- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 17
Ein Ort der Ruhe
Er war wieder da. Dort angekommen, wo er glaubte, für eine gewisse Zeit seine Ruhe zu haben und Frieden zu finden. Er kam regelmäßig in das Gasthaus, und jedesmal war er wieder angetan, ja geradezu hingerissen von der Gemütlichkeit und heimeligen Atmosphäre, die das am Waldrand gelegene Gebäude ausstrahlte.
Wie immer blieb er erst einmal in der Tür stehen und ließ den Raum auf sich wirken. Die Mittagssonne fiel durch malerische Butzenscheiben auf den uralten, jedoch blitzblanken Holzfußboden. Unter der Decke verliefen einige ebenso alte und von der Zeit gedunkelte Balken, und die köstlichsten Gerüche erfüllten den ganzen Saal. Er blickte über die zum Großteil besetzten Tische hinweg und hielt Ausschau nach seinem Lieblingsplatz, dem runden Einzeltisch direkt an einem der in Frühlingsfarben dekorierten Fenster.
Doch sein Stammplatz war bereits besetzt. Hatte er beim letzten Besuch nicht angegeben, sie sollten für ihn reservieren? Er war sich ziemlich sicher, dies getan zu haben und für einen Augenblick spürte er Ärger in sich hochsteigen, konnte man sich denn nicht mal auf eine einfache Tischbuchung verlassen?
Er ging hinein und wollte schon eine der Angestellten ansprechen, die hinter der Theke fuhrwerkten, als er im hinteren Bereich einen ähnlich guten Platz entdeckte. Sein Unmut verflog weitgehend, möglichst unauffällig beschleunigte er den Schritt und schaffte es, die Ecke in Besitz zu nehmen. Triumphierend ließ er sich nieder und atmete tief durch, hier war es schön. Wenn auch auf der Schönheitsskala nicht ganz oben wie sein Lieblingsplatz, doch der sonnige Tag schuf einen Ausgleich.
Nach und nach wurden die letzten leeren Tische um ihn herum besetzt, das Restaurant der Gaststätte hatte im Umkreis einen guten Ruf. Gemurmel und Gelächter machten sich breit und wichen nach gewisser Zeit dem geschäftigen Klappern von Essgeschirr. Auch er machte sich nun bedächtig über seinen Teller her, der Braten war wie so oft unübertroffen zart und das Rahmgemüse nach Art des Hauses eine echte Delikatesse. Er schloss die Augen und schmeckte jeden Bissen ganz intensiv. Ort, Zeit und Essen schufen für ihn eine fast perfekte Symbiose momentanen Glücks, die er so lange wie möglich auskosten wollte.
Als er beim Dessert angelangt war, begann ein leichtes Gefühl der Unruhe in ihm zu nagen. Etwas stimmte nicht. Langsam tauchte er aus seiner friedvollen Stimmung auf und versuchte, die Veränderung zu analysieren. Der letzte Rest des Puddings war verputzt, und er legte den Löffel etwas zu hastig an die Seite.
Jemand beobachtete ihn, ja, das war es. Bemüht unauffällig sah er in die Runde, versuchte herauszufinden, wer ihn im Visier hatte. Da, am Tisch schräg gegenüber! Hatte die Frau nicht sehr schnell den Kopf weggedreht, gerade als er aufsah? Und hinter ihr, der Mann am nächsten Tisch, warum versuchte er permanent, an ihr vorbeizulauern? Auch die Leute hinter der Bedientheke, die ja am anderen Ende des Raumes lag, sahen, wenn sie ab und an einen Blick auf die Gäste warfen, stets nur zu ihm, als sei er ihnen nicht ganz geheuer.
Dabei wollte er doch nur eine entspannende Zeit verbringen und nebenbei ein köstliches Mahl zu sich nehmen! Trotzig verschränkte er die Arme, schüttelte den Kopf und dachte nach. Es war immer das gleiche, bei jedem Besuch. Kaum hatte er seinen Platz gefunden, schon wurde ihm gezeigt, dass er nicht erwünscht war.
Was war an ihm denn sonderbar oder unnatürlich? Er sah durchschnittlich aus, lag im mittleren Alter, besaß weder körperliche Gebrechen noch Geschwüre oder sonstige Äußerlichkeiten, die ihn zu einem Objekt des Interesses hätten machen können. Dennoch schienen alle zu glauben, dass er anders sei als sie, versuchten, in ihm eine Finsternis zu entdecken, die es nicht gab und nie gegeben hatte.
Oder sollte im hintersten Winkel ihrer Gehässigkeit doch ein Körnchen Wahrheit stecken? Diese Frage stellte er sich immer an einem bestimmten Punkt, es war wie ein Ritual, das von selbst ablief und von ihm nicht mehr beeinflusst werden konnte. Und die Antwort darauf kam automatisch und bestimmt: Nein, sie taten ihm unrecht.
Er war ein Bürger wie sie. Er wollte möglichst ungeschoren durchs Leben kommen und hin und wieder etwas Ruhe und Frieden, warum sollte man es ihm nicht gönnen? Auf diese Frage hatte er bislang noch keine Antwort gefunden, aber sie sorgte dafür, dass er auf eine gewisse Distanz zu seinen Mitmenschen ging. Er beobachtete seinerseits ihr Verhalten mit einem gewissen Misstrauen und begann, sich gegen alles Mögliche zu wappnen.
So wie gegen diesen Augenblick, den er hatte kommen sehen. Die meisten der Besucher erhoben sich wie auf Kommando, verließen die Tische und strebten dem Ausgang zu, wo sich ein kurzer Stau zu bilden begann. Er bemerkte, dass die Sonne verschwunden war und nur noch ein fahles und diffuses Licht den Saal erhellte, das Holz der Stühle wirkte merkwürdig beigefarben darin. Immer mehr Menschen hatten ihre Mahlzeit beendet und verließen den Raum, er blieb noch sitzen. Der Druck nahm zu, er spürte, dass auch seine Zeit kam und zögerte den Moment so weit hinaus, wie es erträglich war.
Schließlich war er der einzige, der noch am Tisch saß. Für einen Moment machte sich unheimliche Genugtuung in ihm breit: er hatte ihnen die Stirn geboten, war nicht vor allen davongelaufen. Das Gefühl verging allmählich, und er seufzte tief: Zeit, in den grauen Alltag zurückzukehren. Schwerfällig erhob er sich, schob ordentlich den Stuhl an den Tisch und ging nach vorne.
Der Weg war weiter als zuvor. Die Anstrengung, sich normal zu verhalten, ließ ihn verkrampfen und steif werden. Als er an der Theke vorbeiging, warf ihm ein junges Mädchen mit dunklen Haaren einen finsteren Blick zu, er ging fröstelnd weiter. Vor der Ausgangstür stand ein kräftiger Mann, der ihm seltsam bekannt vorkam. Er dachte intensiv nach, aber der Name wollte nicht von seiner Zunge ins Hirn rutschen.
"Na Rolf, wie geht’s denn so?" fragte der Mann, der um die zweieinhalb Zentner wog, und senkte den muskulösen Arm wie eine Bahnschranke vor die Tür.
Offenbar kannte ihn der Kerl. Rolf blickte ihm mit zusammengekniffenen Augen ins Gesicht, die Arme verkrampft an den Körper gepresst. Der Mann, der ihn um einen Kopf überragte, lächelte entwaffnend und seufzte dann theatralisch. Jetzt fiel ihm der Name wieder ein: Mike, so hieß er, und Rolf verband mit diesem Namen nicht viel Angenehmes.
"Also wirklich, Rolf! Wie oft haben wir die Sache schon durchgekaut, hm?" Er zeigte mit einem fleischigen Zeigefinger auf Rolf’s zusammengeballte Faust. Alles in Rolf verkrampfte sich. Nein, so weit würde er es diesmal nicht kommen lassen. Er hatte seine Rechte, und wenn er sie nicht verteidigte, was war er dann noch? Ein willenloser Haufen Dreck, nicht mehr.
Er verzog das Gesicht, als ob er große Schmerzen hätte und begann trotz allem, sich zu rechtfertigen.
"Mike, du weißt: ich will nur meine Ruhe und ein gutes Mittagessen. Außerdem hab ich die selben Rechte wie alle anderen auch. Ich weiß also nicht, was du immer wieder von mir willst!"
Den letzten Satz hatte er vor angestautem Frust fast geschrien, und die Mitarbeiter hinter der Theke richteten ihre gesamte Aufmerksamkeit auf das ungleiche Paar an der Tür. Mike stach mit dem Finger wiederholt in Richtung Rolf’s Faust, die bleich und starr an seinem Körper lag.
"Schön schön, du willst die Lektion also nicht kapieren. Also wieder mal von vorne: das Essbesteck ist zum ESSEN da, soweit verstanden?"
Rolf nickte zitternd. Mike nahm seine Faust in eine Pranke, mit der anderen tippte er auf Rolf’s geschlossene Finger.
"Was haben wir dann hier?"
Rolf ergab sich und öffnete die Hand. Mike nahm die Plastikgabel, die darin lag, und sah ihn nachdenklich, ja fast mitfühlend an.
"Du weißt, keiner hier hat es leicht. Aber wenn du weiter deinen eigenen Weg gehst und andere gefährdest, wird es für alle nur schwerer, und für dich am schwersten. Ist dir das klar?"
Rolf nickte fast unmerklich, fast war es, als wäre ein seltsam schwerer Ballast von ihm abgefallen und hätte ihn damit kurzzeitig aller Sorgen entledigt. Er straffte sich und blickte sich um, der Saal lag verlassen hinter ihm. Die ansprechenden Tische und Stühle aus Holz hatten sich in zweckmäßige und unschöne Kunststoffmöbel verwandelt. Das Tageslicht fiel rautenförmig durch vergitterte Fenster auf den kalten Fliesenboden.
Mike sah ihn wartend an, und Rolf ging voraus durch die Tür in den dahinterliegenden, langen Flur, der nur von Neonröhren erhellt wurde. Zusammen erklommen sie die Treppe zum oberen Stockwerk, und auf dem Weg dorthin entspannte sich Rolf zusehends.
Die Leute hatten keine Ahnung. Auch Mike nicht, der nur große Reden schwang, aufgetakelt in seiner weißen Pflegermontur. Er, Rolf, würde wiederkommen, würde sein Gasthaus besuchen und seine Ruhe finden, wie und wann es ihm gefiel. Das war sein Zuhause, und auch wenn ihm alle misstrauten, er würde stets den Weg zurückfinden, diese Augenblicke des ruhigen Friedens konnten sie ihm nicht nehmen.
Und beim nächsten Mal würde er die Gabel besser verstecken.