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Mond-Schein
Alfred Soltau fuhr seit Stunden auf der Autobahn Richtung Norden. Er hasste lange Autofahrten, aber immerhin war er noch nicht in einem Stau stecken geblieben. In Hamburg angekommen, würde er ins Hotel einchecken und ohne irgendeinen Umweg direkt unter der Dusche verschwinden. Er verabscheute Tagungen und wäre auch dieser lieber aus dem Weg gegangen, aber sein Chef war sehr deutlich geworden. Repräsentative Termine waren ein notwendiges Übel, wenn man eine leitende Position behalten wollte. Das galt bei der ESA genauso wie bei jedem Wirtschaftsunternehmen.
Er träumte gerade von dem hervorragendem Milchkaffee eines kleinen Straßencafés, das er bei seinem letzten Hamburgbesuch entdeckt hatte, als sein Blick über den mit leeren Kaffeebechern übersähten Beifahrersitz hinweg aus dem Fenster fiel.
Seine Kiefermuskulatur erschlaffte und ein dünner Speichelfaden rann aus dem nunmehr geöffneten Mund. Er konnte nicht glauben, was er sah.
Ein hellrotes Licht unmittelbar vor ihm, riss seine Aufmerksamkeit von der unglaublichen Entdeckung los.
"Scheiße!"
Er stieg auf die Bremse und sein Wagen brach hinten aus.
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Dr. Margareth Montag hasste den gleichnamigen Wochentag.
Sie hatte sich oft gewünscht, ihr Mann hieße Donnerstag, denn mit Donnerstagen kam sie gut klar. Doch sie musste sich ausgerechnet in Stefan Montag verlieben.
Nun, sie hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden.
Ein weiteres Schicksal, mit dem sie haderte war, dass sie als Astrophysikerin nicht gut genug war, um in einem dieser tollen Observatorien in den Anden angestellt zu werden. Sie hatte es nur bis ans Karl-Schwarzschild-Observatorium in Tautenburg geschafft. Nun ja, es war ohnehin nur eine Doktorantenstelle und auf drei Jahre befristet. Vielleicht würde sie noch drei Weitere herausschlagen können, obwohl sie nicht sicher war, ob sie das wirklich wollte. Thüringen war wirklich nicht die richtige Gegend für einen sonnensüchtigen Menschen wie Margareth. Manchmal fragte sie sich, warum sie überhaupt Astrophysik studiert hatte. Nicht gerade der frischluft- und strandreichste Job, den man sich suchen konnte. Archäologin, Ausgrabungen in Ägypten, das wär's gewesen.
Sie hatte gerade eine Vorlesung gehalten, einer der aktuellen Hauptgründe, warum sie Montage hasste. Sie fand, einen Kaffee verdient zu haben und machte einen Umweg durch die Mitarbeiterküche. Viel zu viel Milch und Zucker, wie Stefan immer wieder betonte, aber sie liebte ihren Kaffee nun mal genau so.
Sie hielt sich die Tasse unter die Nase, schloss die Augen und inhalierte den Duft, bevor sie ansetzte und einen großen Schluck nahm. Sicherheitshalber gönnte sie sich noch einen Zweiten. Wenn die Tasse mehr als halbvoll war, würde sie auf dem Weg zum Büro ohnehin das Meiste verschütten.
In Gedanken bewunderte sie mal wieder die Kellnerinnen, die scheinbar mühelos ein Tablett mit zwanzig Gläsern unbeschadet durch eine überfüllte Kneipe balancierten und sogar noch wussten, welches Getränk für welchen Gast war. Sie hatte sich mit Hiwi-Jobs für ihre Professoren durchs Studium gerettet.
Margareth war schon halb an der Tür der Datenverarbeitung vorbei, als ihr bewusst wurde, dass ungewöhnlich viele Leute in dem Raum waren und seltsam nervös wirkten. Sie trat einen Schritt zurück und beobachtete das Treiben, gedankenverloren an ihrem Kaffee nippend. Ein Tabellenausdruck machte die Runde.
Achim Frenzel entdeckte sie schließlich.
"Margareth! Kommen sie herein, das müssen sie sich ansehen", sagte er mit zittriger Stimme.
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Peter saß entspannt auf einer Bank im Park. Er hatte einen Kaffee mit Frau Tenner genommen und war anschließend ein wenig Spazieren gegangen. Er freute sich auf einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher, und war deshalb unangenehm überrascht, als die blassgelbe Scheibe des bereits am Himmel sichtbaren Mondes zunehmend größer und ihm klar wurde, dass der Trabant im Begriff war, auf die Erde zu stürzen.
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Alfred blickte auf ein weißes Ding, das aus dem Lenkrad heraushing. Er brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass dieser schlaffe Sack nicht gegen die Schwerkraft verstieß, sondern er selbst inklusive des gesamten Autos auf dem Kopf stand. Der Gurt schnitt ihm tief in Schulter und Bauch.
Immerhin schien er nicht eingeklemmt zu sein. So ein großer Wagen hatte schon seine Vorteile. Aber wie konnte er überhaupt ins Schleudern geraten? Wofür hatte er eigentlich diese teuren Abkürzungen ABS und ESP bezahlt?
Ganz almählich kamen die Meldungen der verschiendenen Schmerzrezeptoren in seinem Hirn an. Er stöhnte.
"Erst einmal aus dem Gurt raus", sagte er sich. Der Versuch, es laut auszusprechen klang mehr nach einem Krächzen.
Auf dem Gurtschloss war zu viel Zug. Er konnte es nicht öffnen.
Hätte er bloß die zwanzig Kilo abgenommen, die ihm seine Frau immer vorwarf. Warum konnte er nur Bier und Kartoffelchips nicht widerstehen? Er schwor sich sofort mit einer Diät anzufangen, wenn dies überstanden war.
"Mist!" Er würde es nun doch nicht rechtzeitig zur Tagung nach Hamburg schaffen. Ob ihn das seinen Job kosten könnte? Aber man würde ihn brauchen. Jetzt mehr denn je.
Eine Lücke klaffte in Alfreds Gedächnis. Er versuchte, sich zu erinnern, was ihn vom Verkehr abgelenkt hatte, doch alles hing im Nebel. Er wusste nur noch, dass es etwas gänzlich unglaubliches gewesen war.
Wieso kam eigentlich dieser verdammte Rettungsdienst nicht?
Zehn Minuten, hatte er mal gelesen, länger dürfte es nicht dauern, bis der Notarzt da ist. Die waren doch sicher schon um.
"Hilfe!" Es war nur ein dünnes Krächzen und er musste es noch drei mal rufen, bis er endlich zu nennenswertem Stimmvolumen zurückkehrte. Langsam überwältigte ihn die Verzweiflung. Lang würde er diesen Kopfstand nicht mehr aushalten. Er musste aus diesem verfluchten Gurt heraus. Mit zittrigen Händen riss er am Gurtschloss.
Wo blieb nur der beschissene Rettungswagen?
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"Das kann nicht sein!"
Margareth warf den Bogen Endlospapier auf den Tisch. Sie konnte die Telemetriedaten auf dem Blatt ebenso wenig verstehen, wie die Bezeichnung Endlospapier für eine Papiersorte, die zwar Lochrand, Perforation und einen Tabellenaufdruck hatte, aber alles andere als endlos war. Sie war im Haushaltsausschuss, sie kannte die Summen, die sie regelmäßig für den Nachschub an angeblich endlosem Papier ausgeben mussten.
Sie riss sich von der Flucht in Belanglosigkeiten los und versuchte sich auf die Daten zu konzentrieren.
Sie konnten - sie durften nicht wahr sein.
Ihr Blick fiel auf den Studenten, der nervös vor ihr zu Boden blickte. "Rudolph, nicht war? Sie haben also diese Messreihe durchgeführt?"
"Ja", bestätigte der junge Mann mit noch immer gesenktem Blick. "Das war ich." Er biss sich auf die Lippe.
"Am Freitag entsprach noch alles den vorausberechneten Daten. Würden Sie mir bitte erklären, wie es in nur zweieinhalb Tagen zu einer derart katastrophalen Veränderung kommen konnte?"
"Ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte. Ich weiß nur, dass ich heute morgen diese Auswertung bekommen habe. Ich hab es zweimal gecheckt."
"Wann wird es soweit sein?"
Der Student atmete tief ein. "Donnerstag", sagte er schließlich.
Margareth seufzte.
"Bisher mochte ich Donnerstage."
Achim schaute betreten drein. Schließlich sagte er, "Margareth, der nächste Schritt wäre, die Daten mit anderen Observatorien abzugleichen."
"Du hast recht", bestätigte sie und schob einige Papierstapel zur Seite, um an das Telefon zu gelangen. Sie wählte die Nummer des Zimmermann-Observatoriums in Bern. Klaus Braun, ein alter Studienfreund von ihr arbeite dort. Sie war schon durch die Landes- und Ortsvorwahl, bevor sie registrierte, dass sie gar kein Freizeichen bekommen hatte. Sie wünschte sich eines dieser alten Telefone, die noch eine richtige Gabel hatten. Mehrfach den "Abheben"-Knopf zu drücken war nicht das Selbe.
"Das Telefon ist tot", gab sie bekannt und wurde blass.
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Dass der Rettungswagen längst da war, bemerkte Alfred, als ein Sanitäter an das Fahrerfenster klopfte.
Er bewegte die Lippen. Alfred erriet mehr, was gesagt wurde, als er tatsächlich verstand. "Ich bin okay, denke ich." rief er. "Aber ich habe Schmerzen und ich kann den Gurt nicht lösen."
Der Sani riss an der Tür. Sie war verzogen. Alfred befürchtete schon, er müsse auf die Feuerwehr mit der Rettungsschere warten, als das Blech sich unter lautem Aufstöhnen bewegte.
"Achtung!", sagte der Sani, "Ich werde jetzt Ihren Gurt zerschneiden. Können Sie sich selbst abfangen, oder soll ich meinen Kollegen um Hilfe bitten?"
"Nein, nein, es geht schon", versicherte Alfred und streckte die Arme über den Kopf, bis er den Himmel des Wagens berühren konnte. Eine Sekunde und ein reißendes Geräusch später lastete sein gesamtes Gewicht auf seinen Armen und ein brennender Schmerz durchfuhr ihn. Er schrie auf.
Erneut bereute er die zwanzig Kilo Übergewicht. Seine Arme knickten ein und er schlug mit dem Kopf auf.
Es wurde dunkel.
Als er wieder zu sich kam, lag er mit angehobenen Beinen auf einer Trage. Ein Mann blickte auf ihn herunter. Dr. F. Werner stand neben einem roten Kreuz auf dem Plastikschild an seiner Brust. "Sie hatten Glück. Nur Prellungen und ein Schleudertrauma. Was ist denn eigentlich passiert?"
Alfred versuchte sich zu erinnern. Der Nebel war etwas dünner als vorhin. Seine Stimme war zittrig.
"Ich war einen Moment abgelenkt", stieß er hervor, "und musste plötzlich bremsen. Dann bin ich wohl ins Schleudern geraten. Verdammter Heckantrieb."
Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Fast war es wieder greifbar.
Dann lichtete sich der Nebel ganz. Er stöhnte.
"Was hat sie denn abgelenkt?" fragte Dr. Werner.
Alfred blickte den Arzt aus angstverzerrtem Gesicht an.
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Peter geriet in Panik. Er tat das nicht oft. Er war sehr rational veranlagt. Der Mond stürzte auf die Erde. Das konnte nicht gut ausgehen. Er überlegte, ob er die Anderen warnen sollte, kam aber zu dem Schluss, dass sie es früher oder später ohnehin bemerken würden. Wozu eine Massenpanik früher auslösen als nötig.
Mit plötzlicher innerer Ruhe, wie sie nur dem Schock der Verzweiflung entspringen konnte, beschloss er, nach Hause zu gehen und seinen Fernsehabend wie geplant stattfinden zu lassen.
Außer, dass er sich hemmungslos betrinken würde. Auf ärztliche Ratschläge zu hören, würde jetzt wohl keinen Sinn mehr machen.
Er schickte sich gerade an, den ersten Schritt zu tun, als zwei schlicht gekleidete aber erkennbar muskulöse Männer mit dunklen Sonnenbrillen an ihn heran traten.
"Peter Faßhauer?", sagte der kleinere der beiden mit tiefer, ruhiger aber durchdringender Stimme. "Ich muss Sie bitten, uns zu begleiten."
Die Panik kehrte zurück.
"Aber ich wollte es doch ohnehin für mich behalten!", stotterte er.
Der größere der Muskelmänner griff nach Peters Arm.
"Ganz ruhig", sagte er.
Der andere zog eine Spritze aus der Tasche, schnippte mit dem Finger dagegen und drückte zwei Tropfen heraus.
Peter drehte sich um und rannte um sein Leben.
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"Das aber muss unter uns bleiben", verlangte Alfred panisch.
"Sie haben mein Wort", versicherte der Arzt.
"Ich habe ein Cabrio überholt", erklärte Alfred mit schwacher Stimme.
"Aha. Und?"
Alfred sah den Arzt mit verzweifelten Augen an. Ein schwärmerischer Ausdruck mischte sich dazu.
"Darin saß die schönste, vollbusigste Blondine, die ich je gesehen habe."
Er holte tief Luft.
"Und sie war nackt."
Dann ließ er sich zurücksinken und schloss die Augen.
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Einen Moment lang kämpfte Margareth um ihren Verstand. Wenn diese Daten stimmten, wäre das Milde gesagt verherend. Es wäre vernichtend. Das Ende.
Michael Volland, der Systemadministrator der Einrichtung, hatte bisher still in einer Ecke gestanden. Nun trat er hervor. Sein rechter Mundwinkel war ganz, ganz leicht nach oben gezogen. "Dr. Montag, würden Sie bitte einen Blick auf die rechte, obere Ecke des Computerausdrucks werfen."
"Was soll da schon stehen? Das selbe Datum wie auf meinem Wecker. Heute ist der erste...", ihre Augen weiteten sich. Der Student, der sich mittlerweile die Lippen fast wundgebissen hatte, platzte es heraus: "April, April!", und warf sich lachend um Luft ringend zu Boden.
"Ihr Schweine!" entfuhr es Margareth, "Ich dachte schon ich könnte meinen Habitilation vergessen." Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie sah in ihre Tasse.
"Ich hasse Montage!", stellte sie fest und fügte nach einem Moment hinzu: "Und jetzt ist auch noch mein Kaffee kalt."
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Die beiden Männer holten Peter spielend ein. "Herr Faßhauer, ich bitte Sie. Das ist das dritte mal in einer Woche." Der Eine hielt Peter fest, während der Andere ihm eine Injektion verabreichte.
"Das sollte ihn ruhig stellen." Er sah sich um.
Ein paar Leute, die diese Szene aus sicherer Entfernung beobachtet hatten, entdeckten unglaublich interessante Dinge direkt vor sich auf dem Boden, studierten angestrengt die Heckenrosen oder hielten nach Wolken Ausschau.
"Es ist alles unter Kontrolle", versicherte der große Muskelmann der desinteressierten Menge. Er hielt seinen Dienstausweis in die Höhe. "Wir sind von der psychatrischen Anstalt und dieser Herr hier leidet unter Wahnvorstellungen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass er vollkommen harmlos ist."
Die beiden Pfleger nahmen Peter zwischen sich.
"Sie sollen doch nicht ausreißen, wenn Ihre Betreuerin sie mal auf einen Kaffee mit in die Stadt nimmt. Jetzt müssen wir Ihnen den Ausgang vorläufig streichen.", sagte der Große.
"Na, wieder das Ende der Welt gesehen?" stichelte der Kleine. "Was war es denn diesmal? Große gelbe Raumschiffe, die die Erde sprengen wollen?"
Die beiden lachten.
Auf einer großen Insel im Norden Europas begann - in einer Ledertasche, unter alten Theaterskripten und einem Handtuch verborgen - ein kleines Gerät, hektisch zu blinken.