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Max.190

Challenge 3. Platz
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13.03.2003
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Max.190

Max.190

Obwohl ich ihn nie zuvor gesehen, nie von ihm gehört hatte, mehr noch: nicht wusste, dass es ihn gibt, habe ich ihn heute morgen sofort erkannt. Beim Blick in den Rückspiegel sah ich ihn auf der Rückbank meines Autos sitzen: den Stirbdoch.

"Fährst du immer so langsam?" fragte er, ohne Gruß oder Einleitung.
"Wenn ich zur Arbeit fahre, schon. Zurück fahre ich etwas schneller", antwortete ich und versagte mir die Frage, was ihn das anginge.
"Da hat die niedersächsiche Straßenbaubehörde eine so wunderschöne Autobahn gebaut, und du schleichst darüber hinweg. Findest du das nicht undankbar?"
Ich ignorierte seine Frage und drehte ein wenig am Lautstärkeregler des Autoradios.

Please allow me to introduce myself
I'm a man of wealth and taste

"Wieviel hat dein Auto gekostet? 20.000? 25.000? Mehr?"
"Was soll die Frage?"
"Reine Rhetorik. Du fährst ein gut ausgestattetes, sportliches Auto und dackelst hinter einem verrosteten Kleinwagen her. Der Filter deiner Klimaanlage kann den Dreck, den dessen veralteter Motor absondert, kaum bewältigen. Los, gib Gas! Wir haben was vor!"

Sein Argument bezüglich der Abgase hatte etwas Überzeugendes. Ich setzte den Blinker, scherte aus und überholte zügig den von einer hübschen Rothaarigen gelenkten Suzuki. Dann erst fiel mir sein letzter Satz auf.
"Was haben wir vor?" fragte ich vorsichtig und versuchte, im Rückspiegel seine Augen auszumachen, was mir nicht gelang.
"Fahr schneller, wir müssen in wenigen Minuten nahe der Abfahrt Kirchhorst sein."
Obwohl mir ein wenig unheimlich zumute war, folgte ich seiner Anweisung. Die Tachonadel zeigte auf 160. Kein Problem, normalerweise. Die Autobahn war ziemlich frei und sogar -untypisch für Spätherbst - trocken.
"Was ist da, bei der Abfahrt Kirchhorst?", wollte ich wissen.
"Eine Autobahnbrücke."

I was around when Jesus Christ
had his moment of doubt and pain
Made damn sure that Pilate
washed his hands and sealed his fate

Die Musik wurde von einer Verkehrsdurchsage unterbrochen:
Achtung Autofahrer: Auf der A2 in Richtung Braunschweig zwischen Lehrte-Ost und Hämelerwald irrt eine Person auf der Fahrbahn herum. Bitte fahren Sie dort langsam, vorsichtig, und überholen Sie nicht!

"Das nützt ihm nichts...", murmelte der Stirbdoch. Er lächelte, schien mir, augenlos und vollführte die Geste des auf-die-Armbanduhr-Sehens. Ich konnte keine Uhr an seinem Handgelenk entdecken.

Ich erinnerte ihn an meine Frage.
"Du wirst schon selbst darauf kommen!", orakelte er.
Dann spürte ich seine Hand auf meiner rechten Schulter. Schwer, zentnerschwer, kam sie mir vor.
"Fahr schneller", befahl mein Mitfahrer in einem Ton, der weder Fragen noch Widerspruch zuließ.

Stuck around St. Petersburg
when I saw it was a time for a change.
Killed the Tzar and his ministers,
Anastasia screamed in vain

Mit Tempo 190 flitzte ich mittlerweile über die Autobahn. Zwanzig Kilometer von zu Hause entfernt, nur wenige Minuten von meiner Arbeitsstelle getrennt.
"Noch schneller!", forderte das Wesen hinter mir.
"Geht nicht!", sagte ich und deutete mit einer Kopfbewegung auf den kleinen, weißen Aufkleber zwischen Tacho und Drehzahlmesser. MAX. 190 km/h stand darauf in fetten, schwarzen Lettern. "Winterreifen, weißt du?"
"Natürlich weiß ich", kam die Antwort. "Ich weiß alles, was die Menschen in meinem Revier betrifft, meine Kunden, sozusagen."
"Ich darf nicht schneller fahren, die Gummimischung der Reifen würde sich erhitzen, vom Reifen lösen und....."
"...der eine oder andere Reifen platzt! Du verlierst die Kontrolle über den Wagen, touchierst eine Leitplanke, schlägst mit deinem Auto einen eleganten Salto und prallst gegen den Brückenpfeiler. Weder deine Front- und Seitenairbags noch die integrierten Überrollbügel werden verhindern, dass dein Genick beim Aufprall bricht!"
Mir war klar: er meinte das ernst!

Merkwürdigerweise hatte ich keine Angst. Ich nahm seine Mitteilung hin wie den Korb einer begehrten Frau, das Ergebnis jeder Lottozahlenziehung oder eine der immer gleichlautenden Verlagsabsagen.

I rode a tank
held a Gen'rals rank
when the Blitzkrieg raged
and the bodies stank

"Und anschließend muss ich mich um den Burschen auf der A2 kümmern und seinen Liebeskummer beenden. Ach, es ist wieder ein arbeitsreicher Tag, heute..."
Schon merkwürdig: da saß der Manager des Individualfinales auf dem Rücksitz meines Autos und stöhnte wie ein kleiner Beamter.

"Du sprachst eben von deinem Revier - was ist dein Revier?"
"Das geht dich eigentlich nichts an, aber wir liegen gut in der Zeit..." honorierte er meine Fußbewegung, die dem Rüsselsheimer Erzeugnis die Höchstgeschwindigkeit entlockte. "Mein Revier ist Norddeutschland, ich bin hier für Unfälle zuständig. Verkehrsunfälle, Arbeits-, Jagd- und Sportunfälle. Hausfrauen, die beim Fensterputzen von der Leiter fallen, Kinder, die in der Turnhalle auf dem Trampolin herumhampeln, entwischte Kampfhunde und ähnliches. Naja, hin und wieder muss ich auch meinen Kollegen vertreten. Der ist zuständig für Altersschwäche und tödliche Krankheiten. Hinterher bin ich dann immer froh über meinen Job. So'n Unfall ist doch eine saubere Sache... Freu dich, dass der Chef dich meiner Obhut unterstellt hat!"

So if you meet me, have some courtesy
have some sympathy and some taste
Use all your well learned politesse
or I'll lay your soul to waste

Ich freute mich nicht. Ich empfand überhaupt nichts mehr. Fühlte mich schon tot. Nur eines interessierte mich noch, während ich zu spüren glaubte, dass die Lenkung schwammig und unsicher wurde:
"Und dann, was passiert dann? Ist dann alles vorbei, oder..."
Er lachte.
Er lachte lauthals.
Der Stirbdoch saß hinter mir im Wagen und lachte lauthals.
"Du bist ganz schön neugierig, Menschlein!" Wieder ein Blick auf die Uhr. "Gleich sind wir da, halt das Tempo!", ordnete er an und erklärte: "Es wird dir gefallen. Im Grunde genommen ist kaum ein Unterschied zwischen dort und hier. Es gibt zwar keine Fußballplätze, Bowlingbahnen, Freizeitparks oder ähnliche Vergnügungsstätten, aber jede Menge kultureller Einrichtungen. Du wirst es mögen, andere haben da ein kleines Problem..."

Mir kam ein berauschender Gedanke. "Sag mal: Rilke..."

"Die Luft ist lau, wie in dem Sterbezimmer,
an dessen Türe schon der Tod steht still...

fiel mir der Stirbdoch mit ruhiger Stimme rezitierend ins Wort.

"...auf nassen Dächern liegt ein blasser Schimmer,
wie der der Kerze, die verlöschen will“

setzte ich mit leicht zitternder Stimme fort. "Ist er auch da?"
"Natürlich. Sie sind alle da. Raabe, Fontane, Morgenstern, Heine, die Manns, Böll.... Und sie halten regelmäßig Lesungen ab. Täglich liest irgendeiner von denen, an manchen Tagen sogar mehrere."
Ich begann, Gefallen daran zu finden.
Ja - ich sah mich, ehrfurchtsvoll Borchert lauschend, der sein „Schischyphusch“ vorlas, sah Ringelnatz, seine „Kinder von Berlin“ vortragend und mich lautlos mitsprechend. Sah Feuchtwanger, Kästner und Tucholsky, Fallada und Joseph Roth. Und ich sah: mich - auf der Bühne!
Lesend!
Und im großen Auditorium: sie...!

"Ich schreibe auch!"
"Ich weiß...", kam seine gelangweilte Antwort.
"Meinst du, ich könnte dort auch mal etwas...."
"Ausgeschlossen!"
Heftige Enttäuschung zertrat zartkeimendes Gefallen.
"Goethe und Schiller organisieren unseren Literaturbetrieb. Da haben Schreiberlinge wie du keine Chance. Zuhören - ja. Mehr - nein!"

Pleased to meet you
hope you guess my name
But what's puzzling you
is the nature of my game

Keine Lesungen, keine Leser, keine Zuhörer, keine Aufmerksamkeit.
Dort noch weniger als hier.

"Was machst du da?" fragte er mich entsetzt.
"Siehst du doch: ich nehme den Fuß vom Gas- und trete damit vorsichtig aufs Bremspedal!"
Er regte sich auf: "Sofort gibst du Gas! Wir sind in dreißig Sekunden an deinem persönlichen Terminationspunkt angelangt! Du kannst jetzt nicht so einfach..."
"Doch. Ich kann. Ich hab‘ keine Lust, mit dem Schreiben aufzuhören. Hier gibt es ein paar, einige wenige – aber es gibt immerhin welche: die lesen meine Sachen ganz gerne. Das geb' ich so schnell nicht auf. Und ich geb‘ die Hoffnung nicht auf, vielleicht doch mal zu euren Lesungen zugelassen zu werden. Als Vortragender!“

Er tobte, keifte, schrie.
Wir passierten die Autobahnbrücke vor der Kirchhorster Abfahrt. Ich setzte den rechten Blinker und ordnete mich gemächlichen Tempos hinter einem polnischen Kleinlastwagen ein.

"Dann leb doch dein popeliges Leben weiter! Sonn‘ dich in kleinen und kleinsten Erfolgen inmitten Gleichgesinnter! Verzichte auf den Genuss, große Geister leibhaftig zu erleben! Träum‘ deine lachhaften Träume weiter! Mich siehst du so bald nicht wieder!", brüllte der Stirbdoch mich an.
Und war verschwunden.

 

um klassen besser als der venusbecher!

originell, mit vielen anspielungen, auch stilistisch auf recht hohem niveau.

du kannst solche geschichten schreiben und vergeudest deine enegien auf "venusbecher"???

 

Mir hat das Schreiben des "Venusbecher" genau so viel Freude bereitet, wie das Schreiben dieser Geschichte. Dass gut zwei Jahre dazwischen lagen, besagt nicht viel. Ich probiere gerne herum. Und manchmal genügt es mir, einfach eine "nette" Geschichte zu schreiben. Du magst das als vergeudete Energie ansehen, ich nicht.

 

Hallo, Bobo!

Also, mir gefällt Deine Geschichte ausgesprochen gut!

Das Szenario ist locker und gleichzeitig spannend beschrieben. Ich saß quasi auf dem Beifahrersitz und hörte "Stirbdoch" hinter mir reden, während aus dem Lautsprecher des Autoradios "Sympathy for the Devil" erklang (wie passend: Time for a change!).

Die Aufgabenstellung hast Du gut bewältigt, Idee und Umsetzung sind Klasse. Ganz besonders rührend ist der Abschnitt, in dem Dein Protagonist seine Ehrfurcht vor den großen Schriftstellern zum Ausdruck bringt, und der Moment, in dem ihm klar wird, von ihnen keine Anerkennung erwarten zu können.

Dort noch weniger als hier.
Also: Fuß vom Gas. :D

Sehr schön.


Ciao
Antonia

 

Hallo Bobo,

Deine Geschichte hat mir sehr gefallen! Schon allein der Name des "Versuchers", Stirbdoch, ist Klasse. Wie Antonia hat auch mich die Stelle sehr berührt, wo der Protagonist seiner Bewunderung für die großen Dichter Ausdruck verleiht.
Wunderbar ist, dass Deinen Helden sein Selbstbewußtsein rettet: Er will dort bleiben, wo er, wenn auch nur von wenigen, gelesen wird. Er weigert sich, nur Konsument zu sein und genau das rettet ihn.

Die Geschichte war richtig spannend und der Schluß kam für mich überraschend. Irgendwie ist man es aus alten Märchen, etc. gewohnt, dass in der Regel der Tod, wenn er auftritt, auch siegt. Bei Dir aber nicht!

Sehr angenehm ist mir auch Deine wohltuend korrekte Rechtschreibung aufgefallen - es sei denn, ich habe alle Fehler übersehen.... :)

Liebe Grüße
Barbara

 

Antonia, al-dente:

habt Dank für Eure netten Worte. Die tun gut... :)

Gruß
Bobo

 

Seas Bobo!

Auch mir hat die geschichte gefallen und obwohl sie zu den längeren gehört, ist mir die Lesezeit gar nicht so lange vorgekommen. Ich schließe mich meinen Vorkritikern in jeder hinsicht an und möchte eine Sache hinzufügen und in einer widersprechen.

Hinzufügen möchte ich, dass mir das einbauen des Liedtextes sehr gut gefallen hat und es meiner Meinung nach gut gepasst hat.

Widersprechen möchte ich in dem, dass die Geschichte meiner Meinung nach nicht in medias res ist. Die Geschichte beginnt am Anfang mit dem Erscheinen des Stirbdoch, ist geradlinig und verläuft bis zum Schluss gerade aus. Meiner Meinung nach fehlt das in medias res total.

Fazit: Originelle, witzige und kluge Sage über einen verkannten Schriftsteller, der durch seine Vorliebe zum Schreiben dem Tod entsagt (trief!). Aber leider nicht in medias res.

Liebe Grüße aus Wien, Peter Hrubi

 

Hallo Peter,
danke für Deinen Kommentar. Ob's "in medias res" ist oder nicht - ich überlass es den Juroren, das zu beurteilen.

Gruß
Bobo

 

Hallo Bobo,

als ich deine Geschichte laß, saßen Schreibdoch und Kritisierdoch hinter mir, einem habe ich letzten Endes nicht widerstehen können.
Ich mag so leichten, trockenen Humor. Hat sich flüßig und schmunzelhaft gelesen. :thumbsup:

Gruß vom querkopp

P.S. Ist es nicht so, dass bei medias res das Ende / das Ziel der Handlung von Beginn an klar sein sollte? ;)

 

Hallo querkopp,

danke fürs Rückfutter.
Ja, das Ziel soll von Anfang an klar sein. Ist's auch bei meiner Story: Mann trifft Tod und überlebt dieses Treffen. Wie sollte er sonst davon erzählen? ;)

Gruß
Bobo

 

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