Stehendes Kind
Stehendes Kind
Nun stand sie da, alles versucht, alles probiert.
Ausgemergelt, an wen sollte sie sich noch wenden?
Zuwendung, das verlangte sie, Wellenlängen, die mit den ihren übereinstimmen.
Ihre Stimmung war bedrückt, raumgreifend erfassbar. Dann schob er sie mit seinem kalten Fingern auf das feindselige Gerät. Fett umhüllte nun ihre Knochen, wabbeliges, ekliges Fett.
Knochenharte Arbeit war es, das Verdrängen, das Verstecken, den Finger in den Mund zu stecken.
Steckspiele machten sie mit ihr, und Töpfern. Töpfe abwaschen, nach gemeinsamen rituellen Mahlzeiten. Zeitig zu Bett gehen, eine halbe Stunde der Stille des Zimmers lauschen. Dann, auf leisen Sohlen, zur Toilette schleichen. Das Verlangen stillen, rauslassen, was sie nicht will, sich nicht bezwingen lassen.
Der Zwinger ist ihr Körper, in dem sie gefangen ist. Nichts scheint sie zu beherrschen, außer eben diesen.
Ein Fangspiel zwischen Leben und Tod, tödliches Verlangen nach dem, was sie nicht ist.
"Ist das ihr Körper, den sie da malen?" Gemaltes Entzücken im Gesicht des Betreuers.
Treu dem Anstaltsmotto, das keiner ausspricht, denn es ist geheim, durchschaut sie sein Unterfangen:
"Ja, langsam sehe ich es ein. Mein Körper ist nicht dick, wie mir mein Spiegelbild suggeriert. Spielend brachten Sie mir hier bei, mich anzunehmen, nicht weiter abzunehmen."
"Das Bild, es gefällt mir. Was bedeutet der rote Hintergrund?"
"Das Rot steht als Mahnmal für den Beginn, das Ausbleiben meiner Periode, abgegrenzt durch meine Knochen, weiß und hervortretend wie spitze Gräten.
Mein Haar, zwar lang, aber splissig und dünn. Schwarz, wie der Grund auf dem ich mich bewege, schwarz wie der hungernde Tod.
Mein dünner Körper, weiß und blass, von einer flaumartigen Behaarung überzogen, nicht einmal in der Lage, heiß zu baden.
Mit einer Hand, zitternd und blau durch das ständige Kältegefühl, konnte ich meine Oberschenkel umfassen!
Doch sehen Sie, das Grün, es leuchtet, hat Kraft, ist saftig, frisch und eben grün."
"Die sechs Wochen, die Sie hier verbrachten, verschafften Ihnen also Besserung?"
"Oh, es geht mir besser, das dürfen Sie mir glauben."
"Glaubhaft zeigt es nur die Waage, ob Sie sich auf dem Wege der Besserung befinden. So kommen Sie!"
Die roten Leuchtziffern der Waage zeigten das langersehnte Ziel.
"Erfolgreiche Gewichtszunahme von sieben Kilogramm während der letzten sechs wöchentlichen Messungen.
Auf Messers Schneide stand Ihr Leben, das ist Ihnen ja jetzt hoffentlich bewußt?"
"Bewußtsein dafür und für meinen Körper habe ich hier erfahren.
"Die Erfahrung zeigt, dass einige harte Rückfälle erleiden."
"Darf ich nun meine Koffer packen?"
Dick und rund stand sie nun am Bahnhof, saß auf ihren zwei Gepäckstücken mit bangen Gedanken an Mamas runde, eckige und ovale Torten. Ihre Mutter hatte diese extra für sie gebacken, als Willkommensgruß nach sechswöchigem Aufenthalt in der Heilanstalt.
Die Heilung hielt recht lange an,
diesmal bis zur Zugtoilette.
[Beitrag editiert von: Maya20 am 10.04.2002 um 00:38]