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Gebrochenes Brot
„Mist, wieso habe ich keine Sonnenbrille mitgenommen“, murmelte Annette. Wir saßen an der Promenade und jede von uns hatte einen großen Salatteller vor sich stehen. Die Sonne stand so tief, dass die Strahlen in die Augen stachen, wenn wir auf den See blickten.
Gleichzeitig griffen wir nach der letzten Scheibe Brot im Korb. Unsere Augen trafen sich.
„Wir teilen“, bestimmte sie.
Sie gab mir ein Stück der Scheibe. Kurz betrachtete ich ihre und meine Hälfte. Schweigend aßen wir weiter und meine Gedanken führten mich in die Küche, in der ich groß geworden bin.
Das fast alltägliche Ritual hatte damit begonnen, dass ich den Krug mit der Aufschrift: „Trink in Stein den Wein“ in die Hand gedrückt bekommen hatte, um ihn zu füllen.
Es war abends und der Hunger trieb mich dazu, mit meinem Großvater zu vespern. Der Rest der Familie würde wie gewöhnlich später essen.
Ich blieb jedes Mal auf der obersten Stufe der Kellertreppe stehen. Wärme kam mir entgegen und ich sog mit der Nase die Luft ein, die ich so mochte. Die immerfeuchten Eichenstufen, der Lehmboden und der leichte Hauch von Wein ergaben ein moderiges, süßes Gemisch.
Aber ich durfte nicht zu lange verweilen, da er mit seiner blauen Arbeitshose und dem karierten Hemd bekleidet mit dem noch leeren Glas schon ungeduldig am Tisch saß. Routiniert füllte ich den Krug und ging zu ihm in die Küche zurück.
Seine Haare waren ähnlich grau wie sein Vesperbrett, auf dem ein Stück magerer Speck, eine Scheibe Brot und eine Essiggurke lag. Den Krug stellte ich neben das Glas.
Während er sich den Wein bis an den Rand einschenkte, konnte ich trotz kurzgeschnittener Fingernägel Erde vom Kartoffelsortieren unter ihnen entdecken. Die Finger waren kurz und kräftig; einige tiefe Schrunden und noch mehr faltige Haut ließen sein Alter erkennen.
Das Gesicht dagegen wirkte frisch. Wache blaue Augen blickten musternd in die Welt. Er legte großen Wert darauf, immer gut rasiert zu sein und besuchte regelmäßig den Friseur, der ihm den grauen Kranz akkurat kurz hielt.
Oft bestand unsere Unterhaltung während des Essens nur aus Anweisungen, die er mir gab.
Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals einen von uns Enkeln in den Arm genommen hat. Nicht einmal mich als einziges Mädchen. Er besaß keinen Schaukelstuhl, noch rauchte er. Sein Tagesablauf wurde von Garten- und Feldarbeit und dem Besuch von Gesangvereinsproben und Gottesdiensten bestimmt. Es war Gottes Wille, sagte er mir einmal, dass ich Oma nie kennen lernen konnte.
Er trennte mit einem scharfen Messer sorgfältig die Schwarte vom Speck und schnitt ihn in dünne Scheiben. Bei jedem Bissen hörte ich das leise Klacken seiner Zahnprothesen.
Ich schmierte mir ein großes Leberwurstbrot, fischte mit einer Gabel eine Essiggurke aus dem hohen Weckglas und ließ es mir schmecken.
Noch so eine große Scheibe war zuviel, aber eine halbe würde ich noch schaffen. Ich legte das frische Bauernbrot auf mein Vesperbrett und schnitt es exakt in der Mitte durch. Die eine Hälfte legte ich in den Brotkorb zurück.
Satt war mein Großvaters auch noch nicht, so dass er in den Brotkorb griff und die halbe Scheibe herausnahm.
Er breitete seine Hand aus, so dass das Brot flach auf ihr lag.
„Maidle“, - er sprach mich nie mit meinem Namen an – „du musst das Brot brechen“. Er streckte es mir entgegen. „Wieso denn das?“, fragte ich mit einer Mischung aus Verwunderung und Genervtheit. „Das ist eine schöne Geste für den nächsten, der sich die andere Hälfte nimmt “, gab er als Antwort.
Nun schaute ich ihm in die Augen. „In russischer Gefangenschaft bekamen wir oft ein, zwei Tage lang nichts zu essen. Dann gab es wieder einmal eine Scheibe Brot, die konnte man so zusammendrücken, dass nur noch ein kleines Häufchen übrig war.“ Er zeigte mit seinem rechten Daumen und Zeigefinger einen Spalt, in dem mein Kinderdaumen kaum Platz gefunden hätte.
„Oft gab es eine Scheibe Brot für zwei“, fuhr er fort, „Wilfried und ich teilten jedes Mal.“ Wilfried kam immer vor, wenn er die wenigen Male über die Zeit in Russland erzählte.
„Immer abwechselnd brach einer das Brot. Du wirst nie schaffen, es genau in der Mitte auseinanderzubekommen. Aber immer gab der Brechende dem anderen das größere Stück, obwohl der Hunger nicht zu beschreiben war.“ Er hielt nach seinen ungewohnt vielen Worte an mich inne und nahm einen Schluck von seinem Fasswein. Dann kam der letzte Satz für den Rest der Essenszeit. „Wilfried war mein Freund.“
Ich hörte Annette seufzen: „Mhmm ... das war lecker.“ „Ja“, stimmte ich ihr zu, „hier können wir wieder einmal herkommen.“ Mit zusammengekniffenen Augen beobachteten wir ein schönes altes Segelboot. Ich legte meine Hand auf ihren Unterarm und sagte: „Dass du mir die größere Hälfte der Scheibe gegeben hast, ist mir aufgefallen“. Sie nahm ihre freie Hand und streichelte meine auf ihrem Arm.