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Drei Minuten
Drei Minuten und die Uhr tickt. Keine Zeit, den Fremden zu verfolgen. Keine Zeit, nachzudenken. Das Zeug wirkt sehr schnell, das weiß er. Einmal damit in Kontakt gekommen, hat man keine Chance mehr, wenn die drei Minuten erst einmal abgelaufen sind. Zum Krankenhaus! Er muß sich beeilen, steht auf und rennt aus dem Gebäude. Die Glastür öffnet sich nur nach innen und kostet ihn wertvolle Sekunden.
Zu Fuß hat er bestimmt keine Chance. Suche nach einem Wagen, Fahrrad, Skateboard... irgendwas, nur nicht zu Fuß. Der Zeitungsjunge! Er rennt auf den Jungen zu und schubst ihn vom Rad. Keine Zeit für Entschuldigungen. Das Rad ist zu klein, aber es muß trotzdem gehen. Er fährt im Stehen. Seine Füße pumpen die Pedale in einem immer schneller werdenden Rhythmus. Links rechts links rechts links rechts. Vorbei an einer Gruppe Kinder, die heute einen Ausflug machen. Sie singen irgendein dummes Wanderlied. Sie lachen und tollen über den Gehweg, bis die Aufsicht leicht genervt für Ruhe sorgt. Einen Moment lang ist er abgelenkt, verliert das Gleichgewicht und fällt vom Rad.
Scheiße! Zwei Minuten siebzehn. Er ist auf seiner Hand gelandet. Es tut weh, aber er ignoriert den Schmerz. Der Lenker des Fahrrades ist verbogen. Er schmeißt es wütend von sich und rennt weiter. Die Kinder sehen ihm verwundert nach und rufen irgendwas, aber er kann es nicht hören. Will es nicht hören. Sein linker Schuh geht auf. Der Schnürsenkel peitscht über den Gehweg und trifft bei jedem Schritt sein Bein. Egal! Einfach weiterlaufen. Alles, nur nicht stehenbleiben.
Eine Frau führt ihren Hund Gassi. Ein Dackel. Die Leine ist quer über den Gehweg gespannt. Er hat keine Wahl und versucht, über sie hinweg zu springen. Nicht hoch genug. Er bleibt mit dem Fuß hängen und fällt der Länge nach hin. Aufstehen. Der Hund kläfft wie wild und springt an seinem Bein hoch. Die Frau schreit ihn an. Was ihm denn einfiele. Keine Zeit für Erklärungen. Er stößt sie beiseite und läuft weiter. Eine Minute fünfundvierzig.
Seine Beine schmerzen, seine Lungen brennen und die Wunde an seiner Hand blutet. Nicht denken. Nur laufen. Zu langsam! Das Tempo wird er niemals halten können. Und selbst wenn, wird es nicht reichen. Verdammt! Auf die Straße rennen, ein Auto anhalten. Der Fahrer springt wild gestikulierend aus dem Wagen und brüllt ihn an. Er läßt den Mann stehen und steigt in den Wagen. Der Motor läuft noch. Kupplung, Gang, Gas. Reifen quietschen und hinterlassen einen Gummiabdruck auf dem Asphalt. Das Radio läuft - Supersonic Speed.
Eine rote Ampel. Keine Zeit, die Bremse zu suchen. Er rast mit Vollgas über die Kreuzung. Beinahe ein Unfall. Ein Schulbus kann gerade noch bremsen. Ein wütendes Hupkonzert ertönt hinter ihm, aber das ist ihm egal. Nach rechts zum Krankenhaus. Kein Blinker, kein Schulterblick. Fast hätte er die junge Frau überfahren. Sie ist erschrocken und bleibt mitten auf der Straße stehen.
Die Turmuhr zeigt dreizehn Uhr sechsundzwanzig. Das tut nichts zur Sache. Wichtig ist nur seine Uhr. Sie tickt unerbittlich. Eine Minute zwölf. Vor ihm ein Stau. Keine Chance, vorbeizukommen. Auch zurück kann er nicht. Hinter ihm stehen schon weitere Wagen. Er muß aussteigen und zu Fuß weiter. Seine Schnürsenkel schlagen bei jedem Schritt gegen sein Bein. Warum mußte er auch eine kurze Hose anziehen? Egal, das hindert ihn nicht am Laufen. Nicht dran denken. Den Schmerz in der Hand ignorieren. Die Augen schließen, an etwas Schönes denken.
Fast wäre er gegen eine Laterne gerannt. Ab jetzt die Augen offen lassen. Nur nicht stehenbleiben. Schweiß rinnt in seine Augen. Er kann die Wirkung des Giftes schon spüren. Oder bildet er sich das nur ein? Nein, noch ist die Zeit nicht abgelaufen. Links um die Ecke biegen. Er rennt in vollem Lauf in eine Rentnerin, die ihre Gehhilfe fallen läßt. Einen Moment lang ist er unschlüssig. Aber er kann ihr nicht helfen. Es würde zuviel Zeit kosten. Wertvolle Zeit. Die Uhr tickt unerbittlich. Weiter!
Da, das Krankenhaus! Nur noch wenige Meter, dann hat er es geschafft. Seitenstiche. Er muß stehenbleiben aber er darf es nicht. Jetzt nicht aufgeben. Weiterlaufen. Sein Atem ist nur noch ein Keuchen, sein Herz rast, das Gesicht ist knallrot.
Fünfunddreißig Sekunden. Es geht nicht mehr. Er bricht auf dem Parkplatz des Krankenhauses zusammen. Seine Knie geben nach. Den Aufprall auf dem harten Asphalt spürt er kaum. Die Klamotten verschwitzt, der Blick glasig, so bleibt er liegen. Die letzten Sekunden dehnen sich, wie eine Ewigkeit... Langsam... Standbild.
Er blinzelnd vorsichtig in Richtung Sonne, die ihre Strahlen Richtung Erde schickt. Es ist ein schöner Tag. Die Vögel singen, es ist warm. Eine Frau auf der anderen Straßenseite trägt einen sehr gewagten Minirock und zieht lüsterne Blicke auf sich. Er hört einen Hund bellen, ein anderer antwortet, während die Besitzer die Tiere zu trennen versuchen.
Eine kleine Raupe krabbelt über den Platz, direkt auf seine Nase zu. Er versucht, sie wegzupusten, aber die Kraft reicht nicht. Einfach liegenbleiben. Die Uhr läuft. Langsam. Unendlich langsam. Die letzten Sekunden verrinnen unerbittlich. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Er weiß, daß es vorbei ist. Zwei Sekunden. Und dann gar nichts mehr...