- Beitritt
- 15.07.2004
- Beiträge
- 837
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 15
Jola und die explodierte Sonnenblume
*für die allerbeste Jola der Welt*
„Ich gehe heute nicht in den Kindergarten“, sagt Jola. „Auf gar keinen Fall gehe ich da hin. Damit das mal klar ist.“
Sie sitzt mit verschränkten Armen am Frühstückstisch. Von ihrem Käsebrot hat sie keinen einzigen Bissen gegessen und ihr Kakao steht unberührt vor ihr. Jeder soll sehen, wie ernst es ihr ist.
Mama runzelt die Stirn. „Warum denn das nicht?“, möchte sie wissen.
„Weil heute Sonntag ist“, behauptet Jola mit ernster Miene. „Und sonntags ist kein Kindergarten. Das weiß jeder.“ Sie hofft, dass Mama keinen Blick auf den Küchenkalender wirft.
Aber das muss Mama gar nicht. Sie weiß leider auch so, welcher Tag heute ist. „Was erzählst du denn da, Jölchen?“, fragt sie erstaunt. „Heute ist nicht Sonntag. Heute ist Dienstag. Sonntag war vorgestern.“
Jola starrt erst die Mama, dann den Kalender finster an.
„Stimmt! Heute ist Dienstag“, gibt sie widerwillig zu. „Aber… aber das habe ich vergessen“, beeilt sie sich dann hinzuzufügen. „Weil ich nämlich fürchterliches Fieber habe. Ja, genau. Ganz hohes Fieber habe ich. Mindestens vierzig Grad. Vielleicht sogar fünfzig.“ Als Beweis hustet sie ein bisschen und versucht schrecklich krank auszusehen.
Mama fasst Jola an die Stirn. Zuerst sieht sie ein wenig besorgt aus. Dann aber lächelt sie.
„Du hast kein Fieber. Und Husten hast du auch nicht“, sagt sie gerade in dem Moment, als Jola wieder lautstark damit anfangen will. „Ich glaube sogar, dass ich noch nie zuvor ein gesünderes Kind als dich gesehen habe.“
Jola zieht eine grimmige Grimasse.
„Ich geh trotzdem nicht in den Kindergarten“, sagt sie stur und überlegt kurz. Dann kommt ihr eine Idee. „Weil er doch explodiert ist!“, flüstert sie verschwörerisch.
„Der Kindergarten ist explodiert?“, fragt Mama und schlägt die Hand vor den Mund. „Das ist ja entsetzlich.“
„Genau“, ruft Jola laut. „Total entsetzlich. Vor fünfzehn Minuten. Krawumm! Überall Feuer. Und alles kaputt.“ Sie zögert einen klitzekleinen Moment, bevor sie ergänzt: „Und außerdem ist der Kindergarten auch noch überschwemmt. Alles komplett unter Wasser.“
Mama guckt jetzt ein bisschen komisch.
„Also, nur die Stellen, wo es nicht brennt natürlich“, sagt Jola rasch. „Aber du siehst, dass es wirklich keinen Sinn macht, heute in den Kindergarten zu gehen. Morgen, wenn sie wieder alles aufgebaut haben, ist es kein Problem mehr. Aber heute… nee, heute geht das wirklich nicht.“
Zufrieden lehnt sie sich zurück und beißt in ihr Brot. Wenn der Kindergarten explodiert ist und dazu noch unter Wasser steht, dann muss er einfach ausfallen. Das ist nur gerecht, findet Jola.
Aber Mama schüttelt den Kopf.
„Jölchen“, sagt sie sanft. „Das stimmt doch alles gar nicht. Wenn es wirklich eine Explosion gegeben hätte, wüsste ich schon längst Bescheid. Aus dem Radio.“
Jola wirft dem verräterischen Apparat einen wütenden Blick zu.
„Petze“, zischt sie und nimmt sich vor, das Radio heute Nachmittag irgendwann vom Regal zu schubsen. Strafe muss schließlich sein.
Mama schiebt ihren Stuhl näher an Jola heran.
„Was ist los?“, fragt sie liebevoll. „Du gehst doch sonst so gern in den Kindergarten. Warum um alles in der Welt willst du ausgerechnet heute nicht dorthin gehen?“
Jola sucht fieberhaft nach einer weiteren Ausrede. Aber so sehr sie sich auch anstrengt, ihr will einfach nichts Gescheites einfallen.
Und plötzlich passiert es: Jola beginnt bitterlich zu weinen. Dicke Tränen rollen ihre Wangen herunter.
Nun sieht Mama richtig erschrocken aus.
„Was hast du Schätzchen?“, fragt sie bekümmert.
Aber Jola weint so sehr, dass sie nicht sprechen kann. Schluchzend zeigt sie auf eine schwarze Plastiktüte, die sie neben ihrer Kindergartentasche auf den Boden gestellt hat. Ganz hinten, zwischen Kühlschrank und Wasserkasten, damit Mama sie nicht sehen kann.
Mama holt die Tüte und greift hinein. Sie zieht eine Sonnenblume heraus. Oder besser gesagt: Dass, was von der Sonnenblume noch übrig ist. Die Pflanze lässt welk den Kopf hängen und ihre Blütenblätter sind nicht mehr leuchtend gelb, sondern hässlich braun.
„Die ist vertrocknet“, stellt Mama fest. „Die sieht wirklich so aus, als wäre sie explodiert.“
„Ich weiß“, schluchzt Jola. „Weil ich vergessen habe, sie zu gießen.“
„Aber ich verstehe immer noch nicht, warum dir eine vertrocknete Sonnenblume so großen Kummer bereitet“, sagt Mama.
Jola stöhnt leise auf.
„Weil mich jetzt alle im Kindergarten hassen werden“, jammert sie. „Vor allem Isabell.“
Isabell ist Jolas beste Freundin. Die Allerbeste, die man sich nur vorstellen kann.
Aber Mama begreift noch immer nicht. Das kann Jola ihr deutlich ansehen.
„Alles hassen mich jetzt“, erklärt sie. „Frau Globes…“
„Deine Kindergärtnerin hasst dich?“, unterbricht Mama sie verwirrt.
„Du hörst mir ja gar nicht zu“, ruft Jola empört und ist plötzlich so wütend, dass sie sogar mit dem Weinen aufhören kann. Mama hebt entschuldigend die Hände.
„Also!“, fährt Jola fort, „Frau Globes hat vor einiger Zeit eine Sonnenblume mitgebracht. Da war die noch ganz klein. Und Frau Globes hat gesagt, dass sich jedes Kind eine Woche lang um die Blume kümmern soll. Und am Ende, wenn alle einmal dran waren, wollen wir die Sonnenblume im Garten einpflanzen.“ Mit einem Mal schießen ihr wieder Tränen in die Augen. „Und zwar genau heute. Isabell hat mich gestern extra nochmal daran erinnert. Ich war die Letzte, die darauf aufpassen sollte. Aber ich habe sie schon am ersten Tag in der Garage vergessen, weil... weil... ach, ich weiß doch auch nicht warum."
Jolas Stimme beginnt wieder zu zittern.
"Als ich gestern dann nach der Blume geguckt habe, sah sie so aus wie jetzt. So explodiert eben. Ich habe ihr sofort Wasser gegeben, aber es hat nichts genutzt.“ Jola schaut verzweifelt auf die verkümmerte Pflanze. „Sie ist total im A….“
„Jola!“, fährt Mama noch gerade rechtzeitig dazwischen. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du auf die Blume Acht geben musst?“, fragt Mama. „Ich hätte dir doch bei der Pflege helfen können.“
„Weil ich schon groß bin“, antwortet Jola trotzig. „Und weil Frau Globes doch gesagt hat, wir Kinder sollen uns um die Sonnenblume kümmern. Und nicht die Eltern.“
Mama sieht plötzlich aus, als würde sie etwas im Gesicht kitzeln. Sie räuspert sich. „Und warum sollte nun ausgerechnet Isabell so schrecklich böse auf dich sein?“, will sie wissen.
„Weil Isabell die Sonnenblume an mich weitergegeben hat“, entgegnet Jola zerknirscht. „Und da sah sie noch aus wie neu. Isabell war so stolz darauf, dass sie die Blume so gut gepflegt hat.“ Jola schnieft laut. „Bestimmt wird Isabell furchtbar wütend auf mich sein. Weil es doch meine Schuld ist, dass die Blume jetzt kaputt ist. Sie hat sich doch so auf das Einpflanzen gefreut. Und bestimmt… bestimmt will sie dann nicht mehr meine Freundin sein.“
Mit einem Mal sieht Jola so unglücklich aus, dass es ihrer Mama im Herzen wehtut. „Aber dann werde ich genauso vertrocknen wie diese Sonnenblume“, sagt Jola mit ernster Stimme. „Weil für mich Isabell genauso wichtig ist, wie für die Blume das Wasser.“
Als Jola das gesagt hat, lächelt Mama sie ganz merkwürdig an. Fast ein bisschen stolz sieht sie aus.
„Ach Jölchen“, sagt sie dann. „Warte einen Moment! Mir ist da etwas eingefallen“. Und dann nimmt sie die vertrocknete Blume und geht rasch aus dem Zimmer. Jola hört wie die Haustür zuklappt. Sie überlegt kurz, ob sie jetzt Rache nehmen und das Radio vom Regal stoßen soll. Aber dann entscheidet sie sich dafür, lieber einen Happen zu essen, einen großen Schluck Kakao zu trinken und danach noch ein bisschen zu weinen.
Als Mama ein paar Minuten später wieder kommt, ist die Kakaotasse leer getrunken und von dem Brot sind nur noch Krümel übrig. Jola will gerade wieder anfangen zu weinen, als sie sieht, was Mama in der Hand hält. Eine Sonnenblume. Und zwar eine, die wie neu aussieht.
„Die habe ich im Blumengeschäft gekauft“, sagt Mama. „Du kannst sie mit in den Kindergarten nehmen. Dann merkt keiner, dass dir mit der anderen ein Missgeschick passiert ist.“
Jola stößt einen freudigen Schrei aus und umarmt ihre Mama.
„Ich finde auch, dass Wasser ein wenig wie Freundschaft ist“, sagt Mama. „Denn ohne Freundschaft vertrocknen wir wirklich. Das hast du sehr richtig erkannt, mein Schatz. Und ich möchte doch auf gar keinen Fall, dass mein Jölchen vertrocknet.“
Aber Jola hört schon gar nicht mehr zu, so sehr freut sie sich plötzlich wieder auf den Kindergarten.
Als Jola am Nachmittag nach Hause kommt, strahlt sie über das ganze Gesicht.
„Ist der Kindergarten doch nicht explodiert?“, erkundigt sich Mama mit einem Augenzwinkern.
Jola wird ein bisschen rot. „Aber das weißt du doch“, murmelt sie und nickt in Richtung des Radios. Aber sie ist nicht mehr sauer und beschließt, den Apparat heil zu lassen. Man muss auch verzeihen können, findet Jola.
„Und?“, fragt Mama. „Hat die zweite Blume ihren Zweck erfüllt?“
Da muss Jola plötzlich laut lachen. „Nicht die zweite Blume“, sagt sie fröhlich. „Die Achte!“
Mama runzelt fragend die Stirn. „Warum denn die Achte?“, fragt sie verwundert.
Jola kichert. „Ich habe Isabell beim Einpflanzen alles erzählt. Weil sie doch meine Freundin ist. Und Freunden erzählt man schließlich die Wahrheit. Na ja, und weißt du was? Sie war gar nicht böse auf mich. Nein, sie hat gelacht. Ganz laut. Und gesagt, dass ihre Blume auch schon eine neue war, weil die andere vom Balkon gefallen und dann von einem Auto überfahren worden ist. Matsch war die!“
Mama schmunzelt.
„Und das hat zufällig der Jan gehört. Und da musste er plötzlich auch lachen und hat erzählt, dass seine Blume von seinem Kaninchen aufgefressen wurde. Und dann hat Philipp zugegeben, dass er sich auf seine draufgesetzt hat. Aber nicht mit Absicht. Hannahs Blume ist auch hinüber, weil ihre große Schwester ein Blütenblatt nach dem anderen abgerissen hat, um zu sehen, ob ihr Freund sie liebt. Am Ende liebte er sie nicht, und sie war beleidigt. Warum macht jemand nur so etwas Dummes?“ Jola kichert noch lauter. „Aische hat wie ich nicht genug gegossen, und Lenni wiederum so doll, dass seine Blume ertrunken ist. Das hat sein Vater ihm gesagt. Und weißt du, was David gemacht hat?“
Mama schüttelt gespannt den Kopf.
„David hat mit seinem Bruder einen Silvesterböller an seine Blume gebunden“, sagt sie fröhlich. „Der ist hochgegangen und deshalb ist seine Sonnenblume wirklich explodiert. Und darum ist meine Sonnenblume die achte. Weil jedes Mal eine neue gekauft werden musste. Und niemand hat auch nur ein Wort darüber gesagt.“
„Hat denn kein einziger geschafft, dass die Blume am Leben geblieben ist?“, wundert sich Mama.
„Doch“, antwortet Jola. „Die Marie. Und die hat deswegen auch total geheult, weil sie als einzige keine lustige Geschichte erzählen konnte. Die hat gar nicht mehr aufgehört zu weinen. Noch nicht einmal, als Frau Globes sie am allermeisten gelobt hat, weil sie doch so gut aufgepasst hat.“
Mama streicht Jola über den Kopf. „Dann war also niemand böse auf dich?“
„Nein“, sagt Jola. „Niemand. Und ich war auch nicht böse. Obwohl Isabell ganz doll Angst davor hatte, als ihre Blume kaputtgegangen ist. Sie hat doch tatsächlich gedacht, dass ich nie wieder ihre Freundin sein will.“ Jola schüttelt den Kopf. „Als ob ich wegen etwas so Dummen wie einer Blume für immer böse auf sie sein könnte. Was für ein Quatsch. Wie kann sie nur so etwas Verrücktes denken.“
Als Jola das gesagt hat, stutzt sie einen Moment. Sie denkt eine Augenblick lang nach. Dann schaut sie Mama mit einem Mal direkt ins Gesicht und grinst breit. Es ist ein verstehendes und sehr, sehr glückliches Grinsen, findet ihre Mama. Und es sieht überhaupt nicht vertrocknet aus.