist die Streuung. Wir haben das vor Jahren mal mit unserem Ausbilder gemacht und haben Schüsse auf verschiedene Distanzen gegen ein Holzbrett abgegeben. Da sieht man die Zunahme der Streuung sehr deutlich, je weiter man vom Ziel weggeht. Allerdings ist die nicht so groß, wie man das aus Action-Filmen kennt. Um wirklich flächendeckende Streuungen zu erzielen muss man die Schrotflinte absägen. Das verhindert, wenn ich es richtig verstanden habe, die Bündelung der Schrotkörner beim Durchgang durch den Lauf.

Gruß Achillus

Hallo Bea, schön, dass Du noch mal reinschaust.

Es tut mir leid, das habe ich am Anfang komplett missverstanden. Ich werde es in der Zusammenfassung in dem vorherigen Post ändern, damit keine Lawine draus wird.

Mach Dir keine Sorgen. Ich habe kein Problem damit.

Wenn man ein Spiel lernen will, ist die Eröffnung das A & O.

Das ist sicher richtig. Aber man lernt die nicht zuerst, sondern zuletzt. Ich kenne es jedenfalls nicht anders und denke auch zu wissen, warum das so ist.

Das Endspiel ist meist pure Taktik, alle strategischen Entscheidungen sind längst gefällt worden und nun geht es darum, wer das Spiel in taktischer Hinsicht am besten beherrscht. Beim Schach lernen Anfänger beispielsweise einen König nur mit Turm und Läufer mattzusetzen oder mit Läufer und Springer.

Der Anfänger hat im Endspiel ganz klare taktische Aufgaben zu lösen. Er kann an konkreten Problemen arbeiten. In der Eröffnung gibt es das alles nicht. Spieleröffnungen sind hochstrategisch und deshalb hochabstrakt. Aus diesem Grunde lernt ein Anfänger Eröffnungstheorien erst kennen, wenn er die taktischen Basics einigermaßen begriffen hat.

So kenne ich es jedenfalls von meinen Lehrern und fand das immer recht plausibel. Natürlich muss jeder, der eine Partie spielen will, die ungefähren Eröffnungsprinzipien kennen, sonst setzt er die Kiste gleich in den Sand, da hast Du sicher recht. Aber das ist noch kein Studium von Eröffnungstheorie, sondern eher ganz allgemeines Wissen über die unterschiedlichen Phasen des Spiels, also Eröffnung, Mittelspiel, Endspiel.

"Das brauche ich nicht mehr. Du hast mir bereits alles beigebracht, was ich wissen muss." Oder besser: "Ja. Ich habe mir die Nächte um die Ohren geschlagen und alle Eröffnungsvarianten durchgespielt. Merkt man das etwa nicht?"

Ich verstehe, wie Du daran gehst, Bea, aber das ist völlig unmöglich, wenn man das Spiel kennt. Du unterschätzt die Komplexität des Spiels, man kann einfach nicht alle Eröffnungsvarianten durchspielen.

Allerdings bringt mich das zu der Frage, ob ich das noch genauer herausarbeiten sollte. Vielen Dank für den Hinweis.

Dann würde ich sagen: WOW! So erfahre ich, dass etwas bei ihr passiert, weil sie sich intensiv damit beschäftigt hat. Sie würde mich beeindrucken und ich nehme ihre spätere Entwicklung viel eher ab.
Schon klar, von der Plotkonstruktion her, aber damit würde sie die Sphäre des Menschlichen verlassen, denn das ist wie gesagt ein Ding der Unmöglichkeit.

Bea, danke für Deine Tipps.

Gruß Achillus

 

»Es geht um die Degeneration«, fuhr Sundland fort. Sie setzte ihre Brille ab und rieb sich die Stirn. »Mittlerweile ist beinahe der gesamte Widerstand davon betroffen. Wir wissen immer noch nicht, wie sie die Bevölkerung damit infizieren oder wie sie sich selbst davor schützen. Aber wenn es so weitergeht, wird der Widerstand in zwei Jahren nur noch ein Haufen stammelnder Idioten sein.«

Hallo Achillus,

Du weißt, dass Rauchen tödlich sein kann. Zu viel Rauch und Schall, aber auch Weisheit aus der Binse (Licht und Schatten) über 16 Seiten Manuskript. Abgesehen, dass ich Brühl als Städtchen kenne, das keineswegs „binsenbewachsen“ ist weit im Westen und hoffentlich nicht versumpft. Achja,

im alltäglichen Guerillakrieg
ist eigentlich widersprüchlich oder gedoppelt, wie man's will,, weil die Guerilla schon der verniedlichte Krieg (guerra), also der „kleine Krieg“ ist.
Von unten her war ein Wagen zu hören, der langsam am Haus vorbei fuhr, …
„Vorbeifahren“ besser zusammen ...

Die Pistole in ihrer Hand zitterte.
Glaub ich nicht, das ein Pistole zittert! Eine haltende Hand vielleicht, nicht aber die Pistole …

»Sie waren ziemlich fleißig ...«,
heißt es so etwa in der Mitte des Textes. Und was für Klara gilt, gilt für Dich auch,

Achillus,

aber diese Art von Beschreibungsliteratur hab ich wahrscheinlich das letzte Mal als pubertärer Knabe in einem Groschenroman gefunden. Achja, das Naziregime verwendete für das Substantiv Degeneration das Adjektiv „entartet“ und das „völkische“ bis zur „Umvolkung“ soll ja schon einer CDU-Abgeordneten über die Lippen gekommen sein. Und die Verblödung wird wohl die Kulturindstrie incl. derMassenmedien - besonders das WeltWeitegeWerbe- hinkriegen.

Da kann auch ein Nestor – früher einmal, da war mein Bart noch bunt, lange vor unserer Zeit also - Erzieher zu Ithaka - nix für mich retten.

Nix für ungut,

selbst im Tagebuch Che Guevaras finden sich Humor und Ironie ... Dabei hat der Aberglaube seine Fänger dazu verführt, dem Toten Hände und Füße abzuschneiden. Dabei war ihm seine Zunge viel wichtiger.

 

Hallo Achillus

Ja, keine Frage, handwerklich ist das wieder sehr beeindruckend. Eine gut geschriebene Geschichte, aber irgendwie - ich weiß nicht, diesmal wollte der Funke bei mir nicht überspringen.

Mit Sicherheit liegt es nicht an der Länge. Mit deinen Fähigkeiten kannst du problemlos auch über 8.500 Wörter - oder noch länger - packend erzählen, du bist kein Autor, bei dem der Umfang eines Textes zum Problem wird. Im Gegenteil. In deiner letzten Geschichte, Berlin bei Nacht, hätte ich zum Beispiel sehr gern noch weiter gelesen, aber da haben mir auch die Figuren - sowohl der "Gute" wie auch der "Böse" - viel besser gefallen, die haben mich viel mehr interessiert als in dieser Geschichte.

Interessant fand ich die Ausgangslage mit dem Spiel - ich hab auch an Go gedacht, obwohl ich das nicht spielen kann, aber ich hab die Berichterstattung vor einigen Monaten verfolgt, als zum ersten Mal ein Computer den Weltmeister geschlagen hat. Das fand ich recht spannend. Aber zurück zu deinem Text - ich glaube, hier kommen wir zum zentralen Punkt, warum mich die Geschichte dieses Mal nicht packt: Das gesamte Setting wirkt sehr abstrakt auf mich. Die Degeneration, wer da wie mit wem und warum zusammenhängt, was es mit dem Spiel auf sich hat und wo da der Zusammenhang zur Degeneration ist, die Botschaft an der Wand und die Gedanken, die diese Botschaft (und das Spiel) bei Johanna auslösen - das alles hat für mich am Ende kein klares, stimmiges Bild gegeben. Es ist nicht so, dass du das nicht erklärst, und ich glaube, du selbst hast eine viel genauere Vorstellung im Kopf als das, was bei mir angekommen ist - aber es gab beim Lesen doch immer wieder große Fragezeichen, und das hat das Lesevergnügen dann doch gehemmt.

Ich hatte teilweise auch Mühe, die Motivation der Figuren zu erkennen - Nestor ist erst abweisend und hilft dann plötzlich doch, warum? (Deine Erklärung in der Antwort zu Bea Milana überzeugt mich dabei nicht). Das ist halt irgendwie auch so etwas, was man schon etliche Male gesehen hat - Person A will etwas von Person B, die sträubt sich erst und willigt dann aber doch ein. Ich finde nicht, dass das in der Geschichte plausibel erklärt wird. Und wenn Johanna schwer malträtiert dort auftaucht - was juckt es Nestor, er kennt sie nicht.

Adrian wirkt auf mich auch wie ein deus ex machina beim Verhör - ok, du erwähnst ihn vorher mal, aber er spielt ja nicht wirklich eine Rolle in dieser Geschichte. Anquist fällt plötzlich den Rebellen in die Hände - und Johanna will ihn wieder laufen lassen. Dazwischen werden Gefangene aus Bunkern befreit, Funkstationen in Betrieb genommen, immer wieder dieses Spiel gespielt - also wie gesagt, mir ist das alles irgendwie zu viel diesmal. Zu zerfasert, mir fehlt der rote Faden, deshalb wollte dieses Mal vielleicht auch die große Spannung nicht aufkommen.

Einige Einzelszenen haben mir aber auch ausgesprochen gut gefallen - gerade zum Beginn, den zweiten Absatz fand ich stark, auch die Folterszene (von der Rettung am Ende mal abgesehen) - das war durchaus packend. Mir hätte es vermutlich besser gefallen, wenn du einige von den Militär-Szenen ausgelassen und dich dafür mehr auf das Spiel und auf die Beziehung zwischen Johanna und Nestor konzentriert hättest. Die Länge darfst du gerne beibehalten, aber dann hätte der Text vielleicht nicht so überladen gewirkt, für eine Kurzgeschichte fast zu voll gestopft mit Figuren und einem komplexen Setting.

Ich muss zugeben, ich hab die Geschichte zum jetzigen Zeitpunkt auch nur einmal gelesen. Dies ist mein Eindruck nach dem erstmaligen Lesen, falls ich die Geschichte nochmal lese und dann eine andere Meinung habe, geb ich gern nochmal Rückmeldung.

Bis dahin alles Gute,
Schwups

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Friedrichard,

danke für Deine Rückmeldung. Ich sehe die Licht-Schatten-Metaphorik nicht als trivial oder Binsenweisheit an, vielleicht weil ich sie umfassender interpretiere als Du. Die gesamte Yin-Yang Philosophie beruht auf einer polaren Deutung der Welt, und dass die mittlerweise (obwohl nur halb verstanden) zu einem Pop-Symbol geworden ist, dafür kann sie ja nun nichts. Wenn man sich ein bisschen mit alter chinesischer Philosophie befasst, sieht man, dass die in den drei großen für China wichtigen Lehren (Daoismus, Konfuzianismus und Buddhismus) enthalten ist und durchaus vielfältig interpretiert wurde.

Die Frage ist also, ob das in seiner Tiefe in dem Text rüberkommt. Sicher nicht. Ich habe mich auf Andeutungen beschränkt, weil es ja keine Lehr-Geschichte werden sollte. Aber wer danach sucht, findet Bezüge zu den tieferen Ebenen, sei es in der Erwähnung des Offensichtlichen und des Verborgenen (einen Hinweis auf die buddhistische Lehre der zwei Wahrheiten/ Wirklichkeiten Satyadvaya), die Relativität von Kräften in Abhängigkeit umgebener Bedingungen, die Spiegelanalogie, die in Taoismus und Buddhismus verwendet wird und noch einige andere Sachen.

Du hast außerdem die Frage aufgeworfen, wie viel Beschreibung in einem Text vorkommen darf, ohne als Groschenroman zu gelten. Da ich keine Groschenromane kenne, mir deshalb kein Urteil über die Qualität solcher Texte erlauben darf, kann ich mich nur auf das beziehen, was ich selbst als vorbildlich betrachte. Und in Bezug auf die Action-Sequenzen fallen mir Graham Greene und Dennis Lehane ein, in deren Romanen durchaus auch die Kugeln fliegen und Explosionen krachen. Wenn sie das zu Groschenromanen macht, dann bitte schön.

Vielen Dank für Deine Hinweise, Friedel.

Gruß Achillus

Hallo Schwups,

vielen Dank fürs Lesen und Deinen Kommentar. Schön, dass Du wieder reingeschaut hast. Ich denke, was diese Geschichte ein bisschen widerspenstiger macht, sind ihre Bezüge zu abstrakten, philosophischen Überlegungen. Ich hatte ursprünglich vor, den Tag Philosophie mitanzuwählen, wollte aber niemanden verscheuchen.

Im wesentlichen werden im Text drei Sichtweisen gegeneinandergestellt, die barbarische, die humanistische und die spirituelle Sichtweise. Natürlich ist dieser Mix aus Agentengeschichte und philosophischen Querverweisen eine ziemlich spezielle Angelegenheit, insbesondere, weil die Handlung in einer fiktiven Weltgeschichte spielt.

Mir fällt es auch leichter, den Figuren aus Berlin bei Nacht zu folgen, weil das eben näher an meinem Leben in dieser Stadt liegt. Trotzdem nehme ich Deinen Hinweis natürlich ernst, dass Du mit den Figuren nicht so viel anfangen konntest. Die Geschichte macht es dem Leser nicht gerade leicht, sich mit Johanna zu identifizieren. Man leidet mit ihr, aber bei dem Wechsel ihrer Sichtweise auf die Dinge bleibt man eher Zuschauer.

Das ist ein Dilemma, das ich nicht lösen kann, denn die dritte Sichtweise, ist eben nicht beschreibbar. Ich hatte mir vorgestellt, den Wandel anhand ihrer Reaktionen darzustellen. Sie will sich nicht an dem Major rächen, sie bekommt Zweifel am bewaffneten Kampf. Dabei spielen sicher auch ethische Bedenken eine Rolle, aber es gibt auch einen Grund, weshalb weise Männer und Frauen in der Regel keine Guerilla-Kämpfer sind, selbst wenn die Sache, für die gekämpft wird, gerecht ist. Dieser Hintergrund ist sicher nicht ohne weiteres zugänglich und möglich, dass ich es auch nicht gut gemacht habe, obwohl mir die Geschichte selbst gut gefällt (Yipee!)

Was das Spiel betrifft, hatte ich gehofft, das würde den Leser auch interessieren, weil ich es beim Lesen meist sehr zu schätzen weiß, aus Berufen und Künsten zu erfahren, die mir fremd sind. Obwohl es sicher zu außergewöhnlichsten Spielen überhaupt gehört, kennen es in Europa nicht viele Menschen. Ich dachte, das wäre für einige Leser interessant. Als dann im März dieser Hype da war, wollten viele Leute das Spiel kennenlernen, aber als die Leute begriffen haben, wie schwierig es wirklich ist, war der Hype auch schnell wieder vorbei.

Du hast davon gesprochen, dass die Geschichte kein klares, stimmiges Bild ergibt. Ich sehe das auch so, aber ich denke, das sollte auch so sein. Das heißt nicht, das Ganze wäre als Ratespiel (Rate mal, was das zu bedeuten hat) gedacht. Sondern eher, dass die Geschichte bestimmte Zusammenhänge nicht ausformuliert: Ist das Spiel der Grund für Johannas Veränderung? In welcher Weise? Ist Johannas Weigerung, weiterhin am Widerstand teilzunehmen ein Fortschritt, ein Rückschritt, Reifung oder Resignation? Ist das Spiel eine Analogie für Reifungsprozesse und die Degenration ein Bild für sittlichen Zerfall? Das und vieles andere kann man unterschiedlich beurteilen.

Stimmig ist das Ganze für mein Empfinden von der Geschichte her: Die Protagonistin erhält einen Auftrag, den sie zwar erfüllt, aber das Resultat ist anders als erwartet. Wie das Ganze zu deuten ist, soll der Leser entscheiden. Natürlich kann dabei auch herauskommen, dass der Leser nur die Achseln zuckt und sagt: So what? Das Risiko bin ich eben eingegangen.

Ich verstehe immer noch nicht, weshalb Nestors Entschluss, Johanna zu helfen, so rätselhaft sein soll. Wie wäre es schlicht mit Mitgefühl und Sympathie. Muss man das haarklein ausbreiten? Ich weiß nicht.

Dann noch zu Adrian. Würde man alle Wendungen einer Geschichte verwerfen, in der überraschend die Rettung kommt, könnte man das ganze Spannungsgenre vergessen. Ich beobachte das mittlerweile ziemlich genau in Thriller und Abenteuer. Die Regel scheint mir zu sein, dass die Möglichkeit der Rettung irgendwie vorher schon mal erwähnt oder angedeutet werden sollte. Man kann vom einem Geschichtenerzähler nicht erwarten, dass er eine Drohkulisse aufbaut und den Leser gleichzeitig darauf vorbereitet, wie die Rettung erfolgen wird. Ich denke, dann wäre die Drohkulisse dahin.

Ich gebe Dir allerdings recht, dass diesmal sehr viel Stoff in der Geschichte steckt. Und vielleicht wird es dem einen oder anderen zu viel sein. Deshalb bin ich Dir auf jeden Fall für Deine Kritik dankbar, denn letztlich hilft mir jeder Kommentar bei der Feinjustierung. Die Geschichte dieser KG ist ziemlich verwickelt, ich habe einfach versucht mehr an die Grenzen zu gehen, was man innerhalb einer Kurzgeschichte so darstellen kann. Vielleicht muss ich da noch nachbessern

Vielen Dank für Deine Hinweise, Schwups. Ich fand sie wie immer sehr hilfreich und würde mich freuen, wenn Du mir wieder schreibst, sollte Dir noch was einfallen.

Gruß Achillus

 

Hey Achillus,

ein Schwedenkrimi, dachte ich zunächst. Darüber hatten wir uns doch bei deiner letzten Geschichte unterhalten, richtig? :)

Dann ist es aber eine an Orwell angelehnte Story. Das mag ich! :thumbsup:

Eine relativ lange Geschichte, in der viel Arbeit steckt. Leider konnte ich wegen der Länge den Text nicht in einem Zug durchlesen. Stoff für einen Roman.

Sein blasses Gesicht wirkte wie eine Maske - leblos, kalt,
Da müsste der Gedankenstrich ( – ) hin anstatt des Viertelgeviertstrichs. Hast du mehrmals.

»Das Spiel der Tauben und Raben«
(Übrigens wäre das ein super Titel für die Geschichte gewesen.)
Aha, weiße Vögel, schwarze Vögel. Eine schöne Umschreibung für das Spiel, das mich an Go erinnert.

Nur draußen vor (DER) Tür waren Nyborgs Männer zu hören, die sich leise unterhielten.

Leider werde ich mit den Personen nicht so richtig warm.

Ich bekomme nicht auf die Kette, wer Johanna überhaupt war, bevor sie für den Widerstand arbeitete. Ich hätte das wichtig und interessant gefunden.
Und hier so eine Stelle, wo ich gerne an ihren Gedanken teilhaben möchte:

Wenn sie auf Posten stand oder im Wald patrouillierte, kam sie endlich dazu, in Ruhe über sich und ihr Leben nachzudenken.

Mir haben die Szenen ohne Kampfhandlungen übrigens wesentlich besser gefallen. So hätte ich gerne mehr über das Spiel erfahren und gewusst, wie Johanna oder wer ihre Kenntnisse daraus später einsetzt. Schade, dass das im Dunkeln bleibt.
Und was war jetzt mit dem Spiegelbild? Da erscheint das Graffiti irgendwie zu konstruiert.

Gewohnt sauber und flüssig geschrieben. Professionell. :thumbsup:
Spannend natürlich auch. Hat mir gut gefallen. Hätte gerne länger sein können, um Zeit für das Innenleben der Figuren zu haben.

Liebe Grüße,
GoMusic

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo GoMusic,

vielen Dank für das Lesen und Kommentieren. Schön, dass Du den Text trotz der Länge gelesen hast.

Ja, das Problem mit den Gedankenstrichen hat was mit dem Blocksatzformat zu tun, in dem ich den Text geschrieben habe. Zumindest nehme ich das an. Ich kann die Länge des Strichs jedenfalls nicht beeinflussen. Oder versteh ich da was falsch?

Die Figuren sind in dieser Geschichte stark auf die Handlungen bezogen, ich stimme Dir zu, dass man von Johanna und den anderen nicht viel mehr erfährt, als für die Geschichte selbst notwendig. Das hängt ein bisschen mit dem Umfang zusammen, vermute ich, denn ich dachte mir, dass ein Plot, wo so viel passiert, die Figuren ausreichend charakterisiert. Vielleicht bessere ich da aber noch nach. Das gilt auch für die von Dir erwähnten Gedankengänge von Johanna.

Ich hätte auch gern mehr über das Spiel geschrieben, denn dazu ließen sich auf jeden Fall die Seiten eines Romans füllen. Ich hatte mit der Frage zu kämpfen, wie viel ich davon zeige, denn im Grunde ist das Spiel und seine philosophische Ebene ein Universum für sich. In der Kurzgeschichte wollte ich mich aber auf ein paar grundlegende Gedanken beschränken.

Das Spiegelbild kann im Kontext des Spiels als Reflexion der Welt gedeutet werden, also eine klare Sicht auf die Dinge. Der entscheidende Aspekt besteht jedoch darin, dass das Spiel nicht nur danach fragt, die Welt so klar und deutlich wie möglich zu sehen, sondern die Matrix hinterfragt, auf der die Welt und ihre Reflexion überhaupt zu Stande kommt. Der Blick hinter den Spiegel ist meiner Ansicht nach der Blick hinter die Kulissen, hinter das Scheinbare.

Ich nehme Deine Anregung, das Innenleben der Figuren etwas genauer zu beleuchten gern auf. Mal sehen, wie ich das in der Überarbeitung umsetze. Vielen Dank für Deine Hinweise, GoMusic.

Gruß Achillus

 

Liebe Bea Milana,

Du zitierst meinen Namen in deinem Kommentar für Achillus. Ich verstehe leider den Zusammenhang überhaupt nicht. Bei mir kommen keine Kampfhandlungen vor. Bitte kläre mich auf. Hab ich da was übersehen?

Gruß wieselmaus

 

Liebe Bea Milana,

nein, natürlich nicht. Hatte nur darüber gegrübelt, ob du die Kampfhandlungen von Anni und Wolfi mit dem Monster meinst:lol:.

Im Ernst, ich setze in der Regel eher auf innere Spannung, die dadurch entsteht, wie bestimmte Situationen von den Protas wahrgenommen werden. Action als solche ist nicht so meins. Aber für manche Leser ist das zu langweilig, weil ja "nichts passiert". Mit diesem Vorwurf bin ich vertraut.

Gruß wieselmaus

 

Hey Bea, ich finde es nett, dass Du mir sagst, dass Du mir nicht zu nahe treten willst. Musst Du aber nicht. Deine Kritik ist willkommen, auch wenn ich es ein bisschen anders sehe.

Ohne dir zu nahe treten zu wollen, möchte ich anhand deines Textes einige typische Spannungsverhinderer nennen (es gibt noch einige mehr, aber ich nenne nur die, die mMn. auf deine Story zutreffen):

Hm, also ich habe die allgemeine Reaktion in den bisherigen Kommentaren anders verstanden:

Wieselmaus: Jedenfalls finde ich deine Geschichte souverän geschrieben und spannend aufgebaut..
Novak: ... harter, spannender Stoff.
Ronnie: Ein sehr spannender Text.
Bea Milana: Geschrieben ist es 1A und das Sujet interessant und spannend.
Fugu: Die Handlung ist sehr spannend ...
GoMusic: Gewohnt sauber und flüssig geschrieben. Professionell. Spannend natürlich auch.

Dass da jetzt so viele Spannungsverhinderer drin sind, nehmen wohl nicht alle Leser so wahr.

Inhaltlich gebe ich Dir recht, dass eine zu nebulöse Story den Aufbau von Spannung verhindern kann. Ich stell mir das so vor, dass manchmal die Andeutungen von Gefahr so vage sind, dass der Leser gar nicht weiß, wovor er nun eigentlich zittern soll. Und selbstverständlich ist eine Story auch um so spannender, je stärker sich der Leser mit den Figuren identifiziert. Da kann ich bestimmt noch nachbessern.

Dass der Plot stereotyp ist, weise ich zurück. Du hast selbst geschrieben, dass der Text ausgereift und komplex ist. Wie etwas komplex und gleichzeitig stereotyp sein kann, leuchtet mir nicht ein. Oder ist der Text komplex und der Plot stereotyp. Keine Ahnung, halte ich aber für Unsinn.

Vielen Dank für Deine Hinweise. Werde ich bei der Überarbeitung auf jeden Fall berücksichtigen.

Gruß Achillus

 

Hi Achillus!

Eine sehr gute, spannend und intelligent erzählte Geschichte ist dir da gelungen. Ich war direkt vom dystopischen Flair des 1984-artigen Überwachungs- und Polizeistaats gefangen.

Mir hat die Verknüpfung von Militär, Geheimpolizei und dem Widerstand gut gefallen. Die Kampfszenen haben sich gut mit den ruhigen, dialoglastigen Abschnitten abgewechselt. Dadurch ist es dir -jedenfalls bei mir- gelungen, einen richtigen Spiel- bzw. Kinofilm vor meinem geistigen Auge entstehen zu lassen.

Zu bemängeln hätte ich jedoch noch ein paar Dinge.
Der Aufhänger der Geschichte, die Amnesie-Epidemie, ist im Verlauf der Geschichte jedoch leider zusehends in den Hintergrund getreten. Auch hätte ich es noch interessanter gefunden, wenn du mehr darauf eingegangen wärst, inwieweit das Spiel dagegen helfen kann. Zunächst hatte ich noch geglaubt, es würde sich um Schach handeln.:) Wenn das Spiel für geistige Beweglichkeit sorgt, wieso dann nicht auch andere Denksport-Aufgaben, oder tatsächlich Schach? Insbesondere, wenn man bedenkt, dass Schach-Cracks das Spiel sogar im Kopf (!) spielen können.

Auch fand ich es ein wenig unrealistisch, dass die Armee den Störsender im Wald mit nur einem einzigen Jeep angreift. Da hätte man doch sicher eine ganze Kompanie rausgeschickt, oder wenigstens einen Zug und ein oder zwei Panzer.

Das Ende fand ich auch ein wenig verwirrend - ich habe mich die ganze Zeit gefragt, welche Rolle Nestor denn jetzt tatsächlich spielen würde. Einen Twist hätte ich gut gefunden - sowas in der Art, dass er in Wahrheit ein Doppelagent ist oder für die Regierung arbeitet.
Also meine Interpretation des Endes ist diejenige, dass der Widerstand in Wirklichkeit von einem ausländischen Staat manipuliert wurde und gegen die eigene Regierung gekämpft hat. Aber nicht, um sich von einer Tyrannei zu befreien, sondern um tatsächlich ohne eigenes Wissen einer Invasion den Weg zu ebnen.
Mag aber auch sein, dass ich da völlig falsch liege.

So oder so aber eine sehr spannende, futuristisch-anti-utopische Story, die ich sehr gern gelesen habe und mich ebenfalls wie bereits von Ronnie erwähnt an 1984 oder auch "Das Orakel vom Berge" von P.K.Dick erinnert haben.

EISENMANN is watching you!!:D

 

Hallo Achillus,

eine Menge Kritik hast Du bekommen für Deine Geschichte. Ich hatte sie schon vor einer Woche gelesen und komme erst jetzt dazu, einen kleinen Kommentar zu schreiben.

Ehrlich gesagt hat sie mir einfach "nur" richtig gut gefallen. Spannung pur. Die Andeutungen über die Protagonisten haben mir ausgereicht, um die Figuren lebhaft vor mir zu sehen. Die philosophischen Einflüsse waren für mich richtig dosiert, ohne, dass sie den Erzählfluss der aktionsgetriebenen Geschichte gestört hätten und auch das Ende hat mir gefallen. Die Idee, dass die Konzentration auf das Spiel den Geist aus der Gewaltspirale befreit, fand ich gelungen.

Der einzige Kritikpunkt vielleicht, wenn man ihn denn also solchen sehen möchte: Der Stoff reicht für einen ganzen Roman und ist fast zu viel für eine Kurzgeschichte.

Gruß

Geschichtenwerker

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Eisenmann,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ich hatte seit längerer Zeit vor, eine Geschichte zu schreiben, die in einem autoritären Staat spielt. Ist sehr nah dran an 1984, nur ist die Überwachung in meiner Geschichte (noch) nicht so komplett, wie bei Orwell.

Mir hat die Verknüpfung von Militär, Geheimpolizei und dem Widerstand gut gefallen. Die Kampfszenen haben sich gut mit den ruhigen, dialoglastigen Abschnitten abgewechselt. Dadurch ist es dir -jedenfalls bei mir- gelungen, einen richtigen Spiel- bzw. Kinofilm vor meinem geistigen Auge entstehen zu lassen.

Freut mich, dass es für Dich funktioniert hat. Ich mag so wie Du Geschichten, in denen es auch mal richtig knallt und die Leute nicht nur ständig reden. Den Mix richtig hinzubekommen zwischen ruhigen Szenen und Action, das ist nicht ganz leicht, aber in der Geschichte finde es auch ganz gut getroffen.

Der Aufhänger der Geschichte, die Amnesie-Epidemie, ist im Verlauf der Geschichte jedoch leider zusehends in den Hintergrund getreten. Auch hätte ich es noch interessanter gefunden, wenn du mehr darauf eingegangen wärst, inwieweit das Spiel dagegen helfen kann. Zunächst hatte ich noch geglaubt, es würde sich um Schach handeln. Wenn das Spiel für geistige Beweglichkeit sorgt, wieso dann nicht auch andere Denksport-Aufgaben, oder tatsächlich Schach? Insbesondere, wenn man bedenkt, dass Schach-Cracks das Spiel sogar im Kopf (!) spielen können.

Hm, Amnesie würde ich es nicht nennen, denn obwohl Vergesslichkeit dazu gehört, ist es eher so etwas wie Zerstreutheit, Desorientierung, Demenz. Ich hatte eine Zeitlang überlegt, auf die psychologischen und neurologischen Aspekte einzugehen, fand dann aber, dass das Geschichte zusätzlich aufbläst.

Der Unterschied zu Schach und zu anderen Denksportaufgaben ist einerseits die höhere Komplexität des Spiels, was u.a. mit der gigantischen Anzahl von Zugmöglichkeiten zusammenhängt, die zu Beginn einer Partie größer ist, als es Atome im Universum gibt. Doch das ist nicht der springende Punkt. Im Gegensatz zum Schach lässt sich beim Go eine Spielstellung nur sehr schwer bewerten und dabei ist dann immer eine Menge Interpretation dabei. Go wurde von Philosophen als spielerische Simulation der Komplexität des Lebens betrachtet und stimuliert das Gehirn sowohl auf der Ebene rationaler Erwägungen als auch im Bereich des Künstlerischen.

Auch fand ich es ein wenig unrealistisch, dass die Armee den Störsender im Wald mit nur einem einzigen Jeep angreift. Da hätte man doch sicher eine ganze Kompanie rausgeschickt, oder wenigstens einen Zug und ein oder zwei Panzer.

Da hast Du recht, das wäre unrealistisch. Die Szene war aber so gedacht, dass die Patrouille die Station zufällig findet.

Das Ende fand ich auch ein wenig verwirrend - ich habe mich die ganze Zeit gefragt, welche Rolle Nestor denn jetzt tatsächlich spielen würde. Einen Twist hätte ich gut gefunden - sowas in der Art, dass er in Wahrheit ein Doppelagent ist oder für die Regierung arbeitet. Also meine Interpretation des Endes ist diejenige, dass der Widerstand in Wirklichkeit von einem ausländischen Staat manipuliert wurde und gegen die eigene Regierung gekämpft hat. Aber nicht, um sich von einer Tyrannei zu befreien, sondern um tatsächlich ohne eigenes Wissen einer Invasion den Weg zu ebnen.

Für mich war wichtig, dass Nestor außerhalb der beiden Seiten steht. Er gehört nicht zur Regierung und nicht zum Widerstand. Deine Interpretation finde ich nachvollziehbar und auf der Basis der Fakten, die in der Geschichte vermittelt werden sicher denkbar. Ich habe das offen gelassen, denn für den Kernpunkt schien mir nicht so wichtig, welches Süppchen das Militär da nun eigentlich kocht.

Der entscheidende Punkt schien mir, dass Johanna die Eskalation von Kampf, Schlag und Gegenschlag am Ende nicht mehr mitmachen möchte, egal, welche Zielsetzungen damit verbunden sind.

So oder so aber eine sehr spannende, futuristisch-anti-utopische Story, die ich sehr gern gelesen habe und mich ebenfalls wie bereits von Ronnie erwähnt an 1984 oder auch "Das Orakel vom Berge" von P.K.Dick erinnert haben.

Danke für das Lob, Eisenmann.

Gruß Achillus

Hallo Geschichtenwerker,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Schön, dass Dir die Geschichte gefallen hat, und ich freue mich natürlich auch, dass Du sie spannend fandest. Ja, bei den Figuren ist das immer so eine Sache, wie genau man die zeichnet. Ich schätze, es wird immer Leser geben, die einen Charakter noch besser kennenlernen wollen und solche, denen die persönlichen Hintergründe für den Verlauf der Story reichen.

Das hat wohl mit einer entweder charakter- oder eben handlungsorientierten Leseweise zu tun. Natürlich ist es auch ein Kompliment, wenn ein Leser sagt, er möchte gern mehr erfahren über eine Figur, denn das zeigt ja, dass sie interessant ist. Andererseits ist das manchmal einfach eine Fragestellung, die an der Intention einer Geschichte vorbeigeht:

Wir wissen beispielsweise so gut wie nichts (Familie, Bildung, Ausbildung, überberufliche Motivation) über den Hintergrund von James Bond, nur um ein besonders bekanntes Beispiel zu nennen. Hätte man Ian Flemming ständig damit in den Ohren gelegen, er müsse den Charakter genauer zeichnen, wäre 007 wohl nie auf der Bühne erschienen.

Ja, Du hast recht, der Stoff ist ein bisschen überbordend, das stimmt. Geht mir beim Schreiben oft so, dass ich da zu viel reinpacke. Ich experimentiere damit, wieviel Inhalt man in KGs überhaupt bewältigen kann. Auch diese Geschichte hat mich dabei wieder ein bisschen weitergebracht.

Vielen Dank für Deine Rückmeldung zum Text, Geschichtenwerker.

Gruß Achillus

 

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