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Garrisons Stille
Garrisons Stille
Garrison stand vor seinem einsamen Haus und wartete. Die zweispurige Straße, die an seiner Tür vorbeiführte, war wie immer tadellos sauber. Nach einer Weile sah er den Fahrradkurier auf sich zukommen. Er hatte seine verspiegelte Sonnenbrille ins Haar geschoben, bremste eine Armeslänge von Garrison entfernt und schwang sich vom Rad.
“Guten Morgen, wie jeden Morgen!”, sagte der junge Mann.
“Freut mich, Sie zu sehen. Ist Ihnen jemand begegnet? Sie wissen schon”, sagte Garrison.
“Aber, Mr. Garrison. Sie geben nicht auf, nicht wahr? Ich weiß nicht, wer Ihre Straße sauber hält."
Er reichte ihm die Zeitung und die Tüte mit dem Essen für heute. Die Plastiktüte raschelte in der Hand des Kuriers. Garrison genoss das Geräusch. Die ewige Stille um sein Haus war ihm fremd geblieben, dabei hatte er sich diese Einsamkeit ausgesucht. Garrison hatte erfahren müssen, dass die meisten Menschen Freundlichkeit als Schwäche missverstanden. Die sollten ihn nie mehr enttäuschen können, nie mehr. Darum hatte sich der alte Mann nach seiner Pension in diese einsame Festung zurückgezogen.
“Haben Sie sich erkundigt? Ich meine, wegen der Nummer?”, fragte er.
Der Kurier prüfte den Luftdruck des Hinterreifens.
“Sie stellen zu viele Fragen, Mr. Garrison. Das muss Ihnen doch schon mal aufgefallen sein. Sie brauchen die Antworten gar nicht“, sagte er.
“Wenn ich das zuständige Amt nicht anrufen und fragen kann, weiß ich nicht ...“
“... ob Ihr Haus den Sauberkeitsstandards entspricht. Das tut es, glauben Sie mir. Es ist einer der tollsten Häuser auf meiner Strecke. Sie fragen zu viel, Mr. Garrison. Genießen Sie Ihre Pension. Für mich wird es so etwas nie geben!”
Der Fahrradkurier lächelte, bestieg das Rad, schob sich die Sonnenbrille auf die Nase und schellte.
“Bis Morgen, wie jeden Morgen!”, rief er. Sein oranges Trikot war der einzige Farbtupfen in der Einöde.
“Armer Mr. Garrison”, dachte der junge Mann. “Ich darf dem Alten noch nichts sagen. Ich hoffe, er hält sein Fernrohr in Schuss. Er muss sicherstellen, dass es in den nächsten Tagen funktioniert.”
Der Kurier verschwand bald darauf im grauen Dunst. Garrison sah ihm nach und war deprimiert. Er betrachtete den englischen Rasen, der die gesamte Ebene um sein Haus bedeckte. Die Leute, die den Rasen pflegten, hatte er noch nie gesehen oder gehört. Genauso wenig wie die Straßenkehrer, welche den Asphaltweg vor dem Haus rein hielten.
Er hatte noch nie in einer so montonen und faden Landschaft gelebt. Mr. Erin vom Pensionsamt hatte ihm nicht alles über diesen Ort erzählt. Er wirkte wie eine Simulation. Die Gegend sog den Blick des Betrachters auf und gab nichts zurück.
Garrison ging in das zweistöckige Haus. Er verteilte den Inhalt der Tüte auf dem Küchentisch. Er holte die Lesebrille aus der Westentasche, setzte sie auf und las die Zeitung.
“Welche Schlagzeile wünschen Sie sich heute?”, fragte die Zeitung.
“Hmhmm”, machte Mr. Garrison, nickte und schaute durch die Zeitungsblätter hindurch. Die Stille trübte ihn ein und er musste auf der Hut sein, nicht für immer weg zu dösen. Er war sich sicher, dass diese Grabesstille lebte, und Sie hatte es auf ihn abgesehen. Er musste an sie denken, wenn er die Fotos der Männer im Hausflur sah, die vor ihm hier gewohnt hatten. Wo waren deren Gräber?
Die Zeitung seufzte und zeigte dem alten Mann fünfzig Jahre alte Sportergebnisse. Garrison bemerkte ihren Spott nicht und blieb stumm.
“Mr. Garrison! Wenn ich Sie wäre, würde ich frühstücken und zu Ihrem Fernrohr gehen. Das kann im Augenblick mehr für Sie tun als ich”, schrieb die Zeitung in kantigen Buchstaben in ihre Hauptschlagzeile.
Garrison merkte bei dem Wort Fernrohr auf. Er legte die Zeitung beiseite, schmierte sich ein Brötchen und lief auf den Dachstuhl.
“Er muss das Fernrohr in Ordnung halten”, dachte die Zeitung. “Er wird es bald brauchen, sonst wird er das Kommende nicht verstehen.”
Garrison betrat den Speicher und ging zu seinem Fernrohr. Das Barns & Sons war jetzt vierzig Jahre bei ihm. Es hatte einen kupferfarbenen Tubus, der an manchen Stellen eingedellt und verschrammt war. Es stand auf einem schwarzen, dreibeinigen Stativ.
Es hatte hier bis vor Kurzem nichts gegeben, was man mit dem Fernrohr hätte betrachten können. Es hatte sich kein Tier und kein Mensch außer dem jungen Fahrradkurier je in dieses Gebiet verirrt, und so blieb es auch, bis zu dem Tag, an dem die Hügelwanderer aufgetaucht waren.
Garrison reinigte die Linsen und blickte durch das Teleskop. Es war auf die Baustelle am Nordwestlichen Horizont gerichtet. So früh am Tag war dort nicht viel los. Einzelne Arbeiter trugen wie immer den Hügel an einem Ende mit zitternden Presslufthämmern und Schaufeln ab. Wenige Lastwagen bliesen Rauchschwaden in die Luft und fuhren die Baustelle entlang. Sie beförderten die Erde zu den Arbeitern, die den Hügel am anderen Ende wieder aufbauten.
Der größte Teil der Hügelwanderer hielt sich noch im großen Camp auf, dessen Flickenzelte nahe der Baustelle aufgeschlagen worden waren. Garrison beobachtete Männer und Frauen, die an langen Tischen saßen und frühstückten. Er betrachtete den Lerngarten der Kinder, der eine kleine Kopie des Camps und der Baustelle war. Ein Teil der Kinder übte, mit Spaten und Spitzhacke umzugehen. Einige reparierten kaputtes Werkzeug. Ein anderer Teil pflegte Spielzeugvieh oder fuhr auf Miniaturlastwagen und Motorrädern herum. Es irritierte Garrison, dass einige Kinder mit echten Waffen zu üben schienen.
Die langen Frühstückstische leerten sich. Immer mehr Männer und Frauen waren jetzt auf der Baustelle beschäftigt. Sie trieben ihre Werkzeuge in den Hügel und rissen Erde heraus. Die Arbeiter am anderen Ende bauten auf, was ihre Kollegen eben abgebrochen hatten.
Die Hügelwanderer kamen trotz ihrer großen Zahl nur langsam voran. Sie schienen es nicht eilig zu haben. Sie hatten den Hügel, seit Garrison ihn das erste mal im fernen Dunst entdeckt hatte, bisher nur um etwa einen Kilometer versetzt. Wenn sie in dem Tempo weiterarbeiteten, würde der Hügel an Garrisons Todestag, so schätzte er, etwa nördlich seines Hauses stehen. An dem Tag, an dem ihn die Totenstille entgültig schlafen legen würde.
Garrison schlang das Mikrowellenessen herunter, als auch die Hügelwanderer zu Mittag aßen. Danach eilte er zu dem Fernrohr zurück. Er wollte gerade den Arbeitern der Nachmittagsschicht zusehen, als ihm etwas Ungewöhnliches auffiel: Ein Mann um die dreißig schaute zu ihm herüber. Der Mann lehnte am Sitz einer rot -weißen Geländemaschine und sah in Mr. Garrisons Richtung. Garrison war sich sicher, dass er das nur zufällig tat. Für jemanden ohne Fernrohr war Garrisons Haus, vom Hügel aus gesehen, nichts als ein verschwommener Punkt.
Der Mann war groß und muskulös, sein Schädel kahlgeschoren. Er trug ein schmutziges weißes Unterhemd, auf dem ein Kopf mit Irokesenschnitt abgebildet war. Die Senkel seines rechten Stiefels waren aufgegangen. Der Mann hatte einen freundlichen, selbstsicheren Blick und wirkte so, als ob er keiner Schlägerei aus dem Weg gehen würde.
Der Mann winkte ihm zu. Garrison untersuchte die nähere Umgebung, um zu sehen, wen er wohl gemeint hatte. Ihn konnte er nicht gemeint haben, denn er sah Garrison doch gar nicht. Dann tat der Mann etwas, was Garrison vom Gegenteil überzeugte: Der Hügelarbeiter nahm einen Spaten vom Motorrad und hielt ihn waagrecht, wobei er so tat, als ob er durch den Griff schaute. Er imitierte Garrison, der in das Fernrohr sah. Garrison erschrak. Das hatte er nicht erwartet. Er fühlte sich ertappt. Er verließ den Dachstuhl, verriegelte alle Türen und Fenster und zog sich in das Wohnzimmer zurück.
Er erwachte am nächsten Morgen und saß immer noch in seinem Sessel. Ein Klopfen hatte ihn aufgeweckt.
“Guten Morgen, wie jeden Morgen!“
“Stellen Sie mir alles vor die Tür, bitte, ich hole es mir dann”, stammelte Garrison.
“Geht es Ihnen nicht gut?”
“Doch, ich bin ... Ich bin nicht angezogen. Ist Ihnen jemand auf dem Weg begegnet?”
“Aber, Mr. Garrison, fragen Sie bitte nicht. Ich hab das Zeug auf ihre Treppe gelegt. Dann bis morgen, wie jeden Morgen!”
Der Kurier verschwand. Garrison kam zu sich und erinnerte sich an den letzten Abend. Er hatte voller Angst in seinem Sessel gewartet. Er hatte die Stille noch bedrückender und bedrohlicher als sonst empfunden. Noch mehr Fragen als gewöhnlich waren ihm eingefallen. War es verboten, die Hügelarbeiter zu beobachten? Waren sie auf dem Weg zu Garrisons Haus, um ihn zu bestrafen? Warum fürchtete sich Garrison eigentlich vor dem Kerl? Er ihm fremd, war massig und schmutzig, aber er sah freundlich aus.
Garrison duschte und wechselte die Kleidung. Dann öffnete er die Haustür und trat für einen Moment auf die Straße. Die Sonne schaute hinter den gewohnten Schleierwolken hervor, als Garrison die Plastiktüte und die Zeitung von der Treppe nahm. Die Zeitung entfaltete sich von alleine.
“Pete wollte Sie nicht erschrecken. Es tut ihm leid.” stand in der Hauptschlagzeile.
“Gehen Sie gleich zu Ihrem Barns & Sons.”
“Wer ist Pete?”
“Schauen Sie einfach durch Ihr Fernrohr”, schrieb die Zeitung.
Garrison rannte auf den Dachstuhl, schloss die Tür auf und blieb vor dem Fernrohr stehen. “Soll ich da wirklich durchsehen?”, dachte er.
Er war schon lange nicht mehr so aufgeregt gewesen. Er schaute durch das Okular.
Der Mann hockte an der Stelle vom Vortag. Es sah so aus, als hätte er neben seiner Maschine übernachtet.
“Guten Morgen, Garrison!”, sagte er.
“Warum kann ich Sie hören? Warum können Sie mich sehen?”
“So viele Fragezeichen, das ist nicht gut. Ich bin übrigens Pete. Ich will Ihnen nichts tun”, sagte Pete und lachte.
“Sie müssen entschuldigen. Ich bin noch misstrauischer geworden, seit ich in Pension bin. Ich treffe ich kaum noch einen Menschen. Eigentlich nur einen”, sagte Garrison.
“Den Typen auf dem Fahrrad. Der hat mir viel von Ihnen erzählt. Ich kann verstehen, dass Sie Menschen misstrauen. Wir dulden auch selten Fremde hier, und wir können alle damit umgehen.“
Pete zeigte auf die Satteltasche seines Motorrades. Der schwarze Stutzen einer Schrotflinte schaute daraus hervor. Garrison fragte sich, wie viele dieser Waffen im Camp lagerten.
“Aber wenn Sie mich fragen, darf man nicht alle Leute verfluchen. Sind nicht alle Scheißer.”
“Woher wissen Sie, wie ich über Menschen denke? Ich fürchte, Ihre Einsicht kommt zu spät für mich. Sie kennen übrigens den Kurier? Was kann er schon über mich erzählen?”
Pete beugte sich vor und senkte seine Stimme.
“Du hast ein Problem. Du könntest sogar in Gefahr sein, Garrison. Eine, die du nicht mal mit meiner Knarre beseitigen kannst. Der Fahrradtyp hat mir davon berichtet. Ich kann dir vielleicht helfen. Ich muss dich dazu bringen, nicht alle Menschen zu verteufeln.”
Pete stand auf und reckte sich.
Garrison musste ein paar Worte mit dem Kurier wechseln. Was traschte der über seine Kunden herum? Dabei fühlte sich Garrison wieder ertappt. Der fremde Hügelwanderer schien ihn wie einen alten Freund zu kennen.
“Du solltest dich gleich auf den Weg machen, Garrison!”
“Wohin soll ich denn?”
“Wandere einfach in unsere Richtung. Du wirst wissen, wenn du am Ziel angekommen bist. Es wird dir helfen. Mehr kann ich noch nicht machen denn ich warte auf eine Entscheidung”, sagte Pete.
“Wie soll mir das helfen? Von welcher Entscheidung sprechen Sie? Könnten Sie etwas deutlicher werden?”
Garrison spürte, dass er aggressiv wurde. Nicht nur, dass ihn die Stille bedrängte, er war auch noch von lauter Heimlichtuern umzingelt.
“Zu viele Fragen”, sagte Pete. „Geh einfach los, die Antwort wird von selbst kommen. Ich muss an die Arbeit und brech´ nicht zu spät auf.”
Pete startete die Maschine und jagte davon.
Garrison zögerte. Er hatte, seit er hier wohnte, noch nie einen Spaziergang gemacht. Wo sollte er auch hin? Die Baustelle lag zu weit entfernt. Trotzdem zog es ihn heute dorthin. Er wollte verstehen, was Pete damit meinte, als er sagte, dass ihm die Wanderung helfen würde.
Als Garrison in die Plastiktüte blickte, fand er darin ein Lunchpaket. Als er die Zeitung in die Hand nahm, schrieb sie, dass er sie heute hier lassen könne. Garrison holte seine alte Picknickdecke aus dem Schrank, schloss die Haustür, klemmte sich die muffige Decke unter und ging los.
Als Garrison etwa eine Stunde lang gelaufen war, wurde er wütend. Er wusste nicht, was ihm diese Plackerei einbringen sollte. Seine Beine taten weh. Er verfluchte Pete, der ihn in die Mitte der Totenstille gelockt hatte. Man konnte sie hier greifen.
“Garrison”, flüsterte eine Stimme, die keine Stimme war.
“Warum die Anstrengung? Leg dich zu mir, GA - RRI - SON.”
Wenn Garrison nicht aufpasste, hatte die Stille ihn bald eingefangen. Er verfluchte die Hügelbaustelle, auf die er zu steuerte. Sie war noch so weit entfernt, dass Garrison sie erst in der Abenddämmerung erreichen konnte.
Was sollte dieser Scherz? So würde Pete aus dem alten Mann keinen Menschenfreund mehr machen. Garrison hatte bisher kaum jemandem vertraut, warum sollte er das jetzt bei so einem Schlägertypen tun? Er würde sich in seine Festung zurückziehen und nie wieder einen Fuß vor die Tür setzen. Es sollte ihn niemand mehr enttäuschen dürfen. Dann hörte er etwas, das ihn seine Wut bereuen ließ.
Er war am Ziel angekommen war. Ein beständiger, sanfter Wind ging und wehte die Geräusche der Hügelbaustelle herüber. Sie lag noch weit entfernt, aber doch konnte man jeden Laut hören.
Garrison setzte sich auf die Decke und lauschte dem Lärm der Hügelwanderer. Männer fluchten oder ließen ein derbes, herzliches Lachen hören. Motorräder heulten auf, Geländewagen und LKWs fuhren mit lautem Dieselgetöse den Hügel entlang. Frauen kicherten oder schimpften. Kinder stritten sich und sangen Lieder. Spaten und Presslufthämmer wurden in die Erde getrieben. Zur Mittagszeit hörte er Teller klappern, während aus Radios Sprache und Musik quoll. Die Hügelwanderer schmatzten, rülpsten, erzählten sich Witze und lachten, wenn einer sich verschluckte. Garrison hatte sich lange nicht mehr so wohl gefühlt. Sein einsames Haus und sein Leben darin kamen ihm armselig vor.
Die Sonne hinter den dünnen Schleierwolken machte sich an den Abstieg. Garrison war auf dem Rückweg. Es ging ihm gut, er hatte das erste mal seit langem köstlichen Lärm gehört.
Das wurde ihm besonders schmerzlich bewusst, als er wieder in die Mitte der Stille geriet. Zum ersten Mal sah er sie. Eine schlanke, kaum wahrnehmbare Frauengestalt bewegte sich in immer gleichem Abstand in seiner Nähe.
“Fürchte dich vor DEREN Liebe”, sagte die Nichtstimme.
“Fürchte dich auch vor meiner, doch meine ist still und süß.”
Die Grabesstille machte Garrison matt, aber er hielt ihr stand und schaffte es bis nach Hause.Garrison konnte den morgigen Tag nicht erwarten. Er wollte wissen, auf welche Entscheidung Pete wartete. Er würde Pete von seiner Wanderung erzählen.
Am nächsten Morgen saß Garrison vor dem Haus und putzte Schuhe. Als der Kurier ihm das Essen und die Zeitung überreichte, fragte er ihn das erste mal nicht nach den unsichtbaren Straßenkehrern.
“Stehen Sie morgen rechtzeitig auf. Es wird ein wichtiger Tag für Sie werden, Mr. Garrison!”
“Gestern hätte ich noch gefragt, warum!”
Der Kurier lächelte, doch fiel ein Schatten auf sein Lächeln. Etwas besorgte den jungen Mann. Garrisons Laune verdunkelte sich und er versprach, morgen früher als sonst aus dem Bett zu steigen.
Garrison musste sich mit dem Frühstück beeilen. Er war ungeduldig, Pete von seinem gestrigen Erlebnis zu berichten. Er erschrak, als er die Zeitung aufschlug.
“Gehen sie erst am Nachmittag zu Ihrem Fernrohr!”, schrieb die Zeitung.
“Aber, warum, ist was passiert?”
“Bitte sehen Sie erst am Nachmittag in das Barns & Sons!” Garrison stellte keine weiteren Fragen und gehorchte.
Er verbrachte den Vormittag im Wohnzimmer und spürte ein unangenehmes Ziehen im Bauch. Etwas Schlimmes musste passiert sein.
Die Stille steckte wie Watte in Garrisons Ohren. Stille, leere Träume tanzten vor seinen Augen. Sie waren wunderschön und seine Kraft, sich dagegen zu stemmen, ließ allmählich nach.
Die Uhr zeigte Eins. Garrison hielt es nicht mehr aus und stürmte auf den Dachboden. Fast hätte er das Barns & Sons umgeworfen. Er schaute durch das Okular und suchte den Hügel ab. Er konnte Pete nirgends entdecken. Garrisons Blick blieb bei einem jungen Mann hängen, der die Pose einnahm, die Garrison von Pete kannte: Er hockte auf dem Sitz einer Geländemaschine und hatte die Beine gekreuzt.
“Guten Tag, Mr. Garrison!”, sagte der Junge.
“Wo ist Pete?”
“Ich heiße Ralph. Ich bin Petes Bruder.”
Er war jünger als Pete. Er war groß, hatte abstehende, borstige, schwarze Haare und den freundlichen Blick seines Bruders. Er war noch nicht so muskulös, sah aber auch schon so aus, als sollte man sich nicht mit ihm anlegen.
“Ich halte Wache für Pete, Garrison.”
“Was meinen Sie mit Wache? Wo ist Pete, ich habe ihm was zu erzählen.”
“Der Hügel hat ihn geholt, das glauben wir zumindest”, sagte Ralph. “Der Campmeister hat es vor einer Stunde offiziell gemacht. Pete ist verschwunden.”
“Verschwunden? Wollen Sie damit sagen, er ist tot?”
“Wenn Sie es so nennen wollen. Man nennt es bei euch 'tot', aber wir sagen dazu, dass ihn der Hügel geholt hat. So, wie er alle von uns eines Tages holen wird.”
“Warum suchen Sie ihn nicht? Warum geben Sie einfach auf? Hat man seine Leiche gefunden?”, fragte Mr. Garrison.
Er war wütend. Er trauerte Pete nach, mit dem er doch nur einmal gesprochen hatte. Garrison hatte ihm die glücklichsten Stunden seit langem zu verdanken. Er ärgerte sich über das Desinteresse von Ralph und dem der restlichen Hügelwanderer.
“Warum hat der Hügel Pete geholt? Was hat ihr Bruder getan?”
“Er holt uns alle mal, aber das ist keine Fragen wert,” sagte Ralph.
“Mr. Garrison, lassen Sie sich nicht von dem täuschen, was Sie hier sehen. Wir scheinen nur wie Menschen zu sein. Es würde Sie verwirren, wenn ich Ihnen das genau erklärte. Wir verbringen alle einen Lebensabschnitt in dem Camp, um euch besser verstehen zu können. Das ist kein Paradies hier. Wir sind froh, wenn wir wieder weg dürfen. Es ist OK, wenn uns der Hügel holt und in seine tieferen Schichten führt. Pete hat es jetzt besser als wir.”
Ralph nickte ein paar Arbeitern zu, die auf der Ladefläche eines Pickups vorbeifuhren.
“Ich werde bis Sonnenuntergang Wache halten. Tun Sie das doch auch, Garrison”, sagte Ralph. Garrison stimmte zu.
Er blieb den ganzen Nachmittag vor dem Barns & Sons sitzen. Als die Sonne verschwand, zündete Ralph eine Zigarette an und hockte sich auf die Erde.
“Pete hat mir erzählt, dass Sie viele Fragen stellen. Er hat auch erklärt, warum Sie das tun. Er sagte, es wäre die ‘Stille‘, gegen die Sie ankämpfen müssten.”
Garrison wusste, dass der Junge Recht hatte. Die vielen Fragen peinigten ihn schon so sehr wie das Schweigen selbst. Wie raffiniert diese Totenstille war. Sie ließ ihr Opfer glauben, es hätte ein Mittel gegen sie gefunden, doch dieses Mittel ließ das Opfer nur schwächer werden.
“Beantworten Sie mir eine letzte Frage.” Ralph nickte.
“Pete sprach von einer Entscheidung, auf die er wartete. Wissen Sie was darüber?”
Ralph zuckte mit den Schultern.
“Er hat mir nichts verraten. Er ist abgereist und nicht wieder zurückgekehrt. Pete hat nur ein paar Andeutungen gemacht, aber es muss was wirklich Großes gewesen sein. So war Pete immer. Ich werde mich für Sie umhören.”
Ralph trat die Zigarette aus, stieg auf das Motorrad und ließ Erde aufspritzen, als er davonfuhr.
Garrison lag im Bett. Die letzten Tage waren verwirrend, aufregend und anstrengend gewesen. So hatte er sich den Lebensabend nicht vorgestellt.
Wenn sich das Geheimnis um den verschwundenen Pete lüftete, konnte das noch mehr Fragen aufwerfen. Die Hügelwanderer würden ihn vielleicht dafür verantwortlich machen und Garrison bluten lassen. Er hätte niemals das Barns & Sons aufstellen dürfen. Niemals.
Es gab einfach niemandem, dem man vertrauen durfte.
“Glaub nicht an deren Liebe”, sagte die sanfte Nichtstimme.
Garrison sah die Stille in seinem Zimmer schweben. Es wurde kühl im Raum, Atemwolken erschienen und verschwanden wieder.
“Dein ganzes Leben war ich dir treu”, sagte sie.
"Ich habe nie einttäuscht und nie alleine gelassen."
Sie hatte Recht, Garrisson musste ihr vertrauen. Er wollte nur einmal fühlen, wie das war: Vertrauen haben.
Garrison ließ sich in die Kissen sinken und wehrte sich nicht mehr. Die Stille machte sich ans Werk. Garrison versank in Dunkelheit. Er sah Bilder der Männer, die das Haus vor ihm bewohnt hatten. Er kannte ihre Gesichter von den Fotos im Flur. Ein unendlicher Frieden ging von ihren stillen Gräbern aus. Bald wäre er einer von ihnen. Warum hatte Garrison sich gegen diese Ruhe gewehrt? Ihm wurde eiskalt. So viel stiller, eiskalter Frieden.
Garrison hatte etwas gehört.
Einen Schrei.
Ein Rauschen.
Die Luft atmete sich frisch und salzig.
Wieder ertönte ein hoher Schrei, der vom Himmel zu kommen schien.
Garrison wachte auf, hielt aber die Augen geschlossen. Garrison schlug die Lider auf, als ein weiteres Kreischen vom Himmel kam. Ein Donnern ließ sein Bett erzittern. Er richtete den Oberkörper auf und sog die salzige Luft in die Lungen. Er verließ das Schlafzimmer und patschte mit nackten Füßen durch den Hausflur, wobei er das Gefühl hatte, dass die Temperatur angestiegen war.
Die fünf Portaits seiner Vorgänger hatten sich verändert. Garrisson betrachtete sie, so, wie er das schon hunderte Male getan hatte, aber sie waren ihm fremd. Er dachte nach und schlug die Faust in die offene Hand, als er den Unterschied entdeckte. Waren die Fotos gestern schwarzweiß gewesen, leuchteten sie heute in allen Farben. Eric Chamberlain, von dem noch eine Sporttasche auf dem Speicher stand; der pausbackige Barney Jackson, der sich mit einer seiner geliebten Torten hatte ablichten lassen; Dave Bonkers, Christopher McDonald, Chistopher Millstone, ihre Portraits strahlten plötzlich eine unendliche Lebensfreude aus.
Garrisson löste sich von den Bildern und stellte sich vor die verschlossene Haustür. Das tiefe Grollen ließ sein Zuhause beben. Garrison sah ein gelbrotes Licht durch den unteren Türspalt eindringen. Er überwandt seine Furcht und öffnete die Tür.
Die zweispurige Straße verlief noch immer vor seinem Haus. Der vertraute Rasen wuchs jenseits davon. Die Morgensonne hing wie jeden Tag über dem Horizont, aber heute ging sie VOR seiner Haustür auf. Ihr Licht wurde millionenfach gebrochen und reflektiert. Seewind blies in Garrisons Haus und ließ einen Wandkalender tanzen. Ein gewaltiger Ozean schüttete seine donnernde Brandung an einen tiefer gelegenen, hellen Sandstrand, der gestern noch nicht dagewesen war.
Garrison taumelte mit nackten Füßen über den Asphalt. Hohe Schreie kamen von überall her. Der Fahrradkurier stand am Straßenrand und blickte in die aufgehende Sonne. Er entdeckte Garrison und ging zu ihm.
“Das ist irre, was? Ich hab ja schon viel gesehen, aber das ist Wahnsinn.”
Er zeigte mit ausgestrecktem Arm den Horizont entlang.
“Hier, schauen Sie gleich hinein.” Der Fahrradkurier reichte dem alten Mann die Zeitung. Garrison war noch benommen von dem, was er sah und entfaltete sie.
“Wie gefällt es dir, Garrison.? Hab´ dich ja gerade noch gerettet. Stell schon mal das Bier kalt, ich werde dich bald besuchen”, stand in der Schlagzeile.
Ein großes Foto vom lächelnden Pete war darunter zu sehen. Er sah zwanzig Jahre älter aus.
"Wie ist das möglich? Wir dachten, Sie seien tot. Haben Sie was mit dem Meer zu tun?", fragte Garrison.
"Frag´ nich soviel, alter Mann!", schrieb die Zeitung.
"Aber ich muss gerade reden, von wegen alter Mann und so..."
"Die Falten und die grauen Stoppeln stehen dir gar nicht schlecht", sagte Garrison, der plötzlich kein Bedürfnis mehr danach hatte, Antworten auf seine Fragen zu bekommen.
"Einen kleinen Preis haben die schon für das Wunder verlangt", hieß es in den Zeilen unter Petes Bild. "Dafür, dass sie die Stille vertrieben haben. Aber so werde ich zwanzig Jahre früher in die tieferen Schichten kommen."
"Warum hast du das für mich getan, und wer sind DIE?"
"Garrison ... Da war ein Fragezeichen!"
Garrison schmunzelte.
"Ich hoffe, ich hab dir gezeigt, dass nicht alle Leute schlecht sind", schrieb Pete.
"Wenn ich zur Baustelle zurückgekehrt bin, komm ich dich mit Ralph besuchen, an deinem Strand. Die Möwen sollen dir bis dahin auf den Kopf machen." Garrison hörte Pete lachen, als er das las.
Er hatte sehr alt werden müssen, um einen Freund zu finden.
Der Fahrradkurier verabschiedete sich bis morgen und fuhr davon, wobei er den Blick nicht vom Horizont lassen konnte.
Garrison legte die Zeitung und die Essenstüte vor die Haustür und lief. Ihm fiel auf, dass die Straße jetzt in Serpentinen verlief. Sanfte Hügel erhoben sich um Garrisons Haus. Büsche raschelten im Seewind. Dickes, buntes Unkraut wuchs aus dem Rasen. Schwarze Vogelschwärme flogen über Olivenbaumhaine hinweg, die über die ganze Ebene verteilt waren. Die Straße war an vielen Stellen aufgebrochen und wirkte auf eine symphatische Art verfallen. Mit der Stille war die tote Landschaft verschwunden.
Garrison rannte weiter und fühlte den Rasen unter seinen Füßen. Er spürte, wie das Gras in feinkörnigen Sand überging. Garrisons lief, bis er nassen Strand und die Brandung unter den Sohlen spürte. Das tiefe Grollen ließ seinen Magen beben und der alte Mann breitete die Arme aus. Der warme Seewind riss an Garrisons Pyjama, während die Sonne den ganzen Horizont mit gelb- orangen Tönen einfärbte. Die Möwen kreischten, stießen in die Wellen nieder und schenkten den erbeuteten Fischen einen Freiflug, bevor sie sie verspeisten.
Garrison taumelte und ließ sich auf den Rücken fallen. Er vergrub seine Hände im nassen Sand, schrie mit den Seevögeln um die Wette, lachte, schrie wieder und hatte Garrisons Stille für immer hinter sich gelassen.