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Genesis
Ihren Stift über dem leeren Papier schweben lassend fällt ihr gedankenverlorener Blick durch das Küchenfenster auf das nächtliche Köln. Er hasst Beerdigungen hat er gesagt. Hochzeiten auch. Sie reißt sich zusammen, versucht sich zu sammeln und ihre Gedanken niederzuschreiben. Doch wer wird ihr glauben?
Der große Holztisch strahlt Gemütlichkeit aus. Die saubere Unordnung der Wohnung hinterlässt Spuren der Behaglichkeit in der Wahrnehmung des Betrachters. Eine Behaglichkeit, die Vertrauen schafft. Das ist durchaus beabsichtigt, weiß sie jetzt. Sie steht auf, um sich einen Tee zu kochen und das Schreiben hinauszuzögern. Das leise Rauschen des sich erhitzenden Wassers hat beruhigende Wirkung. Ruhig ist sie, fast schon lethargisch. Ein weiterer Blick aus dem Fenster lässt sie an das Leben draußen denken – an Menschen, die nichts von all dem hier wissen.
...
„Hallo, ich habe gelesen, dass Du ein Zimmer suchst.“
Junge, sympathische Stimme.
„Ja, ich suche ein Zimmer in einer WG.“
„Wie heißt Du denn? Wie alt bist Du und was machst Du so?“
Viele Fragen. Sie klären sie alle bei einem Tee an dem gemütlichen Holztisch in seiner Küche. Er ist älter, als sie am Telefon angenommen hat. Braungebrannt, blond, sportlich. Er hat zwei Zimmer frei in seiner Altbauwohnug und sucht noch Mitbewohner. Das Telefon klingelt und er spricht über Beerdigungen. Beerdigungen?
„Ach ja, das habe ich noch nicht erzählt, um Dich nicht abzuschrecken. Ich bin Pfarrer.“
Ja, das hätte abgeschreckt. Er weiß wohl, dass man ihn sehen muss, um ihn als Mitbewohner einer WG trotzdem in Betracht zu ziehen. Er erzählt von seiner Kirche, seiner Freundin, seinem Leben. Sie stellt ihm Sascha vor, ihren Freund. Er stellt ihr Ben vor, seinen Hund. Und sie zieht ein.
...
Sie setzt sich mit ihrem Tee wieder an den Küchentisch. Belanglos hat es begonnen. Wie soll sie die Abgründe erklären, die sich ihr offenbart haben? Taubheit strahlt von ihrem Herzen aus bis zu ihren Fingern. Sie muss schreiben um andere Menschen zu warnen. Doch wer wird ihr glauben?
...
Gemeinsam verschrauben sie ihren großen Spiegel in ihrem neuen Zimmer und messen die Fenster für Gardinen aus. Am ersten gemeinsamen Abend kocht er für sie Chinesisch. Nach all den Tütensuppe und Miracoli-Packungen ein Festessen. Vor der Küche nimmt er sie in den Arm. Ein wenig zu fest. Und sie meint seinen Atem an ihrem Hals zu spüren. Löst sich und schaut verwirrt in blaue Augen. „Schlaf gut.“
Die Zimmertür fest verschlossen schläft sie unruhig und träumt von Verlangen. Als die Kirchenglocken sie wecken bleibt ein unangenehmes Gefühl, das sie nicht einordnen kann. Sie fühlt sich wie nach einem Blick in ihr Innerstes, erkannt und beschämt.
In den folgenden Tagen und Wochen lebt sie sich ein, dekoriert ihr Zimmer und stellt ihren Freunden mit unerklärlichem Stolz ihren außergewöhnlichen Mitbewohner vor. Das dritte Zimmer ist noch immer nicht bewohnt, aber das Zusammenleben wird Alltag, bleibt angemessenen distanziert. Und schon glaubt sie sich etwas eingebildet zu haben. Oder vielleicht sogar herbeigesehnt.
Er gefällt ihr, dieser Mann mittleren Alters. Und sie versucht ihm zu gefallen, mit ihren gerade mal neunzehn Jahren. Versucht ihn mit ihren Philosophien, mit ihrem Wissen, ihrem Intellekt herauszufordern. Nächtliche Gespräche über Glaube. Über Politik. Und irgendwann auch über Liebe. Auch über ihre Liebe zu Sascha
Sascha beklagt sich über Ben – wenn er nachts zur Toilette geht, lässt ihn der ungarische Hirtenhund hinterher stundenlang nicht mehr in ihr Zimmer. Sie schläft so tief, dass sie unwissend und ungläubig nur lacht. Sascha beklagt sich auch über ihren Mitbewohner. Er gibt Anrufe nicht weiter, lässt ihn vor der Tür stehen. Und sie lacht, noch immer ungläubig.
...
Ihr Stift baumelt weiter nutzlos, der Tee ist getrunken, kein einziges Wort geschrieben. Sie betrachtet den Verband an ihrem linken Handgelenk, der die Bissspuren von Ben verdeckt. Ben, der seinen Herrn schützen wollte. Es ist ihm gelungen. Darum muss sie schreiben. Denn ihre Wunden gehen über bloße Fleischwunden weit hinaus.
...
Nach zwei Wochen hat sie sich eingerichtet, eingelebt und der dunkle Schatten des ersten Abends ist verschwunden. Sie kocht zur Feier des Tages ein Menü aus Tütensupppen und Miracoli. Er erzählt von den Kindern aus seiner Jugendgruppe. Von den Hochzeiten, die er hasst. Von der Falschheit der Menschen, die nur oberflächlich leben. Von den Gläubigen, die ihn verehren. Und sie hängt an seinen Lippen und glaubt ihm jedes Wort. Sie öffnen eine Flasche Wein, kurz darauf die zweite. Er nimmt sie wieder in den Arm. Drängt seinen Körper an ihren. Sie riecht seinen Atem. Es ist nicht nur ein Hauch diesmal. Sie stößt ihn von sich, er taumelt an die Wand und sie flüchtet in ihr Zimmer.
Zum ersten Mal schläft sie mit abgeschlossener Tür. Das hat sie nicht gewollt. Provozieren, ja. Gefallen, ja. Ein Kratzen an ihrer Zimmertür lässt sie zusammenzucken, doch das Hecheln scheint zu Ben zu gehören. Sie muss zur Toilette, ihr ist übel vom Wein, von ihren Gedanken. Aber sie bleibt liegen. Er hat doch eine Freundin. Sie hat sie kennengelernt. Er kennt Sascha.
Sie kommt sich vor wie ein Kind, das mit dem Feuer spielt. Und sie hat Angst das sie zu weit gegangen ist. Sucht Schuld bei sich für diesen Übergriff. Ohne sich des Ausmaßes seiner Krankheit bewusst zu sein.
Am nächsten Morgen redet er nicht mehr mit ihr. Eine ganze Woche. Sie überlegt sich eine neue Wohnung zu suchen, aber weiß nicht wie sie es erklären soll. Sascha, ihren Eltern, ihren Freunden. Was ist denn schon passiert? Und dann, von einem auf den anderen Tag ist alles so wie vorher, als wäre nie etwas geschehen. Er redet mit ihr, lacht. Sie ist verwirrt und glaubt schon wieder, sie habe sich vieles eingebildet, als er sie morgens auf dem Flur mit seinem ganzen Körper in die Ecke drängt. Er schaut sie nur an. Sie riecht ihn, meint ihn schmecken zu können, obwohl er ihr Gesicht nicht berührt. Er schaut sie nur an. Und dreht sich um und lacht. „Was ist mit Dir?“
...
Sie beginnt zu zittern trotz des warmen Tees. Sie weiß genau, dass sie den richtigen Zeitpunkt verpasst hat. Und irgendwann ist es zu spät für Unschuld. Ihr bleibt die Gewissheit, dass sie nur durch ihr Bleiben einen Blick in die Tiefe des Abgrunds werfen konnte. Und nur so das einzige Instrument in der Hand hält, dass ihn stoppen kann. Und mit einem verzweifelten Aufstöhnen beginnt sie zu schreiben, während ihr tränenüberströmtes Gesicht der Welt draußen verborgen bleibt.
Sie schreibt an das Pfarramt. Von Vergewaltigung im Auftrag des Herrn. Von Schuld, für die es keine Sühne gibt.
[ 08.05.2002, 15:47: Beitrag editiert von: Kay Nexion ]