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Der da

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04.10.2006
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Der da

„Was machen wir jetzt mit dem Kerl?“ fragte Hauptkommissar Lord und ließ sich in seinen abgewetzten Bürostuhl fallen. Sein Kollege Jener warf einen müden Blick auf die Uhr über der Tür. 4:34 Uhr zeigte sie. Nachtschwarzer Regen schlug an die Scheiben des Büros der SOKO Hanna im dritten Stock der Polizeihauptwache.
„Lass uns den Burschen in die Zelle sperren“, schlug Jener vor. „Ich bin hundemüde. Du bist hundemüde. Und er ist hundemüde. Und wir kriegen eh nichts aus ihm raus. Wenn Du mich fragst, der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.“
„Das ist genau der Grund, warum ich ihn nicht in die Zelle stecken will“, erwiderte Lord und steckte sich eine Zigarette an. „Wenn Du den jetzt allein lässt, der bringt es fertig und hängt sich am eigenen Schwanz auf. Grund genug hätte er ja dazu.“ Er lehnte sich zurück und blies den Rauch an die Decke. Versonnen blickte er ihm nach. Jener gähnte.
„Was hältst Du davon?“ fragte Lord nach einer Weile.
„Wovon?“
„Ja, genau. Wovon? Alles, was er uns bis jetzt erzählt hat, ist vollkommener Scheiß. Und wenn er noch ein Gramm Hirn in der Birne hat, dann sollte er wissen, dass wir ihm so ein Gefasel nicht glauben werden.“ Lord schnippte Zigarettenasche in seine leere Kaffeetasse.
„Eben. Vielleicht steht er aber auch nur unter Schock. Aber ehrlich gesagt glaube ich, dass er einfach total verrückt ist. Irgendsoein durchgeknallter Freak, der einen Splatterfilm zuviel gesehen hat.“ Jener nahm seine Tasse vom Tisch und genehmigte sich, nachdem er die Tasse eingehend auf Aschespuren untersucht und keine gefunden hatte, einen Schluck des lauwarmen Kaffees. „Egal, was mit ihm nicht stimmt, wir können ihn nicht weiter befragen, ehe nicht der Amtsarzt hier gewesen ist und ihn sich angeschaut hat.“
„Ja, klasse“, schnarrte Lord. „Wenn der liebe Dr. Freund morgen hier aufkreuzt, werde ich ihm mal ordentlich den Marsch blasen. Er hätte eigentlich hier sein sollen.“
„Jetzt lass Martin mal zufrieden, der ist heute Nacht Vater geworden, das ist schon in Ordnung, dass er sich nicht gleich mit so einer Kindsmörderscheiße befassen muss“, beschwichtigte Jener seinen Kollegen. „Pass auf. Wir ziehen dem Kerl seine Klamotten aus, er bekommt ´ne Baumwolluniform und einen Kollegen vor die Zellentür, und dann passiert schon nichts. Vielleicht ist er dann morgen früh vernehmungsfähig.“
„Schon mal auf die Uhr geschaut?“ fragte Lord. „Wir haben schon Morgen früh.“
„Dann eben gleich. Wir hätten jedenfalls die Möglichkeit, ein bisschen zu schlafen. Wir haben genug Zeugen aus der Gaststätte, um ihn für den Mord an Francks festnageln zu können. Und was die Kinderleiche im Kofferraum angeht, die läuft uns nicht weg –„
Lord schnaufte.
„Ja, ich weiß, wie sich das anhört. Aber wir haben den Kerl in Gewahrsam, und da bleibt er auch. Das mit Francks ist nicht nur dringender Tatverdacht, Berting war es. Den holt uns kein Anwalt hier raus, mal ganz davon abgesehen, dass er ja noch gar keinen Anwalt hat. Und wir müssen die Ergebnisse aus der KTU abwarten, bevor wir sicher wissen, wer das Kind ist. Auch, wenn wir uns wegen der Kleidungsreste fast sicher sein können ...“
„Es ist Hanna“, stellte Lord qualmend fest. „Ich weiß es.“
„Ich bin mir eigentlich auch fast sicher“, stimmte Jener zu.
„Wir haben ihn, Volker. Wir haben ihn.“
„Und genau da bin ich mir nicht so sicher, Andy“, erwiderte Jener und hielt Lords kritischem Blick stand. „Aber was ich weiß, ist, dass ich um spätestens Viertel nach 5 Uhr im Bett liege. Ich ruf noch kurz die Kollegen an, dass sie Berting in die Zelle schaffen. Und dann bin ich raus hier.“
„Ich zuerst. Ich verlass mich drauf, dass der Kerl morgen noch atmet“, antwortete Lord mit müdem Grinsen und warf seinen Zigarettenstummel in Jeners Kaffeetasse, in der er zischend verlosch.
„Danke“, sagte Jener.
Lord schwang sich aus seinem Drehstuhl hoch, fischte seine Jacke von der Stuhllehne und ging zur Tür. „Schlaf gut, Schatz“, säuselte er und hatte schon wieder eine Kippe im Mund. „Und träum was Schönes!“
„Du mich auch!“ murmelte Volker Jener, als er zum Telefonhörer griff. Sein Blick wanderte zur Uhr über der Tür. 4:42 Uhr. Vor ziemlich genau viereinhalb Stunden hatten sie den Anruf aus dem Ochsenhof erhalten. Und seitdem hatte es nichts als Fragen gegeben. Und nicht eine einzige Antwort. Die ganze ekelhafte Angelegenheit war ein einziges, großes, verrücktes Rätsel.

„Da hinein“, sagte das Mädchen mit der roten Jacke und deutete auf einen Feldweg, der im Licht der Scheinwerfer auftauchte. „In den Weg da vorne.“
Klaus-Dieter Berting lenkte den Wagen wortlos von der baumbewachsenen Allee in den Abzweig, der offenbar in ein nahegelegenes Nadelwäldchen führte. Seine innere Unruhe wuchs, Schweißperlen bildeten sich auf seiner zittrigen Oberlippe. Irgendwo in seinem Inneren fragte er sich, weshalb er so dumm gewesen war, das Mädchen mitzunehmen, wieso ausgerechnet er es gewesen war, der auf der dämmrigen, menschenleeren Straße das Mädchen hatte auflesen müssen. Er hätte einfach vorbeifahren können, inzwischen war er sich sicher, dass er hätte vorbeifahren müssen. Er konnte es nicht mehr länger unter Kontrolle halten, er konnte das Mädchen nicht mehr länger schützen.
Er wusste von seiner Schwäche, er wusste von ihr, seit das wilde Tier in ihm damals auf seine Nichte Liane losgegangen war. Zum Glück war nichts weiter passiert, Lianes Mutter war hereingekommen, und Liane hatte geweint, aber nur Berting hatte realisiert, was wirklich passiert war. Er hatte sich zusammenreißen müssen, als er seinem Bruder und seiner Frau erklärte, dass er nur mit Liane gebalgt und dabei wohl etwas übertrieben habe, aber die beiden hatten es ihm geglaubt. Nur Liane hatte seitdem Angst vor ihrem Onkel Didi. Onkel Didi hatte seitdem ebenfalls Angst, Angst vor dem Tier. Er besuchte seinen Bruder und dessen Familie nur noch selten, und er zwang sich, keine Zeit allein mit den Kindern zu verbringen. Sein Bruder machte ihm Vorwürfe deswegen, aber was wusste sein Bruder schon von dem Tier?
Berting arbeitete als Außendienstmitarbeiter für einen Zeitschriftenvertrieb und war daher viel unterwegs. Er hatte einen Zuständigkeitsbereich von über 250 km Radius, innerhalb dessen er insgesamt fast 400 Kioske, Zeitschriftenhändler und Supermärkte betreute und ihnen Neuerungen im Programm vorstellte. Er war viel unterwegs, er wohnte viel in Hotels. Er lebte allein, und er fand, dass das gut war. Niemandem konnte und wollte er das Tier zumuten müssen, das in ihm wohnte. Berting war zufrieden und erfolgreich in seinem Beruf, denn er war immer unterwegs, immer in Bewegung, er konnte immer Distanz zwischen sich selbst und andere Menschen bringen. Er beneidete seinen Bruder, der eine schöne Frau und drei wundervolle Kinder hatte, aber ihm selbst war solches Glück versagt. Das Tier hätte seine Familie zerstört, seine Kinder gefressen, es hätte sich heulend auf den Kadavern seiner Lieben gewälzt, dessen war sich Berting sicher.
Berting hatte versucht, das Tier zu kontrollieren, es zu bändigen. Jeder Tag war ein Ringen um diese Kontrolle. Es gelang ihm, das Tier zu beherrschen, meistens jedenfalls. Aber einmal war es ausgebrochen und hatte seine schrecklichen Bedürfnisse gestillt. Damals hatte auch ein Mädchen an der Straße gestanden, ein niedliches Kind, mit blonden Haaren und einem rosa-karierten Top und dazu passendem Röckchen und Turnschuhen. Sie hatte ihm zugewinkt, als er vorübergefahren war, so, wie es das Mädchen in der roten Jacke heute ebenfalls getan hatte, und das Tier hatte den Wagen gebremst. Es hatte das Mädchen angesprochen, es hatte ihm Komplimente gemacht, es ins Auto gelockt, und dann war es mit ihm davongefahren. Berting erinnerte sich mit Grauen daran, was das Tier danach gemacht hatte, es hatte ihn in den Käfig gesperrt, in dem es sonst von Berting gehalten wurde. Berting sah dem Tier dabei zu, wie es in einen Waldweg abbog, wie es das Mädchen schlug, ihm drohte und es wieder schlug. Schreiend warf sich Berting gegen die Stäbe des Käfigs, aber er konnte nicht heraus, er konnte nicht helfen, konnte das Tier nicht einfangen. Es warf sich auf das Kind, es riss ihm die schönen Kleider vom Leib und befriedigte seine furchtbaren Gelüste, nicht nur einmal, sondern wieder und wieder, und als das Mädchen schrie, drückte es das Mädchen nieder, drückte ihr das Gesicht zu Boden, bis es still war und nicht mehr schrie.
Und plötzlich war das Tier wieder fort gewesen, und Berting stand da, auf einer Waldlichtung, die Hosen an den Knöcheln, verschwitzt und besudelt, und das schöne Mädchen lag geschändet und tot vor ihm am Boden. Berting wusste, dass es seine Schuld war, dass er versagt hatte. Das schöne Mädchen, es hatte ihm gesagt, dass es Frauke hieß, so ein schöner Name für so ein schönes Mädchen, und er war schuld, dass es jetzt tot war, und nie wieder schön sein würde, weil er das Tier nicht beherrscht hatte.
Berting hatte den Körper des Mädchens in eine Decke gehüllt, die er im Kofferraum hatte, er hatte seine Haarspangen eingesammelt, die das Tier ihm abgerissen hatte, so schöne Haarspangen für die schönen Zöpfe, die zum dem hübschen Rock und dem Top passten, und den einen Schuh, den es verloren hatte. Er hatte das Mädchen in seinen Kofferraum gelegt, vorsichtig, und war dann nach Hause gefahren, mehr als 100 Kilometer ohne Pause. Das Mädchen hatte er in dem Schrebergarten vergraben, den er von seinen Eltern geerbt hatte, unter dem Komposthaufen, auf dem Kürbisse und Zucchini wuchsen, mehr als einen Meter tief, damit die wilden Tiere nicht an dem schönen Mädchen nagten, so wie das Tier in ihm es bereits getan hatte. Er legte Steinplatten auf das Grab, dann schaufelte er den Kompost wieder darauf. Er wollte das Mädchen beschützen, so wie er alle Mädchen beschützen wollte.
„Hier anhalten“, sagte das Mädchen in der roten Jacke jetzt. „Da vorne ist die Stelle.“ Und schon war es aus dem Wagen. Berting musste für einen Augenblick unaufmerksam gewesen sein, in Gedanken, denn da stand das Mädchen, vor dem Wagen, halbrechts, im Scheinwerferlicht der Beifahrerseite. Gerade eben hatte es doch noch neben ihm gesessen ... Berting spannte sich, er musste aufpassen: das Tier begann wieder, ihn herauszufordern, es störte seine Konzentration, es wehrte sich, es wollte ihn dazu bringen, den Käfig aufzusperren und es herauszulassen zu dem Mädchen. „Nein“, ächzte Berting und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Regentropfen prallten gegen die Windschutzscheibe, dicke, schwere Tropfen.
„Komm“, rief das Mädchen in der roten Jacke, das jetzt ein Stück weit im Fichtenwald stand und ihm zuwinkte. „Hier vorn ist die Stelle!“ Berting schaltete den Moter seines Wagens aus, ließ den Schlüssel aber in der Zündung stecken, um das Licht brennen zu lassen. Er öffnete mit dem Hebel unter dem Lenkrad seines Wagens den Kofferraum und stieg aus. Der Regen fiel jetzt dicht, es waren kalte, nasse Tropfen, die durch die laue Nachtluft fielen und sein Haar und die Schultern bald durchnässt hatten. Er holte den kleinen Klappspaten aus dem Kofferraum, der neben dem Erste-Hilfe-Kasten befestigt war, und folgte dem Mädchen mit der roten Jacke, das sich nach ihm umblickte und noch tiefer in den Fichtenwald hineinging. Den Kofferraum ließ er offen.
Berting blickte zu dem Mädchen. Eine seltsame Ruhe hatte ihn erfasst. Das Tier hatte plötzlich aufgehört zu toben, Berting spürte, wie es sich zurückgezogen hatte, wie es sich vor etwas ängstigte. Irgendetwas hatte sich verändert, der Ort hatte etwas Magisches, etwas Verfluchtes. Mit einem Ruck setzte sich Berting in Bewegung. Er musste das Mädchen retten.

„Herr Berting!“ sagte Andreas Lord lauter, als er beabsichtigt hatte. Berting, der in einem blauen Baumwollhemd und einer passenden Hose auf der Bettkante seines Zellenbetts saß, in dem er die Nacht verbacht hatte, zuckte zusammen und blickte den Beamten unterwürfig an. „Ich will von dem Tier nichts mehr hören. Die ganze Nacht haben Sie uns damit in den Ohren gelegen. Aber da war kein Tier, Herr Berting, das haben die Zeugen übereinstimmend ausgesagt, da waren nur Sie und ihr Spaten. Kein Tier. Kein Hund, keine Katze, keine Maus. Nichts!“
„Das Tier ...“, murmelte Berting und rieb sich abwesend die rechte Hand mit der Linken. Lord rollte mit den Augen, schnaufte entnervt, drehte sich um und schlug mit der Faust zweimal gegen die Zellentür. Der Beamte im Gang öffnete ihm.
„Wir werden Ihnen im Laufe des Vormittags einen Pflichtverteidiger vorbeischicken, Herr Berting“, sagte Lord im Hinausgehen und steckte sich bereits eine Zigarette in den Mundwinkel. „Vielleicht lassen Sie sich bis dahin ja mal was einfallen, das irgendeinen Sinn ergibt. Irgendeinen, egal welchen, Hauptsache, sie hören auf, uns weiter diesen Schwachsinn zu erzählen!“ Die massive Tür fiel geräuschvoll ins Schloss. „Was für ein Riesenarschloch!“ sagte Lord zu dem Beamten, der die Tür geöffnet hatte.
In der Zelle saß Berting auf der Bettkante. Und lächelte.

Der Regen hatte sich in den vergangenen Stunden zu einem Unwetter ausgewachsen. Berting fuhr durch den strömenden Regen, den Oberkörper dicht an das Lenkrad gedrückt. Die auf der höchsten Stufe arbeitenden Scheibenwischer mühten sich, die beschlagende Windschutzscheibe vom wie aus Eimern herabprasselnden Wasser zu befreien. Das Mädchen in der roten Jacke saß unangeschnallt neben ihm und baumelte mit den Beinen.
Aus Bertings schmutzverkrusteten Haaren tropfte Wasser, sein Gesicht glänzte. Seine ebenfalls erdverschmierten Hände hielten das Lenkrad wie in einem Krampf umfasst. Er war zu spät gekommen, das Tier hatte ihn schon wieder überlistet. Er warf mit einer heftigen Kopfbewegung, die Regenwasser und Lehmbröckchen im Wageninnern verteilte, einen Blick in den Fond des Wagens, auf dessen Rückbank der Klappspaten und ein glänzender Klumpen lagen.
„Es ist nicht mehr weit“, sagte das Mädchen in der roten Jacke und lächelte Berting an. Er schnaufte, Wasser spritzte mit seinem heftig ausgestoßenen Atem gegen die Innenseite der Windschutzscheibe.
Er verstand nicht, was geschehen war. Er hatte gegraben, an der Stelle, die ihm das Mädchen gezeigt hatte. Er hatte gegraben, im immer stärker fallenden Regen, und er hatte etwas gefunden, etwas Schreckliches. Das Tier war hier gewesen, es hatte gewütet und seine Lust gestillt, und es hatte getötet. Berting hatte das, was das Mädchen ihm gezeigt hatte, aus dem Loch geholt, und er hatte es in den Kofferraum seine Autos gebracht, vorsichtig dort hineingelegt. Dann hatte er sich neben dem Wagen übergeben, zweimal. Das Mädchen in der roten Jacke hatte geduldig auf ihn gewartet und ihm dann gesagt, er müsse noch etwas finden, es sei noch etwas in dem Loch.
Also war er zurückgegangen und wieder hinabgestiegen, er hatte sich hingekniet und in der nassen Erde gegraben, mit seinen bloßen Händen, und er hatte etwas zu fassen bekommen, das er schließlich herauszog aus dem morastigen Boden, trotz aller Gegenwehr, die es ihm leistete. Als er aus dem Erdloch herausgekrochen war, hatte er kurz auf dem Bauch liegend ausgeruht, so erschöpft war er gewesen. Er hatte geschluchzt, alles war hoffnungslos und schrecklich, er hatte versagt. Das Mädchen in der roten Jacke hatte gerufen, es stand am Wagen und winkte ihm zu. Berting kämpfte sich auf die Knie, dann auf die Füße, packte seinen mit Wasser und schlammiger Erde vollgesogenen Fund und den Klappspaten, der neben dem Loch im Boden steckte und taumelte zum Wagen. Er warf die Kofferraumklappe zu und taumelte um den Wagen zur Fahrerseite. Er öffnete die hintere Tür und warf seine beiden Mitbringsel auf den Rücksitz, dann schloss er die Tür wieder, zog die Fahrertür auf und ließ sich schwer hinters Steuer sinken. Das Mädchen hatte bereits im Wagen gesessen.
„Es ist nicht mehr weit“, sagte es jetzt wieder.
Berting drosselte die Geschwindigkeit, als er ein Ortschild im Licht der Scheinwerfer erblickte. Er konnte durch den strömenden Regen nicht erkennen, was auf dem Schild stand, eine größere Ortschaft konnte es aber nicht sein, denn es gab auf der Hauptstraße nur vereinzelt Laternen. Berting verlangsamte seine Fahrt weiter. Vor ihm wurde es heller, ein Fahrzeug kam ihm entgegen, dann war es vorüber.
„Da vorne ist es!“ rief das Mädchen aufgeregt. „Halt an, halt an!“
Berting fuhr rechts auf den Bordstein und stoppte den Wagen. Er atmete schwer und blinzelte, die Scheibenwischer arbeiteten hektisch weiter, in den Regentropfen, die sie fortwischten, brach sich das Licht einer Gastwirtschaft. Das Mädchen stand auf dem Bordstein und winkte ihm zu, winkte ihn zu sich. Berting schnallte sich los, öffnete die Tür. Bevor er ausstieg, drehte er sich um und nahm den schmutzstarrenden Klappspaten vom Rücksitz. Er schwang seine Füße aus dem Wagen, wechselte den Spaten in die Linke, zog sich mit rechts am Rahmen hoch. Er war müde, aber das Mädchen lief bereits auf den Eingang der Gaststätte zu und rief nach ihm. Das Mädchen in der roten Jacke brauchte ihn. Bevor Berting die drei Stufen zur Gastwirtschaft hoch schlurfte, schaute er die Straße hinunter. Sogar durch den Regen erkannte er auf der Uhr des ausgeleuchteten Kirchturms, dass es wenige Minuten nach Mitternacht war. Er fasste den Spaten fester und ging hinein. Das Tier wartete.

„Also, damit ich das richtig verstehe“, sagte Lord und rieb sich die Schläfen. „Es gibt keine Beziehung zwischen Berting und diesem Francks, dem er dem Schädel eingeschlagen hat, verstehe ich das richtig?“
„So sehe ich das“, erwiderte Dr. Martin Freund, dem Lord entgegen seiner Pläne vom frühen morgen nicht den Marsch geblasen, sondern stattdessen zur Geburt einer gesunden Tochter gratuliert hatte. „Herr Berting ist ganz sicher nicht zurechnungsfähig zu nennen, jedenfalls im Moment nicht. Es ist natürlich eine genauere Untersuchung notwendig, auf jeden Fall, wenn es zur Anklage kommt.“
„Es wird zur Anklage kommen, darauf kannst Du Gift nehmen!“, knurrte Lord und zog an einer unvermeidlichen Zigarette.
„Wenn, Andy, nicht falls“, warf Volker Jener ein, der seinerseits an einem Kaffee nippte. „Natürlich kommt es zur Anklage. Auf jeden Fall wegen des Mordes im Ochsenhof.“ Seine Kollegen hoben die Augenbrauen, zur Antwort wedelte Jener mit einer Aktenmappe. „KTU, erste Ergebnisse“, erklärte er. „Ich habe bislang nur die Obduktion von Francks überflogen.“
„Lass mich raten“, sagte Lord. „Todesursache: Massives Schädel-Hirn-Träume verursacht durch – dramatische Pause: ... einen Klappspaten!“
„Volle Punktzahl, Andy“, erwiderte Jener ohne Begeisterung. „So oder so ähnlich. Er hat außerdem so viel Blut verloren, dass er selbst als Stammhirndenker keine Überlebenschance gehabt hätte. Der Schlag hat ihm das Hirn quasi halbiert. Liest sich ganz informativ, ich bin nur heilfroh, dass ich mir das nicht noch mal aus der Nähe anschauen musste. Der erste Anblick gestern hat mir wirklich gereicht. Drei Streifenbeamte haben sich die Seele aus dem Leib gekotzt. Ich hätte mich gerne dazugestellt.“
„Wir haben das Geschehen aus den Zeugenaussagen folgendermaßen rekonstruiert“, erklärte Lord und drückte seine Zigarette aus. Er griff nach der Packung, um eine neue an der freigewordenen Stelle in seinem Mund zu platzieren.
„Kannst Du das vielleicht mal lassen?“ fragte Dr. Freund, und fügte hinzu: „Du weißt, dass Du davon unfruchtbar werden kannst, oder?“
„Jaja, und dass meine Haut altert und ich meine Mitmenschen umbringe. In eine beschissene Welt wie diese mit solchen Dreckschweinen wie Berting will ich sowieso keine Kinder setzen. Und damit mir das nicht versehentlich passiert„ – er hob seinen beiden Kollegen die Zigarettenschachtel entgegen – „töte ich eben meine Spermatozoen.“ Lord bemerkte Dr. Freunds Blick und fügte hinzu: „Das ist natürlich nur meine private Meinung, Martin. Bleibst Du noch lange, oder wolltest Du ...“
„Ich schreib noch kurz meinen Bericht über das Gespräch mit Berting, dann sehe ich zu, dass ich ins Krankenhaus komme, um meine Frau und meine Tochter abzuholen“, erwiderte Dr. Freund. „Du wolltest gerade erzählen, wie weit ihr den Vorgang rekonstruiert habt. Das wäre vielleicht auch ganz interessant für mich. Wenn Du unbedingt Deine Spermien killen musst, wegen mir auch mit Kippe.“
„Nee, lass mal, die kann ich auch später killen. Also. Um 0 Uhr und 7 Minuten betritt Klaus-Dieter Berting die Gastwirtschaft ‚Zum Ochsenhof’. Er fällt der Wirtin sofort auf, weil er über und über mit Dreck verschmiert ist und klatschnasse Kleidung trägt. Außerdem stinkt er erbärmlich, und zwar, Zitat: ‚als hätte er sich in Scheiße gewälzt’. Woher das kam, wissen wir inzwischen. Er kommt also rein und schaut sich zunächst einmal verwirrt um. Dann geht er zielstrebig durch den Schankraum auf den um diese Uhrzeit einzig noch besetzten Tisch zu, an dem Henning Francks und drei weitere Männer Skat kloppen. Frau Klapp, die Wirtin, hat zu Protokoll gegeben, dass er ...Augenblickchen“, Lord blätterte in einer Akte „... ‚wie so ein Besoffener rumgetorkelt ist und diesen Spaten hinter sich hergeschleift hat’. Die Frau ist vom Fach, die kennt sich mit Besoffenen aus. Die Blutuntersuchung hat aber ergeben, dass Berting stocknüchtern gewesen ist. Jedenfalls geht er an den Tisch, schaut sich die Männer an. Er steht in Francks Rücken. Die drei Männer am Tisch, ein ...“ Lord blätterte kurz nach, „... Jürgen Hartmann, ein Karl Beyer und ein Gregor, ähm Ritschlitschek, ich weiß nicht, wie man das spricht, sagen aus, dass Francks sich umgedreht hat, vermutlich, weil er wissen wollte, weshalb seine drei Mitspieler so große Augen machen, oder wegen des Geruchs, und dass er Berting gefragt hat, Zitat: ‚Was ist denn mit Ihnen passiert?’ Nicht sonderlich originell, aber ich hätte das vermutlich auch gefragt. Als Antwort hat Berting ihm den Klappspaten mit aller Kraft in den Schädel geschlagen, mit voller Wucht, wie mit einer Axt.“
„Du vergisst was, Andy“, warf Jener ein. “Hartmann und der Ritzliczek haben übereinstimmend ausgesagt, dass Berting erst mal einen Schritt zurück gegangen ist, so als hätte er sich erschrocken. Und dann hat er zugeschlagen.“
„Danke, Doktor Freud. Was sich in Bertings kranker Birne abspielt, muss dann wohl einer von der Psychologischen rausfinden, wir sind leider nur Kriminalbeamte“, erwiderte Lord spöttisch. „Weiter geht es also: Er schlägt Francks die Rübe ein, dann geht er wieder nach draußen –“
„Du vergisst schon wieder was: Einer der Zeugen sagt aus, dass Berting gelächelt hat, nachdem er Francks erschlagen hatte. Regelrecht gestrahlt hat er wohl, gib mal die Akte ...“ Jener ließ sich von Lord die Aktenmappe reichen, in der die Aussagen aufbewahrt wurden und blätterte kurz darin. „Hier, Hartmann hat dazu gesagt: ‚er hat regelrecht glücklich ausgesehen, das Schwein.’ Ich finde das außerordentlich eigenartig. Vor allem vor dem Hintergrund dessen, was er im Kofferraum hatte.“
„Na gut, er schlägt zu, freut sich ´ne Runde und geht dann raus und setzt sich in den Wagen. Und wartet da, bis die von Frau Klapp benachrichtigen Kollegen auftauchen, um ihn festzunehmen. Wir nehmen ihn in Gewahrsam und beschlagnahmen seinen Wagen, der vollkommen verdreckt ist und in dem es bestialisch nach Verwesung stinkt. Im Kofferraum finden die Kollegen die stark verwesten Überreste eine Kindes, bei dem es sich höchstwahrscheinlich um die vermisste Hanna handelt. Haben wir da schon was von der KTU?“
„Das habe ich mir noch nicht genau anschauen können“, erwiderte Jener und schlug die KTU-Berichtsmappe auf.
„Was mir völlig unerfindlich ist“, warf Dr. Freund ein,“ ist, warum Berting ausgerechnet Francks ermordet. Die beiden haben wirklich überhaupt keine Berührungspunkte. Berting ist Zeitschriftenvertreter und ständig unterwegs, Francks war Küster an der Kirche direkt gegenüber von der Kneipe, in der er ermordet wurde, und hat die Gemeinde nur verlassen, um in Urlaub zu fahren. Bertings Eltern sind seit zwölf Jahren tot, Francks Eltern lebten mit ihm zusammen im Küsterhaus an der Kirche. Berting hat einen Bruder, Francks war Einzelkind. Berting und Francks wohnen über 130 Kilometer auseinander, sind sich offenbar nie persönlich begegnet, kannten einander nicht einmal. Warum bringt man jemanden um, den man überhaupt gar nicht kennt? Irgendein Motiv muss es doch geben ...“
„Bertings Motiv ist die schimmelige Erbse im Hohlraum zwischen seinen Ohren, Martin“, versetzte Lord brüsk, inzwischen wieder mit Zigarette im Mund. „Da kannst Du nicht mit Vernunft rangehen, der Typ ist vollkommen jenseits von Gut und Böse.“

Der Regen fiel unvermindert. Berting saß im Wagen, die Türe offen und die Füße auf der Straße. Er sah die Männer nicht, die im Eingang der Gastwirtschaft „Zum Ochsenhof“ standen und ihn im Auge behielten, zu entsetzt, um ihn zu überwältigen, aber fest entschlossen, ihn am Verlassen des Schauplatzes seines grauenvollen Verbrechens zu hindern.
Berting war glücklich, geradewegs entrückt. Er hatte dem Tier ins Auge geblickt und er hatte es besiegt. Das Mädchen in der roten Jacke hatte ihn zum ihm geführt. Als er die Wirtschaft betrat, war er kurz unsicher gewesen, wie er das Mädchen beschützen konnte, aber dann hatte er das Tier gespürt, es saß an einem Tisch, an dem vier Männer Karten spielten. Er hatte tief Luft geholt und war dann hinübergegangen.
Dreien der vier Männer hatte Berting in die Augen sehen können, aber in ihnen hatte er das Tier nicht erkennen können. Nur das Gesicht des vierten Mannes, der mit dem Rücken zur Tür saß, war ihm verborgen geblieben. Die Wirtin, die er aus den Augenwinkeln hinter dem hölzernen Tresen hatte stehen sehen, hatte ihm etwas zugerufen, aber Berting hatte nicht verstanden, was. Ein intensiver werdendes, vielstimmiges Rauschen und Dröhnen hatte seine Ohren erfüllt. Einer der Männer am Tisch hatte sich bewegt, eine Geste gemacht, als hätte er auf ihn zeigen wollen, und der Mann, dessen Gesicht Berting nicht hatte sehen können, hatte sich zu ihm umgedreht.
Die grauenhafte Fratze, in die Berting dann geblickt hatte, war ihm bis ins Mark gefahren, hatte ihn zurücktaumeln lassen. Das verzerrte Gesicht hatte ihn zutiefst erschrocken, nie hätte er gedacht, dass ein Mensch so sehr vom Tier würde beherrscht werden können, dass sogar seine Gesichtszüge hinter dem tierischen Antlitz der Bestie würden zurücktreten würden. Hier aber, im Gesicht dieses Dings, dem sich Berting gegenübersah, hatte er den furchtbaren Beweis erblickt.
Durch das Rauschen in seinen Ohren hatte Berting ein gutturales Grollen vernommen, und er verstand, dass das Tier zu ihm sprach. Er hatte aber nicht verstehen können, was es ihm mitzuteilen versuchte, das einzige, was deutlich zu verstehen gewesen war, war die Stimme des Mädchens, das neben ihm stand und auf die verzerrte Grimasse zeigte.
„Der da“, hatte es gesagt. Aber es hätte genauso gut nichts sagen können, Berting wusste es bereits, natürlich war es der da gewesen, immer schon war es der da gewesen, der sich dem Tier geschlagen gegeben hatte, der seinen, Bertings Kampf gegen die Bestie durch seine Niederlage verhöhnte. Berting hatte den Stiel seines Klappspatens mit beiden Händen gepackt, im weiten Bogen ausgeholt und ihn dem Tier mit der Kante des scharfen Spatenblatts voran in den Schädel geschmettert, mitten hinein in das verunstaltete Gesicht, in dem er sein eigenes Versagen erkennen musste. Der Schädel war bis zur Nasenwurzel gespalten worden, das Blut der Bestie war herumgespritzt, auf Berting, auf die übrigen Kartenspieler am Tisch, überallhin. Ein letztes grollendes Röcheln hatte sich der Kehle des Tiers entrungen, dann war es tot zusammengesackt. Seine wilden Züge traten hinter das ausdruckslose Gesicht des Mannes zurück, der von ihm beherrscht worden war. Berting hatte gewonnen.
Über das ganze Gesicht strahlend hatte er sich umgedreht, die Schreie und Rufe der Männer und der Wirtin nicht achtend, hatte dem Mädchen zugezwinkert, das an der Tür auf ihn wartete, und war hinaus in den immer noch strömenden Regen getreten. Er hatte nach links, dann nach rechts geblickt, dann wieder nach links, wo er seinen Wagen geparkt hatte. Er hatte es nicht eilig, er musste nirgendwo hin. Er war nicht mehr auf der Flucht vor dem Tier, er hatte es besiegt, getötet. Er war frei.
Also hatte er sich in seinen Wagen gesetzt, einfach hineingesetzt, die Fahrertür offen, die Füße auf der Straße, und hatte gewartet. Er schaute sich nach dem Mädchen um, aber er konnte es nicht sehen. Es war schon spät, die Digitaluhr am Armaturenbrett zeigte 00:14, sicherlich war es nach Hause gegangen. Recht so, das liebe Mädchen. Er blinzelte, als er aus einem Sekundenschlaf hochfuhr, er war müde, sehr müde, der Tag war lang und anstrengend gewesen. Berting erkannte Lichter, weiße und blaue und gelbe, er hörte ein vielstimmiges Heulen durch das Rauschen des Regens, es war wie in der Gaststätte, nur dass das Rauschen und Heulen diesmal von der Straße kam. Berting schloß die Augen, als das Licht ihn blendete, und er hielt sie auch geschlossen, als er von den Polizisten zu Boden gedrückt wurde und man ihm Handschellen anlegte.

Jener sagte: „Hm?“ was Lord veranlasste, zu ihm herüberzublicken. Dr. Freund hatte sich in sein Büro verabschiedet, um den Bericht über seinen Eindruck von Bertings Zustand zu schreiben.
Jener reagierte nicht. „Hm“, brummte er nur wieder. Stirnrunzelnd studierte er die KTU-Akte und murmelte vor sich hin, blätterte von hier nach dort und wieder zurück.
„Was, hm?“ fragte Lord.
Jener schaute ihn an, man sah regelrecht die gedanklichen Kraftanstrengungen, die sich hinter seiner Stirn ereigneten. „Ich versteh das hier nicht“, sagte er.
„Ich auch nicht, Volker“, erwiderte Lord. „Weil ich leider nicht weiß, was Du nicht verstehst. Kannst Du mir vielleicht irgendeinen Tipp geben, was Du genau nicht verstehst.“
„Also, gut, ich kapier’s nicht, aber bitte. Der Mord an Francks ist eine wasserdichte Sache, die Indizienkette und Zeugenaussagen lassen ihm da definitiv kein Schlupfloch mehr. Er hat uns an dem Spatengriff ein paar bildhübsche Abdrücke hinterlassen.“
„Das kann ich Dir gerne erklären“, feixte Lord. „Das ist so, weil Berting den Klappspaten in der Hand hatte, als er ihn Francks in die Birne gehackt hat. Ist doch gar nicht so schwierig zu verstehen, oder?“
„Scherzkeks. Also, die KTU hat von allen Anwesenden Fingerabdrücke genommen, auch von dem Toten natürlich. Routine. So, und jetzt kommt’s. Die Abdrücke haben eine ziemlich merkwürdige Verbindung zwischen Francks und Berting ergeben. Du weißt doch, was auf Bertings Rücksitz gelegen hat?“
„Ja-ha“, drängte Lord ungeduldig. „Und?“
„Da drin, in einer Tasche, hat die KTU die Umverpackung von Karamellbonbons gefunden, solche die in Glanzfolie eingewickelt sind. Und da drauf haben sie Fingerabdrücke gefunden. Von Francks.“
Lord sagte zur Abwechslung mal nichts. Die Zigarette glimmte in seinem Mundwinkel vor sich hin, bis Lord sie scharf einatmend aus dem Mund nahm, weil der Rauch ihm in den Augen brannte.
„Das habe ich auch gedacht“, sagte Jener.
„Warte mal“, gab Lord zurück und kniff sich in die Nasenspitze. „Du willst mir sagen, dass Francks Fingerabdrücke auf Bonbonpapier sind, das seit einem Jahr unter der Erde gelegen hat?“
„Die Tasche hatte einen Reißverschluss. Und war wasserdicht. Da ist seitdem nicht reingekommen, keine Feuchtigkeit, kein Garnichts. Die KTU sagt, dass die Abdrücke zweifelsfrei die von Francks sind.“
„Aber das würde ja heißen ... also wenigstens würde das heißen, dass er ... dass er sie kurz vor ihrem Tod ...“, Lords Stimme versiegte, er schüttelte ungläubig den Kopf.
„Das würde das heißen“, sagte Jener. „Wir haben unseren Mann, Andy.“

Jener stand neben dem Wagen von Berting im allmählich weniger dicht herabprassenden Regen. Der völlig durchnässte, ekelerregend stinkende Berting war von den Kollegen bereits abtransportiert worden. Die KTU war zunächst mit nur einem Wagen angerückt, hatte aber nach dem Fund der Leiche in Bertings Kofferraum noch einen weiteren Wagen bestellt, auf dessen Ankunft Jener noch wartete. Zwei Leichenwagen standen ebenfalls an der Straße und warteten, dass der Fotograf und die Spurensicherer mit ihrer Arbeit an den beiden Toten fertig waren.
Jener hörte ein würgendes Geräusch und blickte hinüber zur Tür der Gaststätte, aus der soeben ein junger Beamter heraustaumelte und sich unmittelbar neben dem Eingang erbrach. Jener versuchte, sich nicht die Bilder in erinnerung zu rufen, die er beim Betreten des „Ochsenhofs“ hatte erblicken müssen: Das Blut, das sich in einer großen Lache um den Stuhl herum ausgebreitet hatte, auf dem der auf schreckliche Weise ermordete Henning Francks saß, die Beine von sich gestreckt, die Arme schlaff an den Seiten herabhängend, den gespaltenen Schädel in den Nacken gelegt. Der Klappspaten steckte noch immer im Schädel, so als hätte der Mörder ihn danach einfach vergessen, so, wie man einen Regenschirm vergaß, wenn es draußen aufgehört hatte zu regnen.
Jener spürte, wie sich seine Mundwinkel spannten, wie sein Körper sich übergeben wollte, aber er biss die Zähnen zusammen und unterdrückte den aufwallenden Brechreiz. Am Wagen zu stehen machte die Sache nicht besser, es roch nach Verwesung, nach Scheiße, nach Schweiß, es stank wie in einem Raubtierkäfig. Aber er konnte den Wagen und das Mädchen, das vermutlich in seinem Kofferraum lag, nicht allein lassen. Es war viel zu lange allein gewesen.
Jener schirmte seine Augen mit der Hand ab, als ein Fahrzeug die Straße herunter auf ihn zukam. Es waren die Kollegen der KTU. Er winkte sie zu sich und sprach einen der Beamten, den er als Hennes Falk erkannte, an: „Schön, dass ihr da seid.“
„Ansichtssache“, erwiderte der Falk kurz.
„Ja. ’Tschuldige, es ist eigentlich wirklich nicht schön. Lord ist mit den Kollegen schon bei unserem Hinrichtungsopfer in der Kneipe. Wir müssen uns den Wagen vornehmen.“
„Wenigstens hat der Regen aufgehört“, meinte Falk und riss eine Packung Latexhandschuhe auf.
„Die Überreste sind im Kofferraum“, erklärte Jener. „Aber bevor ihr damit loslegt, auf dem Rücksitz liegt auch noch was, das sollten wir vielleicht zuerst sicherstellen.“
Falk zog sich die Handschuhe über und ließ dabei das Gummi knallen. Dann holte er eine kleine Dose hervor und rieb sich die weiße Substanz darin auf die Oberlippe. „So, dann wollen wir mal sehen.“ Er trat an die hintere Tür an der Fahrerseite, öffnete sie und schaute herein. „Augenblick“, sagte er zu Jener und rief eine Kollegin, die noch am KTU-Fahrzeug stand. Als sie herüberschaute, gab Falk ihr ein Zeichen, das für jener aussah, als mache der Mann von der Spurensicherung Expanderübungen. Als die Frau mit einer durchsichtigen, großen Plastiktüte zu ihnen kam, dämmerte es Jener. Klar, Plastiktüte. Es war einfach zu spät für so etwas. Falks Kollegin schlug die Tüte auseinander und hielt sie auf. Falk beugte sich in den Wagen, um den Gegenstand vom Rücksitz herauszuholen.
Im Licht der Scheinwerfer war der Gegenstand gut zu erkennen, der da auf dem Rücksitz gelegen hatte, und obwohl er fast 11 Monate in der Erde gelegen hatte, kämpfte sich die Farbe durch die Patina aus Schlamm und Dreck und strahlte in die Nacht hinein. Jener musste schlucken, um die aufkommenden Tränen niederzukämpfen.
Es war eine Jacke. Hannas rote Jacke.

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich habe geschwankt, ob ich die Geschichte bei Horror oder Spannung/Krimi einstellen soll. Ich denke aber, daß sie hier besser aufgehoben ist.

Falls jemand einen Titelvorschlag hat, der nicht allzuviel vorab verrät, wäre ich dankbar. Gute Titel sind ja das Schwerste überhaupt. Und während ich mit der Geschichte sehr glücklich bin, ist der Titel da ausgemachter Mist. Wie gesagt, Vorschläge sind willkommen. Zur Geschichte natürlich auch.

bvw

 

Hi!

Also so schlimm finde ich den Titel gar nicht.

Deine Geschichte ist ziemlich lang, aber gut und in einem schönen Wechsel geschrieben.

Der größte Teil, so ziemlich alles zwischen dem ersten und letzten "Wechsel" ist dir recht gut gelungen. Leider ist der Anfang doch ein bisschen zu sehr 08/15, der lange Dialog an einigen Stellen unglaubhaft. Auch das Ende finde ich nicht sooo grandios, auch weil man schon ziemlich früh weiß, dass das Mädchen in der roten Jacke tot ist. Das ist zwar nicht weiter tragisch (ich meine, dass man schon früh weiß, wie die Geschichte ausgeht, nicht, dass das Mädchen tot ist), aber vielleicht sollte die Geschichte bereits einen Absatz früher enden?

Oder die Geschichte noch weiter ausarbeiten, dann steckt sogar Potential für 'nen Kurzroman drin.

Fazit: An vielen Stellen spannende Geschichte, schön erzählt, aber mit schwammigen Einstieg und Ende.

Trotzdem, weiter so.

Beste Grüße

Nothlia

 

Hallo, Nothlia.

Vielen Dank für's Lesen, vor allem, weil es - wie Du sagst - eine ziemlich lange Kurzgeschichte ist.

Das mit dem 08/15 müßtest Du mir nochmal erklären. Ich habe mir den Anfang auf Deinen Hinweis nochmal angeschaut und inzwischen (nicht hier, aber auf dem "Papier") ein paar Änderungen im Dialog vorgenommen. Wenn Dich bestimmte Punkte gestört haben, wäre das aber schön zu wissen.

Ich wollte mit diesem ersten Absatz nur das Thema und die Ermittler etablieren und die Geschichte nicht abrupt bei Berting im Auto starten lassen.

Der Schluß allerdings ist nicht verhandelbar. ;) Ich weiß, daß die Geschichte eigentlich den Klimax erreicht hat mit dem letzten Satz des vorletzten Abschnitts ("Wir haben unseren Mann, Andy.").

Es ist wie Du sagst auch nicht tragisch, daß man weiß, daß das Mädchen in der roten Jacke tot ist. Wobei mich schon interessieren würde, an welchem Punkt der Geschichte es Dir klargeworden ist.

Aber - hört sich vielleicht blöd an - ich war es dem Mädchen schuldig, auch seine Geschichte abzuschließen. Dazu gehörte die rote Jacke, in der die entscheidenden Beweise zur Klärung des Falls zu finden sind. Darum der letzte Abschnitt, für den ich mir gerne Verbesserungsvorschläge im Detail unterbreiten lasse. Aber ihn wegstreichen, das brächte ich nicht übers Herz.

Daß die Geschichte auch den Eignungstest zum potentiellen Kurzroman bestanden hat, adelt mich. Vielen lieben Dank.

Grüße
bvw

 

Hi!

Mit 08/15 am Anfang meine ich im Wesentlichen das erste Bild, dass von den beiden Polizisten entworfen wird (alte Kollegen, gute Freunde, Kippe im Mundwinkel, schwarzer Humor). Erinnert alles an zahllose Krimiserien, Krimiromane und Co. Hört sich aber jetzt böser an als gemeint. ;)

Die Personen in einem Dialog vorzustellen, ist aber nicht schlecht, vor allem in einer Kurzgeschichte. Dein Anfangsdialog ist in diesem Sinne aber vielleicht ein bisschen zu ausführlich. Es wird z.B. an mehreren Stellen dieser schwarze Humor eingesetzt. "Verteile" die Vorstellung der Polizisten doch ein wenig mehr über den weiteren Verlauf und stell sie anfänglich in einem kürzeren Dialog vor, woraus ein, zwei Charakterzüge der jeweiligen Person herauskommen.

Und vielleicht ein bisschen weg vom Klischee. Warum alte Kollegen UND gute Freunde UND die Kippe im Mundwinkel. Ist aber nur eine kleinere Kritik. ;)

Wann mir aufgefallen ist, dass das Mädchen tot sein muss, kann ich gar nicht mehr so genau sagen. Spätestens als Berting seinen Spaten aus dem Kofferraum holt, um damit die Leiche auszugraben. Aber eigentlich schon früher, die ruhige Wegbeschreibung des Mädchens fällt schon irgendwie auf.

Was, wie schon gesagt, gar nicht weiter schlimm ist.

Beste Grüße

Nothlia

 

Hallo, Nothlia.

Da habe ich dann wohl einen Tatort zuviel geschaut. Ich ging davon aus, daß in einer SOKO, die seit 11 Monate besteht (wie es hier ja der Fall ist), die Beamten zwangsläufig zum Du greifen und sich im Arbeitsalltag ein freundschaftlicher Ton einstellt. Ob Jener und Lord privat irgendwas miteinander zu tun haben oder sogar alte oder richtig gute Freunde sind, darüber habe ich mir gar keine Gedanken gemacht. Kommt das so rüber?

Vielen herzlichen Dank jedenfalls nochmal. immerhin bist Du hier mein einziger Kritiker. ;)

Gruß
bvw

 

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