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Wir wollen, dass du aus der Kälte kommst

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28.12.2009
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Wir wollen, dass du aus der Kälte kommst

Ich packte zwei Flaschen Mühlen Kölsch und eine Tüte Salzmandeln auf den Tresen. Yeko gab die Preise in die Kasse ein und nickte mir zu. „Und sonst?“
„Muss“, sagte ich. „Gibste mir noch `ne rote Marlboro?“
Ich zahlte mit einem der neuen Zwanziger, öffnete die Schachtel im Kiosk und schmiss das Zellophan in den Mülleimer vor den Kühlschränken.
„Dann mal `n schönes Wochenende“, sagte Yeko und packte das Bier in eine dünne Plastiktüte. Ich schloss die Tür und steckte das zerknüllte Silberpapier in meine Hosentasche.

An der Bushaltestelle Heinrichstraße blieb ich stehen, um mir eine Zigarette anzuzünden. Damals rauchte ich vierzig, fünfzig Stück am Tag – rote Marlboro, keine andere Sorte. Ich spazierte durch den Park, entlang der Sieg, mit Blick auf die Altbauten und Hinterhöfe und bog erst an der VHS auf unsere Straße ab. Die Bierflaschen schlugen in der Tüte gegeneinander. Glas auf Glas – ein Geräusch, das ich bis heute gerne höre. Es muss früher Sommer gewesen sein, der Asphalt gab schon Wärme ab und die Blumen am Krankenhausbeet begannen zu blühen.

Mein Vater saß auf den Treppenstufen, auf seinen Knien lag ein Koffer aus braunem Leder, an dem beide Verschlüsse fehlten. Als er mich sah, hob er die Hand.
„Machst’n du hier?“, fragte ich und stellte die Plastiktüte ab.
„Ach“, sagte er und klopfte mit der flachen Hand auf den Koffer. „Hab‘ die Garage aufgeräumt, die war ja so voll, so voll war die, meine Güte, was da alles für `n Scheiß drinstand … und da, tja, da hab‘ ich was gefunden, ganz hinten bei den alten Reifen.“
Ich sah zuerst ihn an, dann den Koffer.
„Also, da wirste dich aber freuen, bin ich mir sicher, dass du dich freuen wirst.“
„In dem Koffer da?“
Er rieb sich lächelnd mit dem Daumen über das Kinn. „Genau, ja, in dem Koffer.“
Ich ließ die Kippe in den Gully fallen und setzte mich neben ihn. Unter seiner zerschlissenen Wolljacke trug er einen Overall mit dem Emblem von Lüghausen, eine Firma, die schon ewig nicht mehr existierte und für die er eine kurze Zeit gearbeitet hatte. Er roch nach Altöl, Schweiß und After Shave. Ich schüttelte den Kopf und tätschelte sein Knie. „Na, dann lass mal sehen.“
Er atmete ein, legte die Hände auf die Kanten des Koffers und öffnete ihn langsam. In der unteren, mit schwarzem Filz bezogenen Schale befand sich ein Stapel mit großen, genormten Papierbögen. Mit Wasserfarben gemalte Bilder von Tieren. Ungelenke Stillleben. Landschaften. Ich streckte die Hand aus. Meine Finger berührten das wellige, leicht feuchte Papier. „Und wo hast du die nochmal gefunden, sagst du?“
„Im Regal bei den Reifen, in dem Regal da, weißt du doch, ganz hinten durch.“
„Das sind meine Bilder aus der Malschule, Malschule Grunschel.“
Mein Vater nickte. „Ich wusste, dass du dich freust.“
Ich zog das erste Bild vom Stapel, hielt es ins Licht, betrachtete die ausgeblichenen Farben. „Wie lang das her ist? Ich hab‘ echt keine Ahnung.“
„Dritte Klasse“, sagte mein Vater. „Du kamst gerade in die dritte Klasse.“
Ich hielt das Bild hoch, drehte es hin und her. „Aber gar nicht mal schlecht, oder?“
„Großes Talent, meinte deine Lehrerin ja. Der Jimmy, der hat großes Talent, der sollte unbedingt gefördert werden.“ Er zuckte mit der Schulter. „Warst der Jüngste da, und auch der einzige Junge.“
Wir saßen eine Zeitlang schweigend nebeneinander, bis ich die Schachtel Marlboro aus meiner Hemdtasche holte und meinem Vater eine Zigarette anbot. „Und du hast das wirklich in der Garage gefunden, den Koffer und alles …“
Er zündete sich die Zigarette mit seinem eigenen Feuerzeug an und nahm einen ersten Zug. „Jaja, ganz hinten drin, wie gesagt, in dem Regal bei den Reifen. Ach, was waren da für Reifen, Sommerreifen, Winterreifen, alle möglichen Reifen. Hatte Mutter wahrscheinlich einfach irgendwo dazwischen hingetan, kanntest sie ja.“
„Ja“, sagte ich. „Ja.“
Dann sah mein Vater auf die Plastiktüte, die Zigarette zwischen den Lippen, seine Augen halb geschlossen. „Hast du dir etwa Feierabendbier gekauft?“
„Christina macht Kassler.“
Er schloss die Augen, nahm einen Zug und sagte: „Ihr beiden, das passt schon.“
„Warum? Weil sie Kassler macht?“
„Weil sie dich dein Bier trinken lässt …“
Ich sah ihn aus den Augenwinkeln an und musste lachen, dann schob ich das Bild zurück in den Koffer. „Komm mit rauf, das musst du ihr zeigen, unbedingt.“
„Aber `s sind ja deine Bilder.“
„Komm schon, sie wird sich freuen.“
„Na, wenn du meinst, mein Junge, dann machen wir das mal.“
Wir standen auf. Ich nahm die Plastiktüte mit dem Bier und er den Koffer. Er klemmte ihn sich unter den Arm, trug ihn so ganz vorsichtig durch das Treppenhaus. Vor der Wohnungstür drang uns der Geruch von gebratenem Fleisch und Sauerkraut entgegen.

Christina stand vor dem Herd. Der Dunstabzug lief auf vollen Touren, Dampf waberte aus einem der Kochtöpfe. Sie trug eine Schürze, die ich ihr aus Kanada mitgebracht hatte: knielang, hellgrau, auf der Vorderseite ein Siebdruck, der einen Biber mit riesigen Zähnen zeigt, darüber, in ausladend großen, schwarzen Lettern: DAMN GOOD COOK. Sie hörte uns im Flur, wie wir uns die Schuhe auf der Schmutzmatte abtraten und die Jacken an die Garderobe hingen. Als sie meinen Vater sah, schüttelte sie den Kopf und fragte: „Ach, nee, wen haben wir denn da?“
Mein Vater zuckte mit den Schultern und blieb vor dem Küchentisch stehen. „Bin eben `n viel beschäftigter Mann, weißt du doch?“, sagte er. Er hielt den Koffer immer noch unter dem Arm.
Sie winkte ab. „Jaja, das sagen sie alle.“
Ich stellte die Plastiktüte auf das Fenstersims und setzte mich auf einen der Stühle. „Hat beim Aufräumen in der Garage was gefunden, was aus meiner Vergangenheit.“
Sie sah mich einen Augenblick lang an, drehte den Herd herunter und schob den Topf mit den Kartoffeln von der Platte. „Aus deiner Vergangenheit?“
Ich nickte, machte eine Geste und mein Vater öffnete den Koffer.
„Ein – wie hieß der?, Picasso, ja, ein Picasso war er früher, musst du wissen“, sagte er und legte den Koffer auf den Tisch. Christina wischte sich die Hände an der Schürze ab. Sie sah auf das oberste Bild, fuhr mit dem Zeigefinger an der Seite des Stapels entlang. „Die sind alle von dir?“
„Ich war eben ein großes Talent …“
Sie zog eines der Bilder aus dem Stapel und betrachtete es mit einer Armlänge Abstand. „Und was soll das hier sein?“
„Kassler mit Sauerkraut natürlich“, sagte ich, und sie schnalzte mit der Zunge und legte es zurück auf den Stapel. Dann wendete sie sich an meinen Vater. „Hans, wo du grad‘ da bist – iss doch mit. `s reicht für drei.“
Mein Vater hob die Hände. „Ach nee, lass mal, ich muss noch nach der Garage gucken, so viel Gerümpel da, der janze alte Kram, muss ja alles mal raus, wirklich.“
„Die Garage kann doch warten“, sagte Christina. „Jetzt setz dich schon hin.“
Ich nahm den Koffer vom Tisch, stellte ihn in die schmale Ecke hinter dem Kühlschrank und holte die Bierflaschen aus der Tüte.
„Mühlen Kölsch“, sagte mein Vater leise und nickte.
„Ich geh‘ auch hart arbeiten.“
„Na, ich hab ja nix anderes behauptet, oder hab ich das, hab ich was anderes behauptet?“
Ich öffnete die Flaschen mit der Kante meines Feuerzeugs und reichte ihm eine herüber. Christina zog mir die Ohren lang, weil ich sie alles alleine machen ließ, das weiß ich noch genau, und mein Vater beschwichtigte und sagte ihr dann, ich sei eigentlich schon immer eine faule Sau gewesen, ich tue nur so, als würde ich hart arbeiten, ich wüsste eben ganz genau, wann ich die Hände aus den Taschen nehmen muss. Danach deckte er feierlich den Tisch, vergaß dabei die Servietten und ließ den Salzstreuer auf den Boden fallen.

Später saßen wir auf dem Balkon, rauchten, tranken Kaffee mit aufgewärmter Milch, die Tüte Salzmandeln zwischen uns auf dem Campingtisch.
„Musste morgen raus?“
„Nee“, sagte ich. „Ich mach ja nur noch Kurzstrecke, will abends zuhause sein. Und Wochenenden auch nicht mehr, hab ich so mit`m Chef abgesprochen.“
„Machst du richtig. Machst deine Arbeit, kriegst dein Geld, hast aber trotzdem was vom Leben.“
„Und bei dir? Wie läufts bei der Emitec?“
Er nahm ein paar Nüsse, steckte sie sich in den Mund, kaute.
„Ach, Emitec, Emitec, was soll da schon laufen? Da seh‘ ich nur noch in tote Augen, sag ich dir. Keiner will da bleiben, ständig kommen neue Kollegen, immer neue Kollegen – der Dieter, Franz, Türke Hassan, alle weg, und ist ja auch kein Traumjob, nein, ist es nicht, aber was soll ich machen? Ich werd‘ achtundfünfzig, da kann ich mir nicht aussuchen.“

Im Bett legte Christina ihr Buch zur Seite. „Ich finde, er sieht schlecht aus.“
„Ja“, sagte ich und holte ein frisches T-Shirt aus der Schublade. „Ist mir auch aufgefallen.“ Ich faltete das Shirt auseinander und legte es über die Stuhllehne. „`s war gut, dass du das gemacht hast, das mit dem Essen.“
„Ja, aber ist doch auch kein Problem.“
„Nein, war gut, `s war wirklich gut.“
Sie nickte und nahm das Buch wieder in die Hand.

In der Nacht wachte ich vom Lachen des Krankenhauspersonals auf. Ich kroch leise aus dem Bett, ging durch den dunklen Flur in die Küche, die vom gleißenden Licht der Notaufnahme erhellt wurde. An der Spüle füllte ich ein Glas mit kaltem Wasser, trank ein paar Schlucke, kippte den Rest in den Ausguss. Dann setzte ich mich an den Tisch und zündete mir eine Marlboro an. Auf dem Balkon der mittleren Etage, die dem Küchenfenster genau gegenüberlag, standen drei Personen im Kreis. Ein Mann, zwei Frauen. Der Mann trug noch den mintgrünen OP-Kittel und hielt eine brennende Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen. Ich konnte Teile seines Gesichts erkennen - den olivfarbenen Teint, den schmal rasierten Oberlippenbart. Er sprach so leise, dass ich nichts von dem, was er sagte, verstehen konnte. Ich sah nur, wie sein Mund sich bewegte, wie sich die Lippen öffneten und schlossen. Die beiden Frauen lachten, danach tuschelten sie, ihre Stimmen spitz und hell. Ich rauchte langsam, Zug um Zug, blieb dabei im Schatten hinter der großen Kaktee, die auf dem Sims stand. Die Frauen gingen bald wieder. Der junge Arzt blieb alleine zurück. Er stützte sich mit einer Hand auf der Brüstung ab, lehnte sich ein Stück über das Geländer und schnippte die Kippe auf die Straße. Die Glut zersprang auf dem Asphalt in tausende Funken. Für einen Moment verharrte er so, den Blick in die Dunkelheit gerichtet, dann ging auch er zurück ins Innere des Gebäudes. Mein Blick fiel auf den Koffer, der immer noch in der Ecke hinter dem Kühlschrank stand. Ich holte ihn hervor, legte ihn auf den Küchentisch, fühlte über das Leder. Es war billiges Imitat, das nach Chemikalien und Kunststoff stank. Ich griff wahllos in den Stapel. Das Bild, das ich herauszog, war kleiner als die anderen - ein hochkantiges Format aus grob strukturiertem, schwerem Papier. Es zeigte eine Auenlandschaft, mit einem sich wild dahinschlängelnden Fluss, ein Stück der bewachsenen Uferböschung, kahle Bäume, hohe Weiden – alles in Blautönen gehalten. Ich hatte keine Erinnerung daran, dieses Bild gemalt zu haben. Ich fuhr mit dem Daumen die Farbverläufe nach, über das fast schwarze Blau des Flusses, das verwässerte Türkis der Bäume. Ein wenig Pigment rieb sich vom Papier ab und blieb an meinen Fingerspitzen haften. Ich sog diesen Geruch ein – den Geruch von getrockneter Farbe und altem, feucht und wieder trocken gewordenem Papier.

Am nächsten Morgen ließ ich Christina ausschlafen. Ich trank in aller Ruhe die erste Tasse Kaffee, rauchte bei geöffnetem Küchenfenster und zog mich im Badezimmer an. Anschließend ging ich auf dem Markt einkaufen. Ich packte Zucchini, Creme-Pilze, Fenchel, Tomaten und frische Paprika in das Netz, kaufte zwei Packungen Eier vom Bauern und holte die bestellten Hüftsteaks vom Metzger. Auf dem Rückweg kaufte ich beim Kiosk noch die Wochenendausgabe des Stadtanzeigers, drei Schachteln Marlboro und sah nach der Post. Seine Stimme hörte ich schon im Erdgeschoss, als ich den Briefkasten leerte. Das Lachen der Väter, tief und voll und laut.

Er saß am Küchentisch, eine Selbstgedrehte zwischen den Lippen und einen Becher Kaffee in den Händen. Sein Gesicht war in den blauen Dunst der Zigarette gehüllt, aber ich sah sein breites Grinsen. Er hob den Kopf, nickte mir zu, sein flaches Kinn mit dem grauen Bart bewegte sich langsam auf und ab. „Junge“, sagte er. „Was du alles machst! Gehst du einkaufen, kochst du, und Christina sagt, manchmal putzt du auch die Toilette!“ Er nahm einen Zug und blickte auf die Glut. Dann sagte er: „Machst du auch die Wäsche?“
Ich sah zu Christina, die am Ende des Tisches saß, eine Dose Coca-Cola in der Hand. Sie blickte in das kleine, schwarze Oval der Öffnung und ihre Schultern zitterten.
„Ja“, sagte ich. „Ist gut, ist ja schon gut“, und dann begann sie zu lachen, und mein Vater lachte auch. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Miniaturkanone aus Plastik, der Nachbau einer 12-Pfünder. Er nahm meinen Blick auf und fragte: „Kannst du dich noch erinnern?“
Ich nahm mir eine Tasse aus dem Regal und setzte mich auf den Platz neben dem Fenster. „Nein, nein, kann ich nicht, ich erinner‘ mich nicht. Was ist das?“, fragte ich und goss mir Kaffee ein.
„Wir waren in Dänemark, Urlaub. Du warst ja noch ganz klein, und da, am Strand, da standen diese Kanonen herum, vier, fünf Stück, aus dem Krieg mit Napoleon oder was weiß ich mit wem, und da bist du drauf rumgeklettert, auf den Kanonen, und dann wolltest du unbedingt eine mitnehmen, nach Hause, weißt du das nicht mehr? – konnten ja nicht einfach eine Kanone mitnehmen, wie sollte das gehen?, aber du, du gabst keine Ruhe, einfach keine Ruhe, hast gebrüllt wie am Spieß, die Kanone, die Kanone, also was haben wir gemacht? Mutter hat dir die da gekauft, in einem von den Geschäften, eine Kanone aus Plaste, damit der Junge endlich Ruhe gibt, hat sie gesagt, und dann, na dann hast du auch Ruhe gegeben.“
Ich beugte mich über den Tisch, nahm die Kanone in die Hand, drehte sie hin und her. Es war ein schlecht gegossenes Exemplar, die Nähte standen heraus, das Material war rau und matt. „Kann mich nicht erinnern, wirklich nicht.“
Mein Vater zuckte mit der Schulter und zog an seiner Zigarette. „Warst noch klein, ganz klein … und normal, dass du dich nicht erinnern kannst, ich kann mich ja auch an nix erinnern, nur manchmal, dann ist’s wie ein Blitz im Kopp, da erinner‘ ich mich an die dollsten Sachen, so Sachen, wo ich nie dachte, dass die da noch drin sind.“ Er klopfte sich mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn.
„Dänemark“, wiederholte ich. „Wann war das?“
„Warst noch klein, ganz klein.“
Ich stellte die Kanone auf die oberste der Marlboro-Schachteln, die ich auf dem Tisch gestapelt hatte. „Hast du die auch in der Garage gefunden?“
Mein Vater nickte. „Da steht so viel drin, immer noch!, ich hab’s dir ja gesagt, weiß der Herrgott, was ich da noch alles drin finde.“
Christina trank den letzten Schluck Cola und stellte die Dose in die Kiste für den Pfand. „Ich fang schon mal mit dem Salat an“, sagte sie und öffnete den Kühlschrank.
Mein Vater drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. „Ich will euch nicht aufhalten hier.“
„Bleib schon sitzen“, sagte ich. „Ist genug da.“
„Aber wie sieht das denn aus, mein Junge? Gestern hier essen, heute hier essen, da seh‘ ich ja aus wie ein Dieb!“
„Dafür haste dich das letzte Jahr rar gemacht.“ Ich stand vom Tisch auf, packte das Fleisch aus der Folie und legte die Stücke auf ein großes Schneidebrett. „Da kann ich verkraften, wenn du mal zwei Tage hier bist …“
„Hatt‘ ich ja auch zu tun, war viel auf Arbeit. Weißt doch, wie das ist – klar kannst du’s einen anderen machen lassen, aber dann, was passiert? Nix passiert, eben. Bleibt immer alles liegen, und das ist dann auch scheiße, also machst du’s lieber direkt selber.“
Ich spülte das Fleisch mit kaltem Wasser ab, trocknete es mit Papierhandtüchern und legte die Stücke zurück auf das Brett. „Wollt‘ ich draußen grillen“, sagte ich. „Kannst mir mit dem Feuer helfen …“

Der Grill stand unter einem Pavillon, neben einem Haselnussstrauch, den ich ein paar Wochen zuvor zurückgeschnitten hatte, dessen Augen jedoch bereits wieder ausschlugen. Der ungemähte Rasen roch schon nach den im Frühjahr gesetzten Blumen und Kräutern. Aus dem Außenhahn ließ ich kaltes Wasser in einen Plastikeimer laufen, nahm ein paar Flaschen Mühlen aus dem Kasten im Keller und legte sie hinein. Mein Vater schichtete währenddessen die Kohle im Grill. Er hatte sein eigenes System, sortierte die Stücke immer wieder um, bis schließlich alles passte. Als das Feuer entfacht war, setzten wir uns an den Campingtisch und öffneten das erste Bier.
„Du hast ein gutes Leben“, sagte er und nahm einen Schluck. „Fleisch, Bier, vernünftige Frau – was will man mehr?“
Ich zündete mir eine Marlboro an. „Sag mal, an Dänemark, da kann ich mich echt nicht dran erinnern, kein Stück …“
„Ja, warst du auch zu klein für, für’s Erinnern, hab‘ ich dir schon paarmal gesagt jetzt.“
„Waren wir auch wirklich da, oder …“
„Was? Glaubst du mir etwa nicht? Warum sollte ich dich belügen? Warum sollte ich meinen eigenen Sohn belügen? Sag mir das?“
„Ist ja schon gut.“ Ich winkte ab. „Kümmern wir uns mal lieber um’s Fleisch …“ Er nickte, blieb aber sitzen und holte den Tabaksbeutel aus der Vordertasche seines Overall.
„Gibt auch Fotos“, sagte er und leckte das Blättchen an. „Such ich dir raus. Bring ich dir mit.“
Ich legte die Steaks auf den Rost. Es zischte, als Fett durch das Gitter auf die Glut tropfte. „Musst du nicht.“
Er saß still da, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, in der Hand eine brennende Zigarette, die Flasche Bier vor sich auf dem Tisch. Ich wendete die Steaks, spürte die aufsteigende Hitze der Glut im Gesicht. „Dreh mir auch mal eine“, sagte ich nach einer Weile und zeigte auf den Beutel Van Nelle.
„Ist aber schwarzer …“
„Macht ja nix.“
Er zog einen Strang Tabak aus dem Beutel, verteilte ihn in der Mitte eines Blättchens, rollte es zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen. Seine selbstgedrehte Zigarette sah aus wie eine gekaufte ohne Filter – keine Fransen an den Enden, überall der gleiche Umfang. „Ja“, sagte er, als er meinen Blick bemerkte. „Hab‘ ich ja auch bei den Franzosen gelernt, die drehen die Dinger in der Hosentasche, und einhändig!“
„Einhändig in der Hosentasche?“
„Hab‘ ich dir jemals Blödsinn erzählt?“ Er grinste und reichte mir dann die Zigarette. Ich steckte sie mir zwischen die Lippen, wendete die Steaks noch einmal und schob sie auf einen weniger heißen Bereich des Rosts zum Garen. Christina brachte den Salat in einer großen Keramikschüssel; Tomaten, Gurken und Fenchel gewürfelt, darüber zerriebener Ziegenkäse, ein Dressing aus Olivenöl, kühlem Essig und Sherry. Dazu gab es Ofenkartoffeln, die ich mit Rosmarin und Thymian gewürzt hatte. Sie stellte Teller und Schüsseln auf den Tisch, holte Saucen für das Fleisch aus dem Beistellregal, das in einer Ecke des Pavillons stand. Ich verteilte die Steaks auf die Teller – einfache Teller mit zerkratztem Spiegel, die Christina schon vor Jahren aussortiert hatte. Der Saft schimmerte auf der angegrillten Oberfläche und verströmte einen rauchigen Duft. Ich legte die Zigarette unangezündet neben den Teller und schnitt in das Fleisch; der Kern war noch leicht rosa, perfekt.

Später, als ich oben in der Küche den Abwasch machte, die gespülten Teller und Töpfe in das Abtropfgitter stellte, fiel mir auf, dass eine Schachtel Marlboro fehlte. Ich trocknete mir die Hände ab, nahm eine der beiden verbliebenen Schachteln vom Tisch und riss das Zellophan ab. Auf dem Balkon gegenüber standen wieder die beiden Krankenschwestern. Sie rauchten, redeten miteinander, aschten in eine Getränkedose. Ich sah ihnen schweigend zu, hielt dabei die volle Schachtel Marlboro in meiner Hand.
„Alles okay bei dir?“
Ich sah über meine Schulter. Christina stand in der Tür. Sie trug eines meiner alten Carhartt-Shirts und hatte sich ihre langen Haare zu einem Zopf gebunden.
„Ja, alles okay.“
„Heute sah er schon besser aus, fand ich.“
„Fand ich auch, ja.“
„Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?“
Ich legte meine Hand auf ihre Hüfte und gab ihr einen Kuss auf den Hals. Wir standen für eine Weile so da, Wange an Wange, meine Nase in ihrem feuchtem Haar, ihre Haut duftete nach Nachtkerzenöl, noch ganz warm und weich von der Dusche. „Ja, wirklich alles in Ordnung“, sagte ich. „Hab‘ nur unten was vergessen.“

Die Zigarette lag noch auf dem Tisch. Ich setzte mich auf den Stuhl, auf dem mein Vater gesessen hatte. Von dort konnte ich die Einfahrt entlang bis auf die Straße blicken. Das grelle Licht der Notaufnahme erhellte einen Teil der Hauswand, ich starrte auf die harten Kanten der Schatten, die auf dem Putz entstanden. Eine Katze sprang von der Backsteinmauer auf eine der Mülltonnen, sie machte dabei ein leises, dumpfes Geräusch, das in dem schmalen Gang widerhallte. Für einen Moment sah ich ihr durchgeflecktes Fell, danach verschwand sie wieder in der Dunkelheit. Kiengeruch wehte in sanften Schüben vom Stadtwald herüber, und ich schloss die Augen, atmete tief ein und suchte nach der Zigarette, die immer noch auf dem Tisch lag. Ich tastete über das Granit, bis ich das weiche Papier der Selbstgedrehten an meinen Fingerspitzen spürte. Bevor ich sie anzündete, nahm ich ein paar kalte Züge, schmeckte das Aroma des Tabaks. Den ersten Rauch ließ ich langsam durch die Nasenlöcher entweichen, wartete auf das Kratzen tief unten im Hals, wie sich die Wirkung des Nikotins allmählich in meinem Brustkorb entfaltete. Das Aufleuchten der Glut sah ich durch meine geschlossenen Lider hindurch – ein pulsierender Schein in fließendem Orange. Es war gut, dort zu sitzen, auf diesem Stuhl, in diesem Hinterhof, mit der Zigarette im Mund, die mein Vater für mich gedreht hatte. Ich ließ mir bei jedem Zug Zeit. Nach und nach verloschen die Lichter im Haus. Der blaue Dunst waberte durch die Nacht, löste sich in ihr auf. Ich hörte wieder die Stimmen des Krankenhauspersonals, die von den Balkonen hinab über die Straße bis an meine Ohren drangen; ein stetiges Auf und Ab, unterbrochen nur von lautem Lachen. Dann andere Geräusche: das Zuschlagen von Autotüren, die dröhnenden Motoren der im Leerlauf parkenden Notarztwagen. Bald wurde es so still, dass nur das unterschwellige Summen der elektrischen Leitungen übrig blieb. Ich rauchte, bis die Glut mir die Finger versengte, bis der Schmerz unerträglich wurde, um dann noch einen Zug zu nehmen, einen letzten, tiefen Zug, den ich sehr lange in den Lungen behielt.

In dieser Nacht hatte ich einen Traum: Ich stehe auf einer weißen Leinwand, die so groß ist, dass ich ihre Abmessungen nicht erkennen kann. Sie scheint kein Ende zu haben, scheint unermesslich. Es gibt keine Sonne, keinen Mond, keine Wolken, nur einen Himmel, der so durchgehend grau wie Mörtel ist. In diesem Traum gehe ich los, in keine bestimmte Richtung, ich gehe einfach. Ich habe das Gefühl, stundenlang unterwegs zu sein, und doch verändert sich nichts, trotz der Strecke, des weiten Wegs, den ich zurückgelegt habe - alles bleibt gleich: Himmel und Leinwand, das durchdringende Weiß, so sauber, klar und rein.

Ich erwachte, Christinas Körper neben mir unter der Decke, warm und noch vollkommen im Schlaf versunken. Ich hörte eine Weile auf ihren ruhigen Atem, dann stand ich auf. Frühes Licht drang durch die Vorhänge, die frische Luft, die durch das gekippte Fenster in das Zimmer wehte, fühlte sich kühl auf der Haut an. Da waren immer noch die Bilder des Traums – langsam verblassende Erinnerungen, an die Fortbewegung, das Gehen, aber vor allem an das glänzende Weiß, an diese makellose Oberfläche. In der Küche kochte ich Kaffee und wärmte die letzte Heumilch in einem Topf auf. Die Balkone des Krankenhauses leer, auch die Notaufnahme wirkte verlassen. Das schattenlose Licht tauchte alles in ein tristes Grau. Ich stand vor dem Fenster, trank den ersten Schluck und wartete auf den Sonnenaufgang. Mittags ging ich zu Yeko’s Kiosk, kaufte einen Beutel Samson und OCBs, und dann setzte ich mich auf den Stuhl im Hinterhof und drehte ein paar Zigaretten. Ich hatte das jahrelang nicht mehr gemacht. Meine Bewegungen waren steif und ungelenk, aber nach der dritten, vierten wurde es besser. Die Zigaretten legte ich auf den Tisch – kurze, weiße Filterlose, und da musste ich wieder an den Traum denken, an die große Leinwand und was sie wohl bedeuten könnte.

Manchmal tut man Dinge, von denen man nicht weiß, warum man sie tut. Ich saß auf diesem Stuhl, ein paar Gramm Tabak zwischen den Fingern, dann zog ich ein neues Blättchen aus der Packung und steckte alles in meine Hosentasche. Das Blättchen riss in der Mitte durch, noch Tage später fand ich Tabakkrümel. Ich hätte ihn gerne gefragt, wie man das anstellt, eine Zigarette einhändig in der Hosentasche drehen, aber mein Vater kam an diesem Sonntag nicht. Abends, als ich im Bett lag, fiel mir die Miniaturkanone aus Plastik auf, die neben dem Radiowecker auf der Kommode stand.
„Hast du die dahingestellt?“
Christina sah mich über den Rand ihres Buches hinweg an. „Ich dachte, ist doch `ne schöne Erinnerung.“
Ich nahm die Kanone in die Hand, presste sie gegen meine Lippen, atmete die scharfen Ausdünstungen des Kunststoffs ein, aber da war noch etwas anderes, ein Geruch, der aus der Garage stammen musste.
„Ich kann mich nicht erinnern, an Dänemark oder so, an diesen Urlaub … ist ganz seltsam.“
„Aber, ich meine … du warst doch da auch wirklich noch richtig jung, oder? Ein kleines Kind, und da erinnert man sich nicht an alles, also ich jedenfalls tue das nicht.“
„Vielleicht hast du Recht“, sagte ich und schloss für einen Moment die Augen. „Ja, ich denke, du hast Recht.“
Sie schlug das Buch zu und legte es vor sich auf die Decke. „Er ist einfach einsam, das ist alles.“
„Kann gut sein“, sagte ich. „Ich verstehe das trotzdem nicht, das alles ist schon zwei Jahre her, und er hat nie was gesagt, ich meine, er hat sein Leben im Griff, dachte ich zumindest, aber irgendwie … denn, mal ganz ehrlich, wann war mein Vater das letzte Mal hier – einfach nur so, zum Klönen? Und auf einmal taucht er mit diesem ganzen alten Scheiß hier auf …“
„Es ist kein Scheiß …“
„Ja, du weißt, wie ich das meine …“
„Dein Vater würde sich lieber die Zunge abbeißen, bevor er was sagt, so ist der eben, so sind die alle aus der Generation, mein Vater genauso, die sagen nix, über Gefühle schon mal gar nicht … .“
Ich drehte mich auf die Seite, legte einen Arm um sie, berührte mit der Hand ihren nackten Oberarm. „Sag mal, was ganz anderes - hast du vielleicht eine von den Marlboro genommen?“
Sie sah mich kurz an und hob die Augenbrauen. „Warum sollte ich das tun?“
„Naja, da lagen drei Schachteln auf dem Tisch, und jetzt …“
„Ich hab‘ mit der Scheiß-Raucherei seit fünf Jahren aufgehört“, unterbrach sie mich, „und nur weil du deinen Kram nie zusammenhalten kannst, musst du nicht mich verantwortlich machen, wenn dir was wegkommt, ja?“

Montagmorgen fuhr ich eine Tour zu Heros in Sluiskil. Ich hatte Schrott geladen, der in einer der Aufbereitungsanlagen gereinigt und dann wiederverwertet werden sollte. Papiere abzeichnen. Fracht löschen. Die Autobahn war frei, ich war mittags wieder an der Halle und nahm mir den restlichen Tag frei. Ich fuhr mit dem Auto zu REWE, um Leergut abzugeben und neues Bier zu kaufen. Der Parkplatz vor dem Getränkemarkt war um diese Zeit fast leer. Ich schob den Einkaufswagen durch die Gänge, rechts und links hohe Stapel mit Getränkekisten – Sester, Garde, Ganser, Peters, Giesler, die gängigsten Kölschsorten, Küppers war gerade im Angebot. Es stimmte, Mühlen war das teuerste Bier, aber ich wollte nicht darauf verzichten, ich dachte, es steht mir einfach zu. Ich nahm eine Kiste vom Stapel, zahlte an der Kasse und lud sie in den Kofferraum.

Am Ende der Schnellstraße, kurz vor der Kreuzung, die ins Stadtzentrum führt, sah ich am Horizont die Umrisse des Industriegebiets, in dem auch die Emitec lag - die Fabrik, in der mein Vater arbeitete. Sie stellten dort Katalysatoren und Partikelfilter her, und es hieß, sie zahlen über Tarif und es gebe sogar eine gute Betriebsrente. Ich hätte an der Ampel links abbiegen müssen, doch ich fuhr über die Kreuzung stadtauswärts, vorbei an Häuserblocks, Brachen und der alten Schrebergartensiedlung, bis hinter der Unterführung die Fabrik auftauchte. Schmale, weiße Hallen mit schräg abfallenden Faltdächern, dann der große Haupttrakt, der sich über mehrere Etagen erstreckte. Das ganze Gelände von einem meterhohen Sicherheitszaun umgeben. Ich blieb mit laufendem Motor auf dem Besucherparkplatz stehen und behielt den Seiteneingang der Fertigung im Blick. Mein Vater arbeitete Frühschicht, und um kurz nach Zwei kamen die ersten seiner Kollegen aus dem Gebäude. An die Gesichter derer, die auf der Beerdigung meiner Mutter anwesend waren, konnte ich mich noch gut erinnern. Youssef, der halbblinde Marokkaner blieb vor dem Zaun stehen, zögerte einen Moment, dann erkannte er meinen schäbigen blauen Volvo und winkte mir zu. Ich kurbelte das Seitenfenster herunter.
„Wie geht dir? Geht dir gut?“
„Und bei dir, Champ?“, fragte ich ihn, weil ich wusste, dass er vor ewigen Zeiten mal Westdeutscher Meister im Schwergewicht gewesen war.
Er zuckte mit den Schultern. „Muss, ne.“
Ich nickte und sah kurz in sein erblindetes Auge. Sie hatten den Glaskörper durch ein flüssiges Gel ersetzt. Nach der Operation war die Iris hell, fast weiß geworden und auch so geblieben. „Bist du gekommen wegen deinem Vater, ne?, aber was ist mit dem? Nix hier. Seit zwei Wochen nix arbeiten, und hat zu keinem was gesagt, Meister macht schon Ärger, sagt, braucht bald nicht mehr kommen.“
Ich blickte durch die Windschutzscheibe über das Werksgelände. Immer mehr Arbeiter kamen aus dem Gebäude, sammelten sich auf dem Gehweg vor dem Sicherheitszaun, rauchten eine letzte Zigarette, verabschiedeten sich voneinander. Youssef legte eine Hand auf das Autodach, beugte sich nach vorne und lehnte den Oberkörper gegen die B-Säule. Sein Gesicht kam ganz nah, ich konnte Poren und Stoppeln erkennen. „Zwei Wochen nix hier, der Hans, was mache?“
„Ich weiß nicht“, sagte ich. „Ich weiß es wirklich nicht.“
„Musst du doch wissen, was da los is‘. Is dein Vatter, oder? Guckst du mal, sonst nachher Arbeit verlieren. Is‘ vielleicht krank?“
„Wahrscheinlich ja, Youssef, wahrscheinlich ist er krank.“
„Aber geht auch nix an sein Handy …“
„Hast du’s heute schon probiert?“
„Nix heute, letzte Woche, aber ist der nicht rangegangen.“
Ich nickte und sah noch einmal in sein helles Auge. „Ist dein Vater“, wiederholte er und klopfte auf das Autodach. „Musst du doch gucken.“ Dann drehte er sich um und ging. Er zog ein Bein nach, bei jedem seiner Schritte knickte die Hüfte leicht ein, der mächtige Rücken bewegte sich ruckartig zur Seite weg.

Drei oder vier Mal fuhr ich an dem grauen, mehrstöckigen Mietshaus vorbei. Die Barbarastraße runter, ein Stück Jägerstraße, in der Einfahrt des alten Dahlhausens wenden. Dann das gleiche Spiel von vorne. Irgendwann hielt ich doch vor dem Haus, parkte, blieb im Wagen sitzen und hörte auf das Summen des Kühlers. Schließlich stieg ich aus und klingelte. Der schrille Ton rang durch das ganze Haus. Niemand öffnete. Direkt neben dem Gebäude lag ein Garten mit Spielgerüst. Ich ging an den Abfalltonnen vorbei, öffnete das Tor im Jägerzaun. Der Rasen war nicht gemäht. Neben dem Sandkasten lagen mit Kabelbinder verschlossene Müllsäcke. Ich suchte den Hof und die gemauerten Garagen durch die Buchsbaumhecke ab. Er saß auf einem Schemel vor dem Rolltor, die Augen geschlossen, das Gesicht der Sonne zugewandt.
„Ich seh‘ dich“, sagte er, ohne die Augen zu öffnen. „Ich kann dich sehen.“
„Warum biste nicht auf Arbeit?“
„Ach, Arbeit.“ Er zuckte mit der Schulter und lehnte sich gegen das schmale Stück Mauer zwischen den Garagen. „Arbeit, Arbeit, hier ist genug Arbeit, kannst du gucken, guck!“
Neben dem Eingang standen zwei Sätze Autoreifen. Die oberste Felge war durchgerostet, die Profile abgefahren. Aus dem Raum drang der Geruch von Altöl und Teilereiniger. Ich erkannte die Couch aus grünem Cord, die sonst oben im Wohnzimmer gestanden hatte. Die Kissen mit den selbstgenähten Bezügen aus hellerem Stoff lagen alle auf einer Seite, über der Lehne hing eine graue Bundeswehrdecke.
„Warum steht die Couch hier unten rum?“
„Ich hab‘ da drin alles aufgeräumt, alles hab‘ ich aufgeräumt – ich sag dir, da stand so viel Zeug drin, so viel Mist, und das meiste ist schon weg, ist noch lange nicht alles, noch lange nicht, aber ist ein Anfang, ja?“
Ich ging weiter in die Garage, atmete die staubige Luft ein und blieb vor der Couch stehen. Da war ein Transistorradio, ein Aschenbecher und eine leere Dose Ravioli. Auf dem Boden eine zerdrückte Schachtel Marlboro. Ich drehte mich um und sah meinen Vater an. Er senkte den Blick, legte seine Hand auf die Reifen und sagte: „In die Wohnung … ich geh‘ da nicht mehr rein, das kannst du vergessen, das mach ich nicht mehr, ich geh‘ nicht mehr hoch, nee, das ist nix, da werd‘ ich noch bekloppt nachher.“
„Was ist los? Was ist denn mit der Wohnung?“
Er atmete ein und lächelte knapp. „Ist wie im Museum, ich guck hier, ich guck da, überall ist noch was, verstehst du, kannst du das verstehen?“
Ich nickte schweigend, aber er schüttelte den Kopf. „Nein, kannst du nicht verstehen, das kannst du nicht verstehen, wie auch?“
„Und jetzt? Wie soll das weitergehen? Wie hast du dir das vorgestellt?“
„Gar nicht, Junge, ich hab‘ mir gar nichts vorgestellt“, sagte er und setzte sich auf die Couch. „Aber ich geh‘ nicht mehr in die Wohnung, ich geh‘ nicht mehr da hoch, ich räum hier auf, bis alles raus ist, bis nichts mehr da ist.“
Ich setzte mich neben ihn. An der Wand hing ein Kalender von 1996, Hochglanzbilder von halbnackten Frauen auf Motorrädern. „Und wenn alles raus ist, was dann? Was machst du dann?“
Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander und starrten auf den Kalender.
„Nichts“, sagte er schließlich. „Ich mach‘ nichts mehr.“
„Du willst in der Garage wohnen bleiben, ja?“
Er zuckte mit der Schulter. „Ich brauch doch nicht viel. Stück Seife, Wasser krieg ich aus der Waschküche - kalt, aber drauf geschissen, und Ravioli, die kauf ich mir billig beim REWE und mach‘ die mit dem Campingkocher warm.“
„Und was machste im Winter?“
„Ich denk‘ von Tag zu Tag - Heute, Morgen, fertig. Ich bin zu alt, um noch großartig Pläne zu machen. Monate, Jahre, was soll das alles? Heute ist, was zählt. Und wenn der Winter kommt, na, dann kommt er eben. Sehe ich, was ich dann mache.“
Ich hob die Schachtel Marlboro vom Boden auf. „Warst seit zwei Wochen nicht arbeiten. Was meinste sagen die bei der Emitec dazu?“
„Was sollen die bei der Emitec sagen? Was wollen die schon groß machen?“
„Dir kündigen zum Beispiel …“
„Kündigen, kündigen, dann sollen die mir eben kündigen, wenn se sich trauen … die suchen Facharbeiter überall, kriegen keine, aber mir kündigen? Niemals kündigen die mir. Und wenn, geh‘ ich zum Betriebsrat, sag ich der Gewerkschaft Bescheid, die freuen sich, und dann werden die bei der Emitec schon sehen, was se davon haben. Kündigen!“

Christina legte Messer und Gabel neben die Teller. „Warum denn in die Garage?“
„Ich weiß es nicht.“ Ich setzte mich an den Küchentisch, nahm die Gabel in die Hand, drehte den Stiel hin und her. „Vielleicht ist er auch einfach verrückt geworden.“
„Und was willst du jetzt tun?“
„Ich habe wirklich keine Ahnung … ich meine, was soll ich denn tun, deiner Meinung nach? Ist ja ein erwachsener Mann, der ist mündig, der weiß angeblich, was er tut, da kann ich schlecht `s LKH anrufen, und die holen den dann inner Zwangsjacke ab und kümmern sich drum.“
Sie nickte. „Ich meine … ich kann es schon auch irgendwie verstehen, da ist alles voller Erinnerungen, jede Tasse, jeder Teller, alles, und er ist ja jetzt ganz alleine in dieser großen Wohnung – und wir wissen nicht, wie das ist, die beiden waren über dreißig Jahre zusammen, also …“
„Aber wenn es ihm nicht gut geht, wenn er was hat, dann soll er doch was sagen, verdammt noch mal!“
„Jimmy“, sagte sie und legte ihre Hand auf meinen Unterarm. „Jetzt reg dich nicht auf. Du weißt doch, wie das ist … der würde nix sagen, niemals … die fressen das eben in sich rein, bis es nicht mehr geht, die machen das mit sich selbst aus. Und deinen Vater, den änderst du nicht mehr, so ist das eben, damit musst du leben.“
Ich zuckte mit der Schulter. „Ich weiß nicht …“
„Lass ihn einfach, spätestens wenn es richtig kalt draußen wird oder die tatsächlich mit der Kündigung um die Ecke kommen, dann …“
„Ja“, sagte ich und starrte auf den leeren Teller. „Vielleicht das Beste, einfach abwarten, einfach sehen, was passiert und wie das weitergeht. Wird schon werden.“
„Hey!“, sie beugte sich zu mir herunter und gab mir einen Kuss auf die Stirn, „ist nicht deine Schuld, ja? Mach dir keine Vorwürfe. Du hättest nichts ändern können, auch wenn du`s gewollt hättest. Okay! Okay?“

In dieser Nacht konnte ich nicht einschlafen. Ich starrte an die Decke des Schlafzimmers, wo das einfallende Mondlicht geometrische Muster in die Dunkelheit zeichnete. Christina schnarchte leise neben mir. Irgendwann stand ich auf, zog mich an und schloss die Wohnungstür hinter mir ab. Den Volvo hatte ich in einer Nebenstraße geparkt. Als ich hinter dem Steuer saß, wusste ich nicht mehr, was ich tun sollte. Schließlich startete ich einfach den Motor und fuhr los.

Er saß im Dunkeln auf der Couch und rauchte eine Selbstgedrehte. Aus dem Transistorradio drang leise eine Nummer von Bob Seger. Auf dem obersten Reifen im Stapel lagen ein paar zerdrückte Bierdosen.
„Junge“, sagte er. „Junge, das bist du ja“, als hätte er mich erwartet. Ich setzte mich neben ihn und zündete mir eine Marlboro an. Wir rauchten schweigend. Nach Bob Seger brachten sie einen Song der Allman Brothers, Midnight Rider.
„BFBS“, sagte mein Vater dann. „Die hab’n die beste Musik, hatten die schon immer … hör’n wir seit den Sechzigern. Damals noch, in der Hopfengartenstraße, da hatten wir `n SABA, Röhrenradio, `n richtiger Klotz das Ding, aber auch `n Wahnsinnsklang, sag ich dir, so was bauen die nicht mehr, die wissen gar nicht mehr, wie das geht.“
Nach den Allman Brothers folgte Canned Heat.
„Wirklich guten Sound spielen die.“
„Auf jeden Fall“, sagte er mit schleppender Stimme.
„Hast du die Dosen da alle alleine weggemacht?“
Er nickte.
„Und wie schläft’s sich hier auf der Couch?“
„Nach fünf, sechs Bier wie in `nem Himmelbett.“
„Solange das Kleingeld reicht also …“
Er hielt sich die Hand vor den Mund, hustete und drehte sich eine neue Zigarette. „Ich hab‘ schon noch was auf der hohen Kante liegen, und ich trink ja auch nur Küppers …“
Ich saß da und hielt die Marlboro in der Hand, die bis zum Filter heruntergebrannt war. Vom dem Kalender an der Wand waren nur noch die Umrisse zu erkennen. Wir hörten eine ganze Weile der Musik zu. Nach Canned Heat folgten Songs von Marvin Gaye, Nick Drake und Alexis Korner. Dann räusperte sich mein Vater, richtete sich auf, griff in die Brusttasche seines Overall und holte ein Foto heraus. „Hier, nimm.“
Ich nahm ihm das Foto aus der Hand und rückte auf der Couch nach vorne, um es im Mondlicht betrachten zu können. Das war ich: ein kleines Kind mit strohblonden Haaren, Pausbacken, in roten Latzhosen und senfgelbem Anorak. Ich sitze auf dem Rohr einer Kanone, einer echten Kanone, einem Vorderlader aus matter Bronze. Hinten im Bild sieht man Teile einer verfallenen Bewehrungsmauer, den glatten Sand der Dünen, und dann, am Horizont, das Meer – eine satte, dunkel glänzende Masse. Da ist ein Lächeln auf meinem Gesicht, und es ist ein junges Lächeln, eines voller Erstaunen, voller Neugierde. Ich sah es so lange an, bis die Konturen begannen, vor meinen Augen zu verschwimmen. „Hast du noch so `n Küppers?“
Mein Vater legte den Kopf in den Nacken und lachte. „Dachte, du trinkst nur Mühlen?“
„Küppers muss man aus der Dose trinken, oder?“
Er nickte. Er beugte sich über die Lehne, hob eine Plastiktüte vom Boden auf und stellte sie zwischen uns auf die Couch. „Bedien dich.“
Das Bier war warm und schmeckte metallisch. Ich trank große Schlucke, hielt inne, trank weiter, bis sich die Dose leicht in meiner Hand anfühlte.
„Tut mir leid“, sagte ich und strich über das Foto.
„Ach“, machte er und winkte ab. Er zog an seiner Zigarette, für einen Moment sah ich sein Gesicht, erhellt durch die Glut. „Warst du noch klein. Und macht nichts, Junge. Macht gar nichts. Jetzt weißt du es ja. Wir waren da, in Dänemark, wir sind dagewesen, ich brauch‘ dich nicht belügen. Warum sollte ich dich auch belügen?“
Ich sagte nichts. Ich schüttelte die Dose und trank den letzten Schluck.
Dann sagte mein Vater auf einmal: „Ich hab‘ nie die Hand erhoben, ich hab‘ so was nie gemacht, oder? Nie. Bei dir nicht, bei deiner Mutter nicht, ich hab‘ euch nie angefasst.“
„Nein“, sagte ich und legte meine Hand auf sein Knie. „Nein, du warst ein guter Vater.“
„Und ich war immer mit allen glatt, das war mir wichtig – keine Schulden, ich stand nie in der Kreide, und kein falsches Wort über irgendwen, denn so war das schon immer, ein Mann kommt im Leben zu nix, wenn er alles anschreiben lässt und ständig schlecht redet.“
Im Radio lief ein alter Song von Al Green, und wir saßen da, hörten seiner Stimme zu, die über dem dichten Teppich aus Klängen zu schweben schien, mit den Instrumenten auf eine zarte, innige Weise rang.
„`ne verdammt gute Nummer.“
Ich nickte, dann stand mein Vater auf, ging einen Schritt weiter in das Dunkel der Garage hinein und begann, seine Hüften im Takt der Musik zu bewegen. Er tat es langsam, wiegte den Oberkörper sanft hin und her, drehte sich um die eigene Achse, den Kopf leicht erhoben, die Augen fest geschlossen. Er hielt die Arme so von sich gestreckt, als wäre da noch jemand anders, ein anderer Körper, der sich zum Rhythmus bewegt, und an den er sich schmiegen kann. Ich hatte ihn schon betrunken gesehen und wütend. Ich hatte gesehen, wie er am Grab meiner Mutter stand, den Blick in die Unendlichkeit gerichtet, die Hand auf seinem Herz.
„Wir hab`n früher oft getanzt, deine Mutter und ich, in der Küche, wir hatte ja nicht viel, aber `n Radio hatten wir, und sie hat immer `ne Schneemaß getrunken, der süße Kram, sie mochte ja süßen Kram, und dann kam so Musik wie hier und wir haben getanzt bis in die Puppen …“ Er schüttelte den Kopf, wendete den Blick ab, und ich konnte hören, wie er atmete, wie seine Zähne aufeinanderschlugen.
„Ist schon spät.“ Ich beugte mich über die Lehne, suchte im Dunkel nach dem Radio, fand den großen Aus-Knopf. Stille.
„Ja, hast Recht, ich leg mich auch besser auf’s Ohr.“
Ich stand auf und stellte die leere Dose zu den anderen auf die Felgen. Er drehte sich nicht um. Er hob nur seine Hand.
„Dann gute Nacht.“
„Ich meld‘ mich einfach die Tage mal.“
„Mach das, mein Junge.“
Über den Hof ging ich langsam die Einfahrt hinauf, der Schotter knirschte unter meinen Sohlen. An der Hecke blieb ich stehen und sah zurück. Er stand immer noch da. Ein Schemen in der Garage.

Christina erzählte ich nichts von dieser Nacht. Ich fuhr einfach wieder meine Touren. Schrott nach Holland. Industrieabfall nach Belgien. Ich fuhr, ich rauchte, aber das Bild meines tanzenden Vaters, seine entrückten Bewegungen, das begleitete mich, war immer da. Zwei oder drei Tage später begann ich damit, nach der Arbeit zu REWE zu fahren, um dort ein paar Dosen Bier und Kleinigkeiten zu kaufen – Oliven, Red Leicester, Anchovis, eingelegte Tomaten, Pumpernickel. Dann fuhr ich weiter zu meinem Vater, wo wir auf der Couch in der Garage saßen, BFBS hörten, kühles Bier tranken und mit den Fingern aßen. Wir sprachen kaum. Wir rauchten viel, aschten in leere Dosen und Becher, drückten die Kippen im übriggebliebenen Öl aus. Nach ein paar Tagen wusste Christina Bescheid, aber sie sagte nichts, sie ließ mich einfach machen.

An einem Abend nach zwei Wochen, ich hatte kalten Braten und französischen Cidre mitgebracht, drehte sich mein Vater zu mir und sagte: „Mach’s nich‘ so wie ich, ja? Versprich mir das. Versprichst du mir das? Mach’s nich‘ so wie ich.“
„Hier“, sagte ich und hielt ihm das Tablett hin. „Nimm noch Braten, nimm noch von dem Braten.“
„Ach“, machte er und zuckte mit der Schulter.
„Ist gut. Ist gutes Fleisch, wirklich. Ganz zart.“ Ich zog ein Stück der Folie ab. Er nickte stumm, nahm ein Stück und schob es sich in den Mund. Aus den Boxen drangen Ike & Tina Turner, sie sangen Proud Mary. Wir aßen den Braten, tranken den Cidre aus der Flasche und hörten ihren Stimmen zu, den hart gespielten Gitarrenlicks und dem ekstatischen Beifall des Publikums.
„Wie lange willst du noch hier bleiben, in der Garage?“, fragte ich ihn dann. „Wie lange soll das noch weitergehen?“
„Weiß nicht, ich weiß es nicht.“ Er schloss die Augen und lehnte sich zurück. Er atmete tief ein, ließ sich Zeit. „Vielleicht bis zum Wochenende. `n paar Tage noch.“
„Und dann gehst du wieder hoch?“
„Ja, dann geh ich wieder hoch.“
„Was ist mit Arbeit? Was ist mit der Emitec?“
„Ich geh‘ wieder zur Emitec, mach dir keine Sorgen, Junge. Ich geh arbeiten, ganz normal, wie immer.“

Ein paar Monate danach lernte mein Vater eine Frau kennen, die etwas älter war als er und die sich als wiedergeborene Christin bezeichnete. Sie brachte meinen Vater dazu, sich taufen zu lassen und erzählte uns ganz stolz, dass er jetzt aus Wasser und Geist neu geboren worden sei. Sie heirateten, ohne jemandem etwas davon zu sagen und zogen in einen Altbau mit Blick auf die Siegmündung. Sie verbringen viel Zeit im Garten, kümmern sich um ihre Hochbeete, Kräuter und Zierpflanzen. Manchmal gehe ich ihn dort besuchen. Dann sitzen wir im denkmalgeschützten Wintergarten und schauen auf die Uferböschung, an der Segge und Wilde Kamille wächst, und auf die Sieg, deren Bett sich an dieser Stelle verjüngt und die deswegen rasend schnell fließt. Wir trinken koffeinfreien Kaffee, in den er einen Teelöffel Milchmädchen rührt. Er dreht nicht mehr selbst, er raucht gestopfte Zigaretten, die Luft ziehen und meistens nach fünf Zügen bis zum Filter abgebrannt sind. Jedes Mal juckt es mir in den Fingern, aber ich lasse es bleiben. Trotzdem spüre ich die Wirkung des Nikotins, wie mein Puls steigt, das Herz anfängt, hart gegen die Brust zu schlagen. Meistens sitzen wir alleine dort, schauen auf das Wasser. Seine Frau glaubt, dass ich schlechter Einfluss sei, jetzt, wo mein Vater ein neues Leben begonnen habe. Sie sagt, dass sie meinen Vater aus der Kälte geholt hat und dass ihr das niemand mehr nehmen kann. Sie hat mich dabei so angesehen, als kenne sie ein Geheimnis, und als kenne mein Vater dieses Geheimnis nun auch.

Er hat ein paar Kilo zugelegt, immer sauber rasiert, trägt Hemd, Hose und dazu passende Schuhe. In diesem Wintergarten, da sitzt er ganz gerade auf dem Stuhl, die Beine eng nebeneinander, eine Hand liegt flach auf dem Oberschenkel. Damals, in der Garage, als er mit den Geistern tanzte, da war etwas in seinem Blick, etwas Wildes, Unbeugsames. Er hatte sich verirrt, aber er wollte leben, er hatte das Leben in sich, es war in jeder seiner Bewegungen.

Vor zwei Tagen habe ich ihn das letzte Mal besucht, und da war etwas anders gewesen. Es war einer der letzten warmen Tage des Jahres, Altweibersommer, und wir saßen wieder im Wintergarten, die hohen Bleiglasfenster geöffnet. Er rauchte seine gestopften Zigaretten - drei Stück hintereinander, er zündete sie jeweils an der Glut der anderen an. Als er die letzte im Aschenbecher ausgedrückt hatte, stand er auf und sagte: „So!“ Ich folgte ihm durch den Garten, vorbei an rechteckigen Beeten voller pechschwarzer Erde, bis wir am Tor angelangt waren. Er legte beide Hände um einen der Gitterstäbe und nickte mir zu. „Schön, dass du mal wieder da warst.“
„Ja“, sagte ich. „Fand ich auch.“
Er öffnete das Tor, um mich rauszulassen. „Grüß auch die Christina von mir.“
Ich war schon draußen auf der Straße, als er mich am Arm fasste und festhielt. „Ich kann sie noch hören“, sagte er leise, und ich spürte den Druck seiner Finger, wie sie sich fest in meine Muskeln bohrten, „ich kann sie immer noch hören, die Musik.“ Dann ließ er mich wieder los, lächelte, die kleinen Falten um seine Augen wurden tief und schwarz. „Manchmal kann ich sie noch hören … aber du weißt, was ich meine, oder? Du weißt, was ich meine.“
„Ja“, sagte ich. „Ich weiß, was du meinst.“

An diesem Tag fuhr ich nicht gleich nach Hause. Ich nahm einen Umweg, parkte in der Tiefgarage unter dem Rathaus und lief ziellos durch die Innenstadt. Als ich an den vielen leerstehenden Ladenlokalen vorbeikam, fiel mir auf, wie lange ich nicht mehr in der Stadt gewesen war. Die Buchhandlung auf der Holzgasse hatte anscheinend schon vor Monaten geschlossen; die große Holztür war zugesperrt, das Untergeschoss dunkel und leer. Am Goldenen Eck, in den ehemaligen Räumen einer traditionellen Eckkneipe hatte ein Sushi-Restaurant eröffnet. Die Leuchtreklame über dem Eingang war in Form eines Kugelfischs gestaltet. Vor der Verkaufstheke warteten ein paar Jugendliche. Ich ging über den Marktplatz in die Altstadt, vorbei an den Außenterrassen der Cafes, die voll besetzt waren mit Leuten, die in der Nachmittagssonne ihr Feierabendbier tranken. Das Geschäft Colonia Kunsthandwerk lag parterre in einem unscheinbaren Nachkriegsbau, der am Nogenter Platz in zweiter Reihe steht; verwitterte Fassade und nachträglich eingebaute Fenster aus Aluminium. Es war eines der letzten inhabergeführten Fachgeschäfte der Stadt. Ich blieb vor dem Schaufenster stehen und betrachtete die Auslage: Pinsel, Farben, Leinwände.

Als ich durch die Tür trat, klingelte es leise, und eine ältere Frau erschien aus den hinteren Räumen. Sie war eine richtige Dame, mit langen, hochgesteckten Haaren, dezentem Lippenstift und einem modernen, taillierten Kleid. „Ich will mich nur umsehen“, kam ich ihr zuvor, und sie lächelte, zeigte auf die Regale und sagte: „Natürlich, gerne.“
Ich blieb vor der großen Schubladenbox neben dem Fenster stehen, legte meine Hände auf die Oberfläche aus Schellack, fuhr die glatten Kanten entlang. Ganz langsam zog ich das oberste Register auf und hob mit den Fingerspitzen den darin liegenden Stapel an.
„Dieses Papier ist aus Japan“, sagte die Frau. Sie wurde nie aufdringlich, blieb immer ein paar Schritte hinter mir. „Es wird aus Bast hergestellt, von Hand geschöpft, und es ist besonders geeignet, wenn Sie mit Tusche arbeiten wollen.“
Ich zog eines der Blätter aus der Schublade. Das Papier hatte einen cremefarbenen Ton, war durchscheinend, und ich hielt es gegen das Licht, um die Faserung zu betrachten. Später, im Auto, als ich wieder auf dem Weg nach Hause war, nahm ich es ganz vorsichtig vom Beifahrersitz, und dann schaltete ich das Radio ein und suchte BFBS.

Ich fuhr einen Umweg, um noch etwas länger Musik hören zu können, doch ich spürte, dass da etwas fehlte. Die roten Marlboro kaufte ich an der Mundorf-Tankstelle, weil Yeko schon geschlossen hatte, und die ersten Züge schmeckten mir nicht, aber dann wurde es besser, und ich rauchte und fuhr und drehte die Musik lauter, weil das verdammt noch mal alles ist, was wir jemals tun können.

 

Hallo Jimmy,

Ein Text über Musik, Kunst, Langzeitehe, den Tod der Mutter, das "Große Aufräumen", was nach biografisch neuralgischen Punkten auftreten kann. Ein wenig konnte ich den Vater verstehen, seine Flucht in die Garage, raus aus dem "Museum", wo jede Erinnerung schmerzen kann. Aus unterschiedlichsten Gründen. Beruhigt war ich, als ich die Tanzpassage las: Der Vater war doch zwischenzeitlich sehr glücklich mit der Mutter. Wahrscheinlich viel glücklicher, als er mit der späteren LG werden wird.... Da kommt bei mir etwas Melancholisches auf. Aber immerhin hat er noch die Musik, die eine wehmütige Rolle in seinem bald trostlosen Alltag spielen wird.
Vielleicht lockt die Musik noch einmal den wilden Kerl aus ihm heraus, der die häusliche Enge mit der Christin, verlassen wird. Oder die neue Beziehung nochmal überdenken lässt. Vielleicht schafft es der Vater, noch "kurz vor Schluss", Kommunizieren zu lernen, Wünsche zu artikulieren und sein spätes "Glück" wird zum richtigen Glück.
Es wäre ihm zu gönnen.

Die Bierflaschen schlugen in der Tüte gegeneinander. Glas auf Glas – ein Geräusch, das ich bis heute gerne höre
>> gefällt mir
Es muss früher Sommer gewesen sein, der Asphalt gab schon Wärme ab und die Blumen am Krankenhausbeet begannen zu blühen.
>>> hier kommt schon eine Atmosphäre von Krankheit auf und ich ahne, dass etwas passieren wird... Etwas, das mit Sterben und Krankheit zu tun hat. Ich tippe auf ein Elternteil oder auf eine Krankheit, die den Prot befällt, vielleicht weil er so extrem viel raucht... .
Hatte Mutter wahrscheinlich einfach irgendwo dazwischen hingetan, kanntest sie ja.“
>> hier wird klar: die Mutter ist gestorben. Finde ich subtil eingearbeitet.
„Christina macht Kassler.“
Er schloss die Augen, nahm einen Zug und sagte: „Ihr beiden, das passt schon.“
„Warum? Weil sie Kassler macht?“
„Weil sie dich dein Bier trinken lässt …“
guter Dialog
Dann ging er zurück ins Innere des Gebäudes,
>> passt nicht zur Tonalität
der immer noch in der Ecke hinter dem Kühlschrank stand.
Der ungemähte Rasen roch schon nach den im Frühjahr gesetzten Blumen und Kräutern.
>>> Das ist für mich aus Gärtnersicht nicht nachvollziehbar. Werden die Blumen in die Rasenfläche hineingesetzt? Ansonsten riecht der Garten nach Blumen und Kräutern und nicht der ungemähte Rasen. Der riecht eigentlich selten nach irgendetwas, vielleicht nach einem Regenfall.
„Hab‘ ich ja auch bei den Franzosen gelernt, die drehen die Dinger in der Hosentasche, und einhändig!“
„Einhändig in der Hosentasche?“
Gefiel mir
Ein süßlicher Kiengeruch
was ist das?
Natürlich hat es nicht funktioniert.
;) ;)
Abends, als ich im Bett lag, fiel mir die Miniaturkanone aus Plastik auf, die neben dem Radiowecker auf der Kommode stand.
„Hast du die dahingestellt?“
Christina sah mich über den Rand ihres Buches hinweg an. „Ich dachte, ist doch `ne schöne Erinnerung.“
Ich nahm die Kanone in die Hand, presste sie gegen meine Lippen, atmete die scharfen Ausdünstungen des Kunststoffs ein, aber da war noch etwas anderes, ein muffiger, staubiger Geruch, der aus der Garage stammen musste.
gefällt mir. Diese Miniaturkanone passt symbolisch zum Vater
Er zuckte mit den Schultern. „Muss, ne.“
Ich nickte und sah kurz in sein erblindetes Auge. Sie hatten den Glaskörper durch ein flüssiges Gel ersetzt. Nach der Operation war die Iris hell, fast weiß geworden und auch so geblieben.
>> gute Beschreibung
„Warum biste nicht auf Arbeit?“
„Ach, Arbeit.“ Er zuckte mit der Schulter und lehnte sich gegen das schmale Stück Mauer zwischen den Garagen. „Arbeit, Arbeit, hier ist genug Arbeit, kannst du gucken, guck!“
treffender Dialog
ch war schon draußen auf der Straße, als er mich am Arm fasste und festhielt. „Ich kann sie noch hören“, sagte er leise, und ich spürte den Druck seiner Finger, wie sie sich fest in meine Muskeln bohrten, „ich kann sie immer noch hören, die Musik.“ Dann ließ er mich wieder los, lächelte, die kleinen, schmalen Falten um seine Augen wurden tief und schwarz. „Manchmal kann ich sie noch hören … aber du weißt, was ich meine, oder? Du weißt, was ich meine.“
„Ja“, sagte ich. „Ich weiß, was du meinst.“
>> eine Textstelle, die mich berührt hat
Ich fuhr einen Umweg, um noch etwas länger Musik hören zu können, doch ich spürte, dass da etwas fehlte.
>> dito.

Gesamtfazit: das Vater-Sohn-Verhältnis fand ich recht einfühlsam beschrieben. Besonders den Vater konnte ich mir gut vorstellen. Er hat unser seiner etwas ruppigen Schale viel Liebenswertes. Über die Frühberentung bin ich gestolpert. Von der Typencharakterisierung hatte ich ihn eher der Generation 65+ zugeordnet..... Klar, es wurde erwähnt, dass er noch in der Fabrik arbeitete.... Eigentlich wirkte er sogar noch älter auf mich, eher wie ein 70+ Jahrgang.

Grundsätzlich frage ich mich, warum so viel geraucht werden muss... . Nicht, weil ich etwas dagegen hätte. Aber das Rauchen nimmt in mehreren Deiner Texte enorm viel Raum ein... Es würde mich interessieren, ob ein rauchfreier Text auch funktionieren könnte....

viele Grüße, petdays

 

Hallo @petdays

danke dir für deine Zeit und den Kommentar. Du hast es geschafft, dieses Monster zu lesen. Knapp 8000 Wörter, ist ja nicht wenig.

Ich wollte den Tod der Mutter nicht so offensichtlich präsentieren, mir gefällt es nicht, wenn man in einem Text direkt mit dem Holzhammer kommt. Allerdings muss man auch vorsichtig sein, dass man es nicht zu sehr veruneindeutigt, so dass nachher der Leser denkt: Häh, da is einer gestorben, wer denn nu? Man sollte schon ein Gespür bekommen, wo die Reise hingeht, aber es darf eben nicht zu linear sein, sonst erreicht man auch niemals eine Fallhöhe, sonst greift die Tragik nicht.

Der Text hier ist inspiriert von einer kurzen Story, die Raymond Carver geschrieben hat. Sie heißt "Why don't you dance", und ist eine der ersten Texte gewesen, die ich von diesem Mann gelesen habe. Sie erzählt aus der Sicht eines jungen Paares, die Nachts durch die Straßen spazieren, wie sie auf einen Mann treffen, der sein ganzes Hab und Gut in seiner Einfahrt aufgebaut hat. Sie rauchen, trinken, reden, dann kaufen sie ein Fernseher und das Bett, und ganz am Schluss tanzen sie auch. Warum diese Konstellation ist, wie sie ist, wird nie gesagt, es bleibt offen. Ich wollte aber eben genau dran, ich wollte einen veritablen Grund zeigen, warum so etwas geschehen kann, es wenigstens versuchen.

Ich denke, man muss hier auch, in solchen Texten, sehr vorsichtig sein, weil es sonst schnell zu so einer Art Buddy-Comedy verkommen kann, also ein paar witzige Sprüche, Szenen, die die eigentliche Tragik nicht zum Vorschein kommen lässt. Deswegen habe ich auch versucht, die Dialoge zwar realistisch zu gestalten, aber nicht witzig in dem Sinne, den die ganze Geschichte entbehrt ja nicht einer eigenen Form der Komik, allerdings eben doch einer eher tragischen, hintergründigen.

Ich arbeite deine einzelnen Passagen noch mal genau durch, das mit dem Rasen ist natürlich klar ein Fehler von mir. Kiengeruch - Harziger Geruch der Bäume. Das Alter des Vaters, da hast du mich ziemlich erwischt, den in einer ersten Version war er 61, ich weiß nicht, ich dachte, er musste etwas jünger sein, so hätte er mehr zu verlieren, aber im Grunde stimmt es, er klingt älter, er müsste auch älter sein, da hast du wohl Recht. Könnte man auch noch mal was aus der Loyalität mit der Emitec machen, mit seiner Firma, so eine Art Aufrechnung der Jahre, mal sehen, da habe ich schon ein paar Ideen.

Zum Rauchen. Auf jeden Fall muss in jeder meiner Geschichten geraucht werden, und zwar was das Zeug hält! Das tut mir leid, da muss ich dich enttäuschen.

Gruss, Jimmy

 

Hey @jimmysalaryman, ich finde es immer ein bisschen schwer deine Geschichten zu kommentieren, denn ich habe immer das Gefühl, dass du mich in Grund und Boden disskutieren würdest, egal was ich anmerke. Nicht böse gemeint, eher im positven Sinne. Du weiß eben, was du willst und du schreibst nichts, ohne vorher gründlich darüber nachgedacht zu haben, das bewundere ich so an dir.
In diesem Fall schreibe ich aber sehr gerne einen Kommentar, denn ich habe nichts auszusetzten. Ich habe sie sehr gerne gelesen. Hatte ab und an ein Lächeln auf den Lippen und ab und an ein Kloß im Hals. Du hast das Leben dieser beiden Männer und der Frau sehr gut eingefangen, authentisch dargestellt. Ich bin eingetaucht in die Story, wollte wissen wie es weiter geht und habe mich nach jedem runterscrollen ein klein wenig gefreut das sie noch nicht zuende ist.
Ja sie ist lang, wie du sagtest, ein Monster, aber eins das mich sofort mitgenommen hat auf die Reise.

Hat mir wirklich gut gefallen, dein Monster :-D
Liebe Grüße
Shey :-)

 

Hej jimmy,
diese Geschichte hat mich grad voll erwischt.
Wahrscheinlich gibts da eigentlich und handwerklich was zu sagen oder zu kritisieren über Länge und wo man kürzen könnte und wo ich mich beim Lesen auch mal verlaufen habe und in Reihe xy einen Rechtschreibfehler, aber das interessiert mich alles grad überhaupt nicht.
Irgendwie hast du es hingekriegt, dass ich trotz der Länge dieser Erzählung so sehr in der Handlung und bei diesen beiden Menschen war, der Vater hat mich total berührt mit seiner Sprachlosigkeit und der Tanzszene. Verdammt, ich musste weinen!
Wahrscheinlich erinnern mich die Beschreibungen und die Stimmung, die du erzeugst, sehr an das eigene Alter und Leben und Tod enger Verwandter und an den Abschied von sehr kranken Freunden. Ja, es ist wohl so, meine Lese-Reaktion und die Berührtheit, das hat wohl einfach viel mit meiner eigenen Situation zu tun. Ob ich da in der Lage bin, oder ob ich das überhaupt will, diese Geschichte analytisch und wirklich objektiv zu betrachten? Im Moment weiß ich das grad nicht, ist aber auch egal, es ist glaube ich genauso wichtig für einen Autoren zu lesen, dass er solche Reaktionen hervorbringen konnte.
Ja, das wollte ich dir nur mal sagen. Danke für diese Geschichte.
Viele Grüße von hier
Novak

 
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Hey Jimmy,

wieder was Neues von dir. Freut mich. Ist ja diesmal etwas Längeres. Der Text gefällt mir. Aus verschiedenen Gründen finde ich das sehr gut geschrieben. Ich hoffe ein bisschen, dass ich alles richtig verstanden habe. Denn eine Sache die ich besonders hervorheben will, hängt davon ab. Und wenn sich dann herausstellt, dass du das gar nicht so gemeint hast, ist das natürlich blöd, auch weil ich das als Qualität hervorheben will. Aber erstmal die anderen Dinge. Was man dir natürlich nachsieht, sind so kleine Flüchtigkeiten, die du sicher mit ein paar mehr Lesedurchgängen selbst finden würdest. Aber das sind wirklich Peanuts und das hat mit dem Text eigentlich nichts zu tun. Als erstes will ich die vielen Details ansprechen. Da kenne ich kaum jemanden, der so genau hinschaut und Dinge beim Namen nennt. Das ist etwas, was deine Texte auf jeden Fall sehr bereichert, finde ich, und das würde ich mir von niemandem wegreden lassen. Mein Favourit sind diesmal die 'Salzmandeln' :lol: – was für ein herrliches Wort. Und es reicht, dass ich sehr Appettit darauf bekomme. Über sprachliches Niveau muss man auch hier keine Worte verlieren. Trotzdem muss ich sagen, dass mir so ein bisschen die Knaller fehlen; vielleicht auch nur die Dichte überragender Sprache, Bilder etc. Natürlich ist das Meckern auf höchstem Niveau, aber wo auch sonst. Sowas wie die Stelle im Brüder-Text, wo sie zusammen Fernsehen schauen. Es gibt hier auch viele solcher Stellen, aber viele Verweilen auch in diesen sehr schönen Details, sprechen aber, zumindest mein Eindruck, nur zaghaft kulturell relevante Dinge an. Zum Beispiel die Arbeiterwelt, die ein Teil dieser Figuren ist, wird ja szenisch auch sehr stark und gelungen behandelt. In den Gesprächen zwar auch. Es fällt mir schwer, das in Worte zu fassen. Wenn die Figuren darüber sprechen, wird das sichtbar und thematisiert und auch eine Haltung dazu eingenommen und es ist dann ein starkes Statement im Sinne eines Textes über die arbeitende Bevölkerung. Was da aber noch anklingen könnte, glaube ich, wäre mehr noch eine kulturelle Reflexion dieser Arbeit. Ich hoffe, das klingt nicht wie Bullshit; ich weiß nicht, wie ich das anders sagen soll. Eine stärkere, kulturelle Reflexion über Gesellschaft und Arbeit, die zwischen den Zeilen noch mitschwingt. Ich glaube, das würde deinen Text bereichern. Kennst du den Film 'Working Mans Death' – große Empfehlung. Ich denke, gerade weil das thematisch bei dir immer wiederkehrt, könnte da auch ein kultureller Diskurs drüber spannend sein.
Die Beziehung zwischen Jimmy und dem Vater fand ich sehr einfühlsam beschrieben. Das hat mir gut gefallen. Tatsächlich fand ich es auch angemessen, wie du die Beziehung zwischen Jimmy und Christina dargestellt hast, nicht zu viel, aber durchaus liebevoll. Während ich das in den Beziehungen sehr stark fand, geht es mir nach dem Lesen so, dass ich das Gefühl habe, dem Erzähler schon nahe gekommen zu sein, aber ich mir gewünscht hätte, vielleicht noch ein wenig näher dran zu kommen. Bei deiner Rollenprosa ist das natürlich was ganz anders. Hier, glaube ich, könnte ich öfters auch mal etwas über die Körperlichkeit des Protagonisten erfahren. Ist der dreißig oder vierzig, und wie fühlt es sich an, dreißig oder vierzig zu sein? Ich kenne seine Haltung, aber nicht sein intimes Empfinden.
Was natürlich immer wieder ein Genuss ist, ist (unabhängig von den Details) die spezifische Sprache, mit der du deine Texte anreicherst. Da bekomme ich einen ganz bestimmten Ausschnitt der verallgemeinert arbeitenden Bevölkerung. Das macht den Text super authentisch und ist eine große Qualität.
Jetzt noch, weil ich auch schon viel geschrieben habe, noch ein paar (auch persönliche) Anmerkungen, wo ich denke, dass es weitergehen könnte.
Ich muss ja ehrlich sagen, dass ich mich ja schon so halb auf einen weiteren Text im Sinn dieser 'Rollenprosa' (ja ich weiß, der Begriff wird langsam nervig) gefreut habe. Ich sehe da momentan ein sehr großes Potential, was diese Erzählform angeht, das auch durch dich angeregt wurde. Ich suche gerade selbst nach Alternativen dazu. Konkret geht es darum, dass ich glaube, ab einem gewissen Punkt könnte es sinnvoll sein, diese Muster von Szene und Dialog aufzubrechen. In etwa wie bei dem "Herr Fischer" - Text von Kiroly oder eben deiner Rollenprosa oder ganz anderen Möglichkeiten. Ich finde das erstrebenswert, weil es bedeutet, die Dinge neu zu denken.
Du hast das ja unter Ziggas Text eigentlich sehr überzeugend dargelegt, dass sich konventionelle Kriterien schwer auf so etwas wie Rollenprosa oder andere bestimmte Texte (wie vielleicht auch diesen hier) anwenden lassen. So ganz überzeugt bin ich davon nicht und wollte dich abgesehen davon sowieso nochmal fragen, was SoC bedeutet (hattest du in diesem Zsh. erwähnt). Ich denke natürlich hätte auch dieser Text gut ein treibendes Element und einen Haken vertragen können. Das heißt nicht, dass ich ihn nicht so schon sehr gut finde, aber das ist vielleicht auch ein persönliches Ding. Ich habe, muss ich dazu sagen, aber auch einige total abgefahrene Texte gelesen, die das gebracht haben – also funktionieren tut es schon. An der Stelle: Ich würde ja eigentlich sehr gerne mal mit anderen Wortkriegern (vielleicht beim Gatherin) Texte lesen, die man in bestimmter Hinsicht für sehr gelungen hält, um über solche Dinge mehr Klarheit und Einvernehmen zu bekommen.
Und jetzt, ob du dich noch erinnerst oder nicht, zu der eingangs ankündigten Sache: Ich weiß nicht, ob ich das falsch gelesen habe. Aber es gibt doch diese Szene, wo der Protagonist in der Nacht vom Lachen des Krankenhauspersonals erwacht, in die Küche geht und raucht. Ist das die Implementierung des Todes der Mutter in den Text, für die ich es halte? Falls ja, dann ist das vielleicht mein Lieblingselement dieser Geschichte (wo natürlich jetzt das Problem besteht :D – sonst setze ich mich nämlich wahrscheinlich in die Nesseln). Wenn das so ist, finde ich es enorm, wie du an vielen Stellen diese doppelte Lesart des Textes eingebaut hast. Das Krankenhaus, Erinnerungen und die Realität alle ganz nah bei einander. Eine Anbahnung dessen sehe ich in der symbolischen Verhandlung über Erinnerungen: Das große Mal-Talent, die halb vergessene Dänemark-Reise, der Vater als Gedächtnis des Sohnes, der Sohn als Triebfeder des Vaters.
Und jetzt reichts auch mal.

und eine Tüte Salzmandeln

herrlich

in den Mülleimer vor den Kühlschränken

konnte ich mir irgendwie nicht vorstellen. Dann geht der Kühlschrank ja auch nicht auf. Eher seitlich davon, oder?

Der Jimmy

yeah, ein Text von Jimmy mit einem Jimmy.

Er zuckte mit der Schulter

mit den Schultern?

in ausladend großen, schwarzen Lettern: DAMN GOOD COOK

war mir ein bisschen zu überladen. Warum nicht einfach in schwarzen Kapitalen

„Ich war eben ein großes Talent …“

finde es spannend, wie hier plötzlich noch so eine vierte Person dabei ist, der alte Jimmy bzw. der junge.

„Kassler mit Sauerkraut natürlich“, sagte ich

hehe

Mühlen-Kölsch

ja, da muss ich mich deinem Jimmy anschließen. Ist auch mein Lieblingskölsch (also von den handelsüblichen). Reissdorf und Mühlen.

Ich öffnete die Flaschen mit der Kante meines Feuerzeugs und reichte ihm eine herüber. Christina zog mir die Ohren lang, weil ich sie alles alleine machen ließ, das weiß ich noch genau, und mein Vater beschwichtigte und sagte, ich sei eigentlich schon immer eine faule Sau gewesen, ich tue nur so, als würde ich hart arbeiten, ich wüsste eben ganz genau, wann ich die Hände aus den Taschen nehmen muss. Danach deckte er feierlich den Tisch, vergaß dabei die Servietten und ließ den Salzstreuer auf den Boden fallen.
ein Geräusch, das ich bis heute gerne höre
Sie heirateten, ohne jemandem etwas davon zu sagen und zogen in einen Altbau mit Blick auf die Siegmündung. Sie verbringen viel Zeit im Garten

hier habe ich darüber nachgedacht, wem hier was wann erzählt wird. Du meintest in einem Kommentar, das wäre Gentlemen's Agreement, da nicht weiter nachzufragen. Kann man sich diesen Luxus wirklich leisten? Immerhin ist es die Erzählperspektive und die macht ja (auch hier) total viel möglich, oder habe ich da einen Denkfehler? Das löst sich ja auch auf. Er erzählt das vielleicht ein Jahr oder zwei nach den Ereignissen. Er landet dann im Präsens, erzählt zügig nach, was passiert ist und gibt ein Fazit. Dreh' auf, ist alles, was du hier tun kannst. Ein bisschen, als würde der das einem Freund erzählen, den er schon ganz gut kennt, aber deren Intimität auch Grenzen hat.

tranken Kaffee mit aufgewärmter Milch, die Tüte Salzmandeln

SALZMANDELN

Türke Hassan

Hassan ist kein türkischer Name. Wollte eigentlich @zigga mal schreiben. In dem Valcambi Suisse Text sagt genau umgekehrt ein Araber "Cüs", ist aber türkisch. Tja, das sind die Pralinen einer Berliner Schulzeit.

In der Nacht wachte ich vom Lachen des Krankenhauspersonals auf. Ich kroch leise aus dem Bett, ging durch den dunklen Flur in die Küche, die vom gleißenden Licht der Notaufnahme erhellt wurde. An der Spüle füllte ich ein Glas mit kaltem Wasser, trank ein paar Schlucke, kippte den Rest in den Ausguss. Dann setzte ich mich an den Tisch und zündete mir eine Marlboro an. Auf dem Balkon der mittleren Etage, die dem Küchenfenster genau gegenüberlag, standen drei Personen in einem kleinen Kreis. Ein Mann, zwei Frauen. Der Mann trug noch den mintgrünen OP-Kittel und hielt eine brennende Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen.

das ist die eine Stelle.

hinter den Kühlschrank

dem

billiges Imitat, das nach Chemikalien und Kunststoff stank. Ich griff wahllos in den Stape

Da hat er den Koffer noch nicht aufgemacht.

Sein Gesicht war in den blauen Dunst der Zigarette

steht zwar immer überall 'blau', ist aber eigentlich meistens einfach weiß oder grau.

was willst man mehr

willst du oder will man

Nachbau einer 12-Pfünder. Er nahm meinen Blick auf und fragte: „Kannst du dich noch erinnern?“
Ich nahm mir eine Tasse aus dem Regal und setzte mich an den Platz neben dem Fenster. „Nein, nein, kann ich nicht, ich erinner‘ mich nicht.
Ich nahm die Kanone in die Hand, presste sie gegen meine Lippen, atmete die scharfen Ausdünstungen des Kunststoffs ein, aber da war noch etwas anderes, ein muffiger, staubiger Geruch, der aus der Garage stammen musste.
„Ich kann mich nicht erinnern, an Dänemark oder so, an diesen Urlaub … ist ganz seltsam.“

er weiß, dass es eine '12-Pfünder' ist, aber er erinnert sich nicht an die Kanonen im Urlaub? Ich dachte, dieses übrig gebliebene Wissen hätte ihn auch verwundern können. Dass er sich das selbst fragt, warum er das eine weiß und das andere nicht.

„Gibt auch Photos“, sagte er

so eine Stelle für: Vater als Gedächtnis des Sohnes

Beutel Van Nelle

weckt Erinnerungen, hat ein Freund immer geraucht.

„Hab‘ nur unten was vergessen.“

Die Zigarette lag noch auf dem Tisch. Ich setzte mich auf den Stuhl, auf dem mein Vater gesessen hatte. Von dort konnte ich die Einfahrt entlang bis auf die Straße blicken. Das grelle Licht der Notaufnahme erhellte einen Teil der Hauswand


Fand ich gut. Das 'was vergessen' könnte hier auch eine Erinnerung meinen; das 'unten' die Tiefen seines Gedächtnisses

Ich tastete über das kühle Granit

gibt es laut Duden nicht im Neutrum. Der Granit; also über den kühlen Granit

schmeckte das Aroma des starken Tabaks

hier kommt rüber, dass das Aroma Erinnerungen an den Vater wach ruft

Es stimmte, Mühlen war das teuerste Bier, aber ich wollte nicht darauf verzichten, ich dachte, es steht mir einfach zu

hehe, ja.

„Und bei dir, Champ?“, fragte ich ihn, weil ich wusste, dass er vor ewigen Zeiten mal Westdeutscher Meister im Schwergewicht gewesen war.

gut, dass du diese Floskel 'Hey Champ' mit dieser überraschenden Wendung, dass er tatsächlich 'Champ' war, aushebelst.

„Bist du gekommen wegen deinem Vater, ne?, aber was ist mit dem? Nix hier. Seit zwei Wochen nix arbeiten, und hat zu keinem was gesagt, Meister macht schon Ärger, sagt, braucht bald nicht mehr kommen.

hm, so etwas hatte ich bei @Catington kritisiert. Ich mag diesen Stereotyp-Ausländer-Sprech nicht. Trotzdem ist es für mich hier plausibler als beim Spätibesitzer in Berlin, wo einfach anders gesprochen wird und Deutsche, was ich in anderen Gegenden öfter erlebt habe, so gebrochen mit 'Ausländern' kommunizieren, weil die einen ja sonst nicht verstehen, und die übernehmen das dann eben.

Er zog ein Bein nach, bei jedem seiner Schritte knickte die Hüfte leicht ein, der mächtige Rücken bewegte sich ruckartig zur Seite weg.

fand ich für eine Nebenfigur echt stark charakterisiert

„Gar nicht, Junge, ich hab‘ mir gar nichts vorgestellt“, sagte er und setzte sich auf die Couch. „Aber ich geh‘ nicht mehr in die Wohnung, ich geh‘ nicht mehr da hoch, ich räum hier auf, bis alles raus ist, bis nichts mehr da ist.“
„Ich denk‘ von Tag zu Tag - Heute, Morgen, fertig. Ich bin zu alt, um noch großartig Pläne zu machen. Monate, Jahre, was soll das alles? Heute ist, was zählt. Und wenn der Winter kommt, na, dann kommt er eben. Sehe ich, was ich dann mache.“

krass. Das stellt sehr gut auch so soziale Konstrukte von Arbeitengehen, Brotverdienst etc. in Frage.

Canned Heat
Nick Drake

yeah

das Photo

Foto

„Ach“, machte er und winkte ab. Er zog an seiner Zigarette, und für einen Moment sah ich sein Gesicht, erhellt durch die auflodernde Glut. „Warst du noch klein. Und macht nichts, Junge. Macht gar nichts. Jetzt weißt du es ja. Wir waren da, in Dänemark, wir sind dagewesen, ich brauch‘ dich nicht belügen. Warum sollte ich dich auch belügen?“
„Was ist mit Arbeit?“
„Ich geh‘ auch wieder zur Emitec, mach dir keine Sorgen, Junge. Ich geh arbeiten, ganz normal, wie immer.“

da kippt das schön. Von der scheinbaren Abhängigkeit des Sohnes dreht das zum Vater als Gedächtnis des Sohnes und selbstständige Person. Das kommt auch mit einer gewissen Überraschung.

Damals, in der Garage, als er mit den Geistern tanzte, da war etwas in seinem Blick, etwas Wildes, Unbeugsames.

schön.

Die roten Marlboro kaufte ich an der Mundorf-Tankstelle, weil Yeko schon geschlossen hatte, und die ersten Züge schmeckten nicht, aber dann wurde es besser, und ich rauchte und fuhr und drehte die Musik lauter, weil das verdammt noch mal alles ist, was wir jemals tun können.

Cooler Schluss. Hat die Position von Jimmy nochmal klar gemacht. Ein bisschen stärker, als er das im übrigen Text getan hat.

Also, das ist der längste Kommentar, den ich hier je geschrieben habe. Aber es lohnt sich ja immer. Tatsächlich würde ich mich sehr über ein kleines Feedback von dir zu meinen Stories freuen. Ist keine Aufforderung. Müsste auch nur ein kleiner Hinweis sein oder sowas, auch als PN, ist egal. Nur damit ich den Karren nicht vor den Baum fahre, ich gebe was auf deine Meinung :p Ich weiß, die letzten Geschichten, vor allem die allerletzte ist nicht so stark. Aber das ist egal. Das nur am Rande; ist zwar eigentlich nichts, was man so schreibt, aber wir 'kennen' uns ja jetzt schon etwas hier im Forum.
Die Geschichte hat mir gefallen. Ich finde sie stark. Ich finde an den genannten Stellen könntest du weiter machen. Ich sehe sie auch im Zusammenhang mit den zwei letzten Geschichten. Die Details sind beeindruckend, die doppelte Lesart hoffentlich kein Missverständnis und ein Potential vielleicht die Unterfütterung dieses Arbeiter-Themas mit kulturellen Reflexionen.

Viele Grüße und weiterhin Spaß mit dem Text
Carlo

 

Hatte ab und an ein Lächeln auf den Lippen und ab und an ein Kloß im Hals.

Hallo @Shey,

das ist natürlich ein sehr schönes Kompliment, denn so soll es sein. Ich mag das eigentlich auch sehr gerne, wenn sich Texte die Waage halten, leider driften meine Texte oft in die fuckin darkness ab, ich weiß auch nicht so genau, warum eigentlich. Hier scheint es mir ganz gut gelungen zu sein, so eine Stimmung zu erzeugen, die bitter-sweet ist, ohne kitschig zu werden. Also, wenn es dir gefallen hat und du weiterlesen wolltest, eben trotz und wegen der Länge, dann finde ich das doch einen gelungenes Leseerlebnis.

Danke dir sehr für deine Zeit und den Kommentar.

Verdammt, ich musste weinen!

Dear @Novak,

ein tolles Kompliment, ich vermute, fast das schönste, was du einem Autoren überhaupt je machen kannst. Wenn dich ein Text oder eine Zeile so ergriffen macht, dich so berührt, dass du Tränen vergießen musst, dann ist das einfach schön, im wahrsten Sinne des Wortes!

Ja, sicher, das ist noch kein fertiger Text, der muss noch zehn, zwanzig Mal durchgearbeitet werden, sieh mir das nach, ich habe länger dran gearbeitet, immer mal wieder, und jetzt wollte ich ihn fertigkriegen und einstellen, und dachte mir: fuck it! Also da kommt sicher noch Detailarbeit, und wenn du dann magst, kannst du ihn ja gerne noch einmal lesen und vielleicht noch was dazu sagen. Bis dahin bedanke ich mich bei dir für deine Zeit und deinen Kommentar!

Hallo auch an @Carlo Zwei,

wird was länger jetzt auch bei mir.

Trotzdem muss ich sagen, dass mir so ein bisschen die Knaller fehlen; vielleicht auch nur die Dichte überragender Sprache, Bilder etc. Natürlich ist das meckern auf höchstem Niveau, aber wo auch sonst. Sowas wie die Stelle im Brüder-Text, wo sie zusammen Fernsehen schauen.

Ich denke immer, ein Text sollte nicht überladen sein. Wenn es zu viel wird, zu dicht, so dicht wie Wurstbrot, dann hat das in meiner Leserbiografie bis jetzt immer folgenden Effekt gehabt: Ich spüre den Autoren, wie er sich vor den Text, vor das Geschehen setzt, ich sehe, durchschaue die Konstruktion, erkenne die Absicht, und oft ist das eben reine Effekthascherei, der Autor will zeigen, was er kann, ich nenne das immer schrecklich schön schreiben. Ich bin jetzt weit davon entfernt, einen auf poetisch oder lyrisch getrimmten Text zu verfassen, Gott bewahre!, aber ich bin der Meinung, ein Text sollte sich nicht von einem sprachlichen Bild zum nächsten hangeln müssen, um zu funktionieren. Denn dann hat die Sprache nur noch einen amplifzierenden Effekt, es verstärkt sich einfach alles, ich werde erschlagen, kann keine Luft holen, kann meine eigenen Gedanken nicht schweifen lassen. James Wood sagt in seinem Buch über Fiktion, ein paar (!) gut ausgewählte Details, um die Narration nicht zu übertünchen, um den Text nicht lediglich nur aus Details, also Bildern in einer schnell abfolgenden Frequenz, bestehen zu lassen. Hier war natürlich die Szene, in der der Vater tanzt immanent wichtig, und deswegen habe ich die restliche Sprache noch etwas mehr eingedämmt, um die Wirkung zu erhöhen, das Pulver nicht frühzeitig zu verschießen. Mir ist auch nicht ganz klar, was du mit kulturell relevant meinst? Muss jedes sprachliche Bild eine kulturelle Relevanz besitzen, und wenn ja, warum?

Was da aber noch anklingen könnte, glaube ich, wäre mehr eine kulturelle Reflexion dieser Arbeit. Ich hoffe, das klingt nicht wie Bullshit; ich weiß nicht, wie ich das anders sagen soll. Eine stärkere, kulturelle Reflexion über Gesellschaft und Arbeit, die zwischen den Zeilen noch mitschwingt.

Was für eine Funktion innerhalb dieser Geschichte sollte eine solche Reflexion über Arbeit haben? Man muss da ganz vorsichtig sein, um nicht plötzlich nur noch als der sensible Proletarierversteher zu gelten, der die rote Fahne schwenkt und jedem die Arbeitswelt erklärt. Die Arbeit ist hier wichtig, das ja, aber sie ist nicht das ursächliche Topoi dieser Geschichte; Arbeit ist Teil des Lebens dieser Männer. Sie arbeiten. Etwas andere wäre es, wenn der Vater in der Garage sitzt, weil er nicht mehr arbeiten gehen will und die tote Frau gar nicht im Bild wäre - dann würde ich sagen, hier und da sollte so eine Mike Leigh oder Ken Loach Dialog/Szene hin, wo klar wird, was die Arbeitswelt, dieser Maelstrom aus finanzieller Abhängigkeit, das Hamsterrad, mit einem macht. Dann wäre das quasi unabdingbar, weil Arbeit dann auch mehr wäre, ein tatsächliches Motiv, ein Movens. Aber das ist in dieser Geschichte nicht der Punkt, für mich ist das Motiv die Trauer. Trauer ist die Bewegung innerhalb dieser Geschichte. Man sollte auch aufpassen, aus einem Text nicht etwas machen zu wollen, was er gar nicht sein soll, dann wird ein Text nämlich schnell ein Gemischtwarenladen. Versteh mich nicht falsch, ist ein wichtiger Punkt - allerdings wird ja hier auch noch etwas über Arbeit erzählt, der Sohn sagt ihm ja, dass er nur noch Kurzstrecke fährt, und der Vater sagt, dass die Kollegen ständig wechseln und er es sich in seinem Alter auch nicht mehr aussuchen könne. Wenn du da eine andere Idee hast, fände ich es gut, wenn du konkret wirst.

Ich kenne seine Haltung, aber nicht sein Empfinden.

In meinen Texten versuche ich ja, persönliche Empfindungen weitestgehend zu reduzieren, weil ich diesbezüglich wirklich an die Schule des dirty realism glaube: less talk, more act. Ich glaube nicht, dass man einen Charakter kennenlernt, in dem er dich ständig vollquatscht, in dem er empfindet - eine Empfindung wird ja auch nicht immer klar, sie kann oft gar nicht benannt werden, man ist sic über sein eigenes Verhalten nicht richtig schlüssig, und ich mag diese Charaktere, die etwas erzählen, und dann während des eigenen Erzählens bemerken, wie wunderlich, wie seltsam, wie entrückt das Ganze war. Die Empfindung soll aus dem Handeln entstehen, oder dazwischen - das meint oszillieren, zwischen den Zeilen verhandeln, der Leser soll nichts vom Erzähler vorempfunden bekommen. Ist vielleicht auch eine persönliche Sache, aber ich hasse nichts mehr, als diese Vorsprecherei der Empfindungen, wie Jean Paul das mal genannt hat. Deswegen agieren die Figuren, auch der Erzähler, und darüberhinaus sollen die Empfindungen beim Leser ankommen - sicherlich eine persönliche Sache, vielleicht bin ich da auch zu radikal, aber ich möchte das auch nicht unbedingt ändern, weil ich mich dieser Art des Erzählens verpflichtet fühle.

Ich muss ja ehrlich sagen, dass ich mich ja schon so halb auf einen weiteren Text im Sinn dieser 'Rollenprosa' (ja ich weiß, der Begriff wird langsam nervig) gefreut habe.

Ich schreibe auch an einem neuen Text dieser Art. Das Problem ist, wenn ich solche räudigen Typen schreibe, dann zieht mich das auch selbst mit runter. Dann macht das etwas mit dir, ich bin dann fertig und muss drei Zigarren rauchen, um mich zu beruhigen. Bei der Rollenprosa verhält es sich halt so, dass man das Ganze kaufen wollen muss. Du kannst alles erzählen, wenn du den Erzähler, die Stimme, die Haltung, diese Präsenz, wenn du den einmal richtig etabliert hast, ist alles möglich. Ich bin mir nicht sicher, ob du alles, also jede Art von Sujet mit einer Rollenprosa erzählen kannst und solltest - da gibt es ausgefuchste Autoren, die schon sehr, sehr am Limit arbeiten, aber oft sind es Bühnenautoren, Dramaturgen. Sieh dir mal auf YT Alan Bennetts "Talking Heads" an, da gibt es einen Teil mit dem Titel "A chip in the sugar." DAS ist alles Rollenprosa, aber wie und was er da erzählt, wie er das aufzieht, das ist der absolute Wahnsinn. Da sind die Möglichkeiten schon sehr ausgedehnt worden. Man kann vieles, aber eben nicht alles so erzählen. Und natürlich muss man immer aufpassen, dass solche Texte nicht einfach nur voyeuristisch werden, denn das sind sie oft. Die Texte der Serie: Das dunkle Herz der Männer sind alle total voyeuristisch, die sind fast schon pornographisch nah, und so soll das auch sein, die sind wie ein Film von John Waters, immer ein wenig eklig, aber doch so, dass du weiterlesen willst. Man kann das ablehnen, weil man es für moralisch falsch hält, und man kann sich fragen, wo die Botschaft hinter solchen Texten, hinter solchen Experimenten ist, aber du muss ich immer ganz dezent lachen; Botschaft? Rollenprosa ist doch der Versuch, naturalistisch zu schreiben, so naturalistisch wie möglich, darstellen, ohne zu werten, die Realität nicht überhöhen. Das sind ganz andere Voraussetzungen.

SoC - stream of consciousness, Gedankenstrom. Das ist die ungefilterte Realität, wie sie eigentlich nie stattfindet, also der Selbstkommentar des Erzählers, der im Grunde alles, was geschieht, im Jetzt beschreibt, oder auch in der Vergangenheit, da gibt es jede Menge Mischformen.

Aber es gibt doch diese Szene, wo der Protagonist in der Nacht vom Lachen des Krankenhauspersonals erwacht in die Küche geht und raucht. Ist das die Implementierung des Todes der Mutter in den Text, für die ich es halte?

Man kann da so lesen.

Du meintest in einem Kommentar, das wäre Gentlemen's Agreement, da nicht weiter nachzufragen. Kann man sich diesen Luxus wirklich leisten? Immerhin ist es die Erzählperspektive und die macht ja (auch hier) total viel möglich, oder habe ich da einen Denkfehler? Das löst sich ja auch auf. Er erzählt das vielleicht ein Jahr oder zwei nach den Ereignissen. Er landet dann im Präsens, erzählt zügig nach, was passiert ist und gibt ein Fazit. Dreh' auf, ist alles, was du hier tun kannst. Ein bisschen, als würde der das einem Freund erzählen, den er schon ganz gut kennt, aber deren Intimität auch Grenzen kennt.

Natürlich würde man einem Freund eine Geschichte nie so erzählen. Das ist zwar schon oral, aber doch trotzdem noch recht deutlich in der Konstruktion. Das ist eben eine fiktive Geschichte, und das ist eben Literatur, die Kompression, die Sprache, die Dramaturgie. Wenn du eine echte Geschichte hören möchtest, musst du in die Kneipe gehen. Du weißt, was ich sagen will? Hier ist es so wie im russischen skas - es wird eine Mündlichkeit simuliert, aber du weißt, es ist Stil, ein Effekt, wenn du so willst. Bei jedem Erzähler musst du dich fragen, warum erzählt er das und wem? Bei den Großschriftstellern, da hast du immer einen Erzählrahmen, Umberto Eco, Im Namen der Rose. Da darfst du dann nur zeigen, was der Erzähler auch tatsächlich weiß. Der personale Erzähler - wer ist das, und warum weiß er alles, was der Protagonist denkt und tut? Das ist eine Grauzone, wo das Gentlemen's agreement beginnt. Die Perspektive löst sich hier auch nicht auf, sie wird nach hinten nur korrigiert - weil er immer noch mit der Frau zusammen ist, weil er immer noch in dem Wintergarten sitzt, das sind alles Dinge, die er noch tut, er ist ja nicht gestorben. Also kann ich das nicht im Präteritum erzählen, es ist eine Handlung, die in der Vergangenheit beginnt und sich bis in den heutigen Tag weiterführen lässt, die ja auch noch nicht abgeschlossen ist.

Tatsächlich würde ich mich sehr über ein kleines Feedback von dir zu meinen Stories freuen. Ist keine Aufforderung.

Gerne. Bin ab demnächst nicht mehr so eingebunden, habe dann auch wieder mehr Zeit.

Carlo, ich muss mal grade ne Pause machen, weil sonst mein Hirn weich wird. Wenn ich was vergessen habe, sag an, ich lese das auch gleich alles nochmal. Bin grad durch.

Gruss, Jimmy

 

... und ich rauchte und fuhr und drehte die Musik lauter, weil das verdammt noch mal alles ist, was wir jemals tun können.
Das ist, glaub ich, der beste letzte Satz, den ich hier jemals gelesen habe.
Und alles davor? Einfach großartig!

(Ich bin ja nur noch sehr selten hier auf der Seite und wenn, dann als weitgehend stummer Leser, als einer, der sich quasi nur die Rosinen aus dem Kuchen pickt. Und dein Text war wieder einmal ein Volltreffer, Jimmy, eine richtig fette, bittersüße Rosine gewissermaßen. Und auch wenn du dich hundertmal von einer Carver-Story hast inspirieren lassen, so ist das allemal ein astreiner Jimmy-Text. Umso mehr, weil ich beim Lesen nicht nur dich als Protagonisten vor Augen hatte, sondern nach jenem Sonntagnachmittag bei dir in Siegburg auch das gesamte Setting, die ganze Kulisse. Großartiges Kopfkino im besten Wortsinn also.)

Well done, Mister Jimmy.

 

Was mich interessieren würde: Warum fängst du (oben unterstrichen) plötzlich mitten im Text mit Präsens an? Ist das ein Stilmittel, um die Sache noch unmittelbarer an den Leser zu bringen?

Hallo @Ronnie, und danke für deine Zeit und deinen Kommentar und dein Lob.

Es ist so, bezüglich deiner Frage, dass der Vater ja noch lebt. Es ist etwas, dass in der Vergangenheit begonnen hat und noch andauert. Wenn ich da in der Vergangenheit schrübe, würde es so klingen, als wäre der Vater bereits verstorben. Das ist er aber nicht. (Ob das grammatikalisch jetzt mega-super-richtig ist, weiß ich, ehrlich gesagt nicht, aber es fühlt sich zumindest so an!)

Und, ja, jeder kennt so eine Schnase, die einem plötzlich die Freunde umdreht, bis sie wie von einem Bodysnatcher besessen wirken!

Das ist, glaub ich, der beste letzte Satz, den ich hier jemals gelesen habe.
Und alles davor? Einfach großartig!

Ernst, Mann, über deinen Kommentar habe ich mich sehr, sehr gefreut, vor allem über dein Lob. Ja, wir hatten übrigens auch Mühlen-Kölsch damals in Siegburg, unten in meinem Garten. Guter Tag, an den ich sehr gerne zurückdenke. Wann ist nochmal Gathering? :D

Gruss, Jimmy

 

Hallo @jimmysalaryman,

ich lese viele deiner Texte als Auseinandersetzung mit einer Vater-Sohn-Beziehung. Immer etwas Distanz, aber dahinter viel echte Wärme und Liebe. Als der Sohn in dieser Geschichte die Hand auf das Knie des Vaters legt, ist das ja schon eine ganz enorme Geste. Diese Beschreibungen berühren mich sehr.
Und was mir gerade noch auffällt, vielleicht stimmt es ja: Immer wieder geht es darum, dass man sich in der Familie doch umeinander kümmern muss. Dass man auf den anderen achtgeben muss, vor allem nach Schicksalsschlägen. Bei Männern ist es eben schwieriger. Das beschreibst du immer sehr echt und einfühlsam, hier durch den Champ.
Hier kommen noch ein paar Flusen:

Mein Blick fiel auf den Koffer, der immer noch in der Ecke hinter den Kühlschrank stand.

Zuccini,
Zucchini

Junge, das bist du ja
da bist du ja - oder?

hör’n wir seit den seit’n Sechzigern.
ich glaube, seit den ist aus Versehen stehen geblieben, oder?

Vom dem Kalender

Sehr berührend. Ich weiß jetzt schon, dass mir der Text - wie so viele andere von dir - noch lange nachgehen wird.

Gruß Daeron

 

Das ist aber gar nicht das Problem. Das Problem ist, dass niemand sich derart detailreich erinnern kann, wie das dein Protagonist tut.

Ja, ich denke, das ist ein Kardinalsproblem in der Fiktion.

Hallo @AWM und danke dir für deine Zeit und deinen Kommentar.

Es ist wohl so, dass man da einen Mittelweg finden muss, der aus Sicht des Autoren natürlich extremst schwierig ist. Ich lese oft Texte, teilweise von bekannten, veröffentlichten Autoren, wo ich denke: Niemals kann ein Wachmann/Angesteller/Arbeiter/Jugendlicher so denken, so formulieren. Niemans kann er sich so erinnern, und dann die richtigen Worte finden. Das ist auch der Grund, warum so abnorm viele Protagonisten Literaturprofessoren oder Künstler in Büchern auftauchen, weil man denen eher zutraut, sich so zu artikulieren. Sich so zu erinnern. Und natürlich ist es richtig. Auf der anderen Seite muss man sagen (oder ich vielmehr), dass es auch sehr verführerisch ist, seinen Protagonisten literarisch denken und sich erinnern zu lassen. Jede Fiktion, jede Geschichte ist komprimiert, ist aufbereitet, ist in eine selektive, präzisere Form gebracht, sonst könnten wir Gespräche aufzeichnen, mit allen Fehlern, Versprechern, Unzuverlässigkeiten. Ich will meinen Text gar nicht verteidigen: Ich sehe das Problem, und ich weiß darum. Zuerst habe ich den Protagonisten diese künstlerische Ader verpasst, also er hat eine sensible Ader, sieht Dinge anders, das ist jetzt meine Ausrede!, haha, nein, aber im Ernst: Das habe ich mir dabei gedacht. Dass man diesem Protagonisten es dann vielleicht eher abnimmt. Man könnte auch anders vermuten: Ist das überhaupt zuverlässig, was er mir da erzählt? Stimmt das alles? Natürlich habe ich das nicht intendiert. Bei der Traumsequenz kann er sich im Übrigen nur an das Weiß erinnern. Nun, ich frage mich, was würde es wegnehmen von der Geschichte, wenn ich diese präzisen Erinnerungen streiche? Bei allem, an was er sich erinnert, geht es doch um Sinnlichkeit. Mir ist das wichtig, die Menschen auch bei ihren Genüssen zu zeigen, bei dem, was sie lieben. Aber ich sehe diesen Punkt, und ich nehme das ernst. Lass mich mal drüber schlafen, dann sehen, was ich tun kann. Danke dir jedenfalls für deinen guten, konstruktiven Kommentar.

Ich bin für heute raus, meine Birne brät. @Daeron, wird was dauern, bin erst Sonntag wieder am PC, wie es aussieht, real life chores. Ich hoffe, du siehst es mir nach.

Gruss, Jimmy

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey Jimmy

Mir scheint, du vertraust mehr und mehr darauf, dass das 'normale' Leben erzählenswert ist. Gute Geschichten brauchen keine Plots und Twists und - darüber haben wir glaub mal gesprochen - krasse Szenen. Eindringlichkeit entsteht nicht notwendig durch das besondere Ereignis, sondern dadurch, wie erzählt wird. Und da fällt eben neben der sehr berührend und sensibel erzählten Vater-Sohn-Beziehung die besondere Materialität dieses Textes auf. Ich nenne das mal so. Ich meine, wir alle bauen ja mal einen Geruch in unsere Texte ein oder ein Geräusch. Aber hier in diesem Text bekommt die Welt, in der er spielt, eine beinahe physische Präsenz, weil du dir die Zeit nimmst, den Blick ruhen zu lassen, z.B. den Mut hast, Grillzutaten durchzudeklinieren. Ja, und du hast einen Sinn fürs Haptische, für Texturen - Papier, das nass geworden und wieder getrocknet ist - den ich nur von wenigen Autoren kenne. Ich denke, dass sich dieser Mut, Leerstellen einzubauen, was die Handlung betrifft, enorm auszahlt, weil es eben keine Leerstellen sind, sondern den Leser eintauchen lassen in die Geschichte, die Gedanken schweifen lassen, wie du schreibst. Sehr organisch. Auch die Markennamen, zu denen ich glaub auch schon mal was kommentiert habe, fügen sich in diesem Text hier nahtlos ein. Erzählsituation und Erzählhaltung passt, die Suspension of Disbelief fällt mir leicht, wenn ich dafür einen so erfahrungsgesättigten, sinnlichen Text zu lesen kriege.

Ja, ich bin grad nicht in der Lage, ausführlich zu kommentieren, muss grad den eigenen Karren aus dem Dreck ziehen. Aber den Eindruck wollte ich dir zumindest dalassen. Sehr verdiente Empfehlung, gratuliere!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hey jimmy,

kann mich in letzter Zeit nicht so recht berappeln zum Lesen oder Kommentieren. Setze nur noch Lesezeichen und guck zu, wie die Liste wächst. Aber heute ist Geburtstag und der muss ja irgendwie gefeiert werden und ich dachte, los, lese und schreib jetzt was, anders geht das ja gar nicht mit dem Feiern hier. Gut, dass ich nicht geguckt hab, wie lang der Text ist, sonst wäre ich sicher wonanders zur Party gegangen. Aber war gut. Scheiße ey! Und hätteste das Ding schon zur Kofferchallenge fertig gehabt, bin mir sicher, hätte ganz anders auf dem Podest ausgesehen.

Ja, ich mag die Ruhe und Stille die in dem Text drin steckt. Man hat ja selbst in den Momenten, wo die beiden da reden das Gefühl, dass die Stille sie beide verschluckt. Weil mir diese Momente, in denen sie zusammen sitzen und rauchen und Bier trinken und schweigen ziemlich intim erscheinen. Etwas, was die beiden nur mit sich teilen können. Weiß nicht, wie das Verhältnis zwischen den beiden war, bevor die Mutter gestorben ist, wahrscheinlich auch nicht so dicke, sonst wäre da nicht dieser extreme Bruch gewesen, diese Zeit, wo sich der Vater in der Wohnung verkriecht, um in ihr zu ersticken. Gut, dass er diese Garage hat und dann mit den Erinnerungen zu seinem Sohn läuft. Habe so das Gefühl, dass es fast den Tod der Mutter gebraucht hat, damit die beiden sich (wieder? überhaupt?) näherkommen. Kann das nicht begründen, aber für mich schwingt das so in dem Text mit. Und es endet dann ja auch wieder mit der neuen Frau, die den Vater völlig umkrempelt, ihn aber auch wieder auf die Beine stellt, was ja auch eine gute Seite hat.
Diese Vater-Sohn Geschichte gewinnt wirklich an Tiefe und Emotionalität mit Textlänge, so ganz alltäglich banal und dabei oder daraus erwächst eine enorme Kraft. Sehr feine Figurendynamik! Schöne Arbeit, habe ich sau gern gelesen!

„Aber wenn es ihm nicht gut geht, wenn er was hat, dann soll er doch was sagen, verdammt noch mal!
Da fehlen die Füßchen am Ende. Mehr Kritik habe ich nicht.

Beste Grüße, Fliege

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Jimmy,

deine Geschichte habe ich schon gesehen, als da stand "eingestellt vor zwei Minuten", und ich wollte mal als Erster was von dir kommentieren. Das hat schon wieder super geklappt alles. Glückwunsch zur Empfehlung. Die passt wohl. Bigtime.

Ich hab das ähnlich gedacht wie @Peeperkorn: Keine Nutten, kein Koks, keiner kriegt aufs Maul, und doch ist es das Ergreifendste, was ich je gelesen habe von dir. Wie der Vater der Protagonist ist, obwohl nicht der Ich-Erzähler, finde ich handwerklich stark. Klimpernde Flaschen in der Plastiktüte, man sagt das so, Details lassen Bilder entstehen, aber ja auch nicht irgendwelche, und da zeigst du hier durchgehend das perfekte Gespür.

Für mich geht's so darum, wie jeder einfach zuerst sein Leben lebt, und wenn's der Vater ist, der leidet. Dieser Dänemark-Urlaub, das ist ja offensichtlich, dass er die Zeit am liebsten zurückhätte, aber da waren Jimmys Wege auch noch viel enger mit seinen verwoben. Heute hat der eben die eigene Frau, den eigenen Job, den eigenen Gang zum Kiosk. Insofern nehme ich das dem Vater auch gar nicht übel, dass seine neue Trulla so eine schräge Fundamentalistin ist. Aus einer Lebenskrise heraus schmeißt sich ja so mancher einem strengen Regelwerk an den Hals, religiös, politisch, Straight Edge. Trotzdem gut zu wissen, dass die Musik auch für Papa weiterläuft.


dass mit dem Essen.“
das

hinter der großen Kakteen
Kaktee

Ich trank in aller Ruhe die erste Tasse Kaffee,
würde ich rausnehmen

kaufte ich beim Kiosk noch die Wochenendausgabe des Stadtanzeigers, drei Schachteln Marlboro und sah nach der Post.
Sah er so nicht beim Kiosk nach der Post?

Du machst durchgegend "erinner" etc. mit Apostroph, ich glaube, das ist falsch rum, meine sogar, du brauchst es gar nicht.

„Fleisch, Bier, vernünftige Frau – was willst man mehr?“
Der Satz steht im krassen Gegensatz zu allem, was sich im Moment in der Populärkultur tut. Finde ich gut, sogar als Vegetarier. Ein Highlight für mich in diesem Zusammenhang auch @petdays' "Grundsätzlich frage ich mich, warum so viel geraucht werden muss."

um’s Fleisch
ums Fleisch

Such ich dir raus.
Jo, so wie hier. Apostroph einfach weg. Eigentlich müsste es ja suche heißen.

Stunden lang
stundenlang

Yeko’s Kiosk
Schreibst du vermutlich so, weil er so heißt.

dann zog ich ein neues Blättchen aus dem Spender und steckte alles in meine Hostentasche
Geil, dieser Rückgriff auf die Behauptung des Vaters. Jimmy testet daran quasi stellvertretend, wie sehr er Sachen vertrauen kann, die der alte Mann so von sich gibt.

Ich hätte ihn gerne gefragt, wie man das anstellt, eine Zigarette einhändig in der Hosentasche drehen,
Diese Erklärung schmälert den Triumph für mich ein bisschen.

„Ich hab‘ mit der Scheiß-Raucherei seit fünf Jahren aufgehört“
Das fand ich merkwürdig, bei einem Paar, fünf Jahre Nichtraucherin und er fragt, als wär nie was gewesen.

An der Wand hing ein Kalender aus dem Jahr 1996
Einfach "von" 1996 passt stilistisch besser zum Rest.

Und was machste im Winter?
Ich wollte gerade sagen cool, wie das Drama sich hinter so simplen Sätzen versteckt, da macht's Ping und ich habe die Metapher im Titel. Also, mir war irgendwie klar, dass es um seelische Kälte gehen wird (wobei ich wegen deines Faibles für Krimikram zugegebenermaßen eine Millisekunde lang an den Spion, der aus der Kälte kam gedacht habe), aber das hier finde ich groß.

Niemals kündigen mir.
Fehlt was.

Christina schnarchte leise neben mir.
Angenehm ehrlich.

„Ich hab‘ schon noch was auf der hohen Kante liegen, und ich trink ja auch nur Küppers …“
Alles mag ich nicht in den Dialogen, aber der Satz ist für mich Oscarfavorit.

Sie sagt, dass sie meinen Vater aus der Kälte geholt hat, und dass ihr das niemand mehr nehmen kann.
Ich finde die Metapher wie erwähnt toll, aber das hätte ich nicht gebraucht, das wird mir zu viel. Besser hätte ich gefunden, wenn der Vater zwischendurch zum Beispiel krank geworden wäre und der Titel so als Dialogzeile tatsächlich genau so vorgekommen wäre. "Mensch, hör dir deinen Husten an. Wir wollen, dass du endlich aus der Kälte rauskommst." [EDIT: Oder meint auch die Christin da die Kälte seiner provisorischen Behausung?]

Grüße
JC

 

Lieber @jimmysalaryman

Dann sagte mein Vater auf einmal: „Ich hab‘ nie die Hand erhoben, ich hab‘ so was nie gemacht, oder? Nie. Bei dir nicht, bei deiner Mutter nicht, ich hab‘ euch nie angefasst.“
„Nein“, sagte ich und legte meine Hand auf sein Knie. „Nein, du warst ein guter Vater.“
„Und ich war immer mit allen glatt, das war mir wichtig – keine Schulden, ich stand nie in der Kreide, und kein falsches Wort über irgendwen, denn so war das schon immer, ein Mann kommt im Leben zu nix, wenn er alles anschreiben lässt und ständig schlecht redet.“

Mit Deiner wundervollen Geschichte setzt Du dem einfachen Menschen ein Denkmal. Dem Menschen, der am Ende des Weges nicht auf zusammengeraffte Reichtümer stolz ist, sondern darauf, niemandem etwas schuldig zu bleiben. Der Stolz darauf, so sauber wie möglich durch das Jammertal gegangen zu sein.
Wenn ich aber das Thema der Geschichte mit einem Wort benennen sollte, dann wäre das: Liebe. Die Liebe zwischen Vater und Sohn, aber auch zwischen dem Erzähler und seiner Partnerin. Eine tiefe Liebe, die nicht beengt und Freiraum lässt, die so selbstverständlich aus jedem Dialog und jeder Handlung der Figuren spricht, dass es nicht notwendig ist, sich ihrer ständig zu versichern.
und ich rauchte und fuhr und drehte die Musik lauter, weil das verdammt noch mal alles ist, was wir jemals tun können.
So ist es.
Ich hab das fast genauso gedacht, als ich den ersten guten Freund verlor und danach noch viele Male. Und es wird nicht leichter.

Die Geschichte vermittelt aber auch die Wärme, die notwendig ist, um nicht an der Bitterkeit zu verzweifeln.

Ein paar Kleinigkeiten wurden bereits von den Kollegen angemerkt. Ansonsten kann man an diesem Text nichts verbessern. Ich habe wirklich selten so gute Literatur genossen.

Danke für das Teilen!

Gruß!
Kellerkind

 

Hallo @jimmysalaryman,

sehr berührender, starker Text, den ich in Etappen gelesen habe, weil er mich packte, aber nicht vollends einsog. Zum einen war es ganz profan aufgrund der Länge ein Zeitproblem (klingt doof, ich weiß), andererseits habe ich diese Nähe zum Vater, die du beschreibst, so nie erlebt, weshalb ich innerlich eine gewisse Distanz gewahrt habe. Ich habe ein paar Punkte und möchte dir im zweiten Lesedurchlauf das mitgeben, was mir im ersten auffiel, weil es herausstach.

Yeko gab die einzelnen Preise in die Kasse ein
kann weg.

Ich zahlte mit einem der neuen Zwanziger, öffnete die Schachtel im Kiosk und schmiss das Zellophan in den Mülleimer vor den Kühlschränken. (…)
Ich schloss die Tür und steckte das zerknüllte Silberpapier in meine Hosentasche.
Ich hab in deiner Antwort auf Peeperkorns Komm gelesen, warum du das so schreibst, mir war es trotzdem beim Lesen zu genau, zu anorganisch im Text. Ich hab mich gefragt, weshalb ich das so genau wissen muss, vor allem am Anfang der Story.

„Dann mal `n schönes Wochenende“
Ein rein optisches Ding: Mich stören die schrägen Accents. Ich finde die geraden ' weniger stolprig. Über die lese ich weg, an den schrägen bleibe ich hängen.

und bog erst an der VHS auf unsere Straße ab.
in?

Die Bierflaschen schlugen in der Tüte gegeneinander. Glas auf Glas – ein Geräusch, das ich bis heute gerne höre.
Einerseits ein schönes Detail, sehr bildlich, andererseits finde ich das schlugen unpassend, weil es in den Ohren wehtut, wenn Glas aufeinanderschlägt. Ich würde das abschwächen Richtung klimperten. Das wirst du nicht mögen, aber vllt. weißt du, was ich meine und findest was anderes.

und die Blumen am Krankenhausbeet begannen zu blühen.
im?

„Machst’n du hier?“
Da fehlt mir das Was vorne.

Hab‘ die Garage aufgeräumt, die war ja so voll, so voll war die,
Diese Wiederholungen hast du bewusst gesetzt, wie auch später häufiger im Text, meine Vermutung: Du willst damit den Text entschleunigen, das Gesagte breit und bedächtig machen. Auf mich wirkt es jedoch an manchen Stellen (zu) auffällig, zu gewollt, weil ich denke, dass zwischen Menschen, die sich so gut kennen, minimale Codes zur Verständigung reichen, die wissen schon nach einer kurzen Ansage, was Sache ist. Später gibt der Sohn dem Vater ja mit einer kurzen Geste zu verstehen, den Koffer zu öffnen, also funktioniert das zwischen ihnen.
„Also, da wirste dich aber freuen, bin ich mir sicher, dass du dich freuen wirst.“
„Im Regal bei den Reifen, in dem Regal da, weißt du doch, ganz hinten durch.“
„Das sind meine Bilder aus der Malschule, Malschule Grunschel.“
Zwischendurch dachte ich, es wäre eine Eigenart des Vaters, aber der Sohn und auch seine Frau (aus meiner Vergangenheit. (…) Aus deiner Vergangenheit?) machen das ebenfalls, also ist es eine Aussage über ihre besondere Art zu kommunizieren, alles auszuwalzen und als solche (mir zu) auffällig in der Häufigkeit. Auch die inhaltliche Wiederholung im Dialog ist augenscheinlich, meine Vermutung hierzu: auch das soll eine Art der Rückversicherung sein, dass das Gesagte auch wahr ist, wie du es auch später mit Dänemark drin hast. Nur muss ich mir das verständnismäßig erst mal zurechtlegen, damit es nicht so weit draußen steht. Weißt?

Unter seiner zerschlissenen Wolljacke trug er einen Overall mit dem Emblem von Lüghausen, eine Firma, die schon lange nicht mehr existierte
einer? Jaja, der Lüghausen, von denen haben wir ganz früher Platten bekommen.

befand sich ein Stapel mit großen, genormten Papierbögen
Die Info bräuchte ich nicht, das Bild entsteht auch ohne.

Er zündete sich die Zigarette mit seinem eigenen Feuerzeug an
Da frage ich mich wieder: Warum so genau? Was macht das für einen Unterschied, mit welchem Feuerzeug er sich die Zigarette anmacht?

Dann sah mein Vater auf die Plastiktüte, die Zigarette zwischen den Lippen, seine Augen halb geschlossen. „Hast du dir etwa Feierabendbier gekauft?“
„Christina macht Kassler.“
Er schloss die Augen, nahm einen Zug und sagte: „Ihr beiden, das passt schon.“
„Warum? Weil sie Kassler macht?“
„Weil sie dich dein Bier trinken lässt …“
Hammer Dialog, gefällt mega.

Er klemmte ihn sich unter den Arm
Auch die häufigen Reflexivpronomen bräuchte ich so nicht, aber ich denke, auch die sind bewusst gesetzt?
Er zündete sich die Zigarette

darüber, in ausladend großen, schwarzen Lettern: DAMN GOOD COOK.
bescheuerte Kochschürzen haben Konjunktur, wenn ich da an ziggas Valcambi Suisse denke … :lol:

Sie hörte uns im Flur, wie wir die Jacken auszogen und an die Garderobe hingen, uns die Schuhe auf der Schmutzmatte abtraten. Als sie meinen Vater erkannte, schüttelte sie den Kopf und fragte: „Ach, nee, wen haben wir denn da?“
Diese Art der genauen Beobachtung finde ich hingegen nicht störend, im Gegenteil, ich finde sie bereichernd, weil sie sich organisch einordnet in den Text.

„Bin eben `n viel beschäftigter Mann, weißt du doch?“, sagte er. Er hielt den Koffer immer noch unter dem Arm.
Sie winkte ab. „Jaja, das sagen sie alle.“
Ich hab ähnlich wie Fliege nach einer Begründung dafür gesucht, warum Vater und Sohn vor dem Tod der Mutter nicht so dicke waren, weil - wie du später im Text schreibst - keine Misshandlung vorlag. Es gibt da dieses Ausweichen, dieses aus dem Weg gehen, dieses nicht zur Last fallen und ich frage mich, wie ist das motiviert, wenn die beiden eigentlich eine gute Grundlage haben? Es gibt da vereinzelte Hinweise auf Verständnisprobleme wie den hier
„Na, ich hab ja nix anderes behauptet, oder hab ich das, hab ich was anderes behauptet?“
wo der Vater eine große Empfindlichkeit zeigt. Möglicherweise ist es das.
Später reichst du noch das nach:
und mein Vater beschwichtigte und sagte, ich sei eigentlich schon immer eine faule Sau gewesen, ich tue nur so, als würde ich hart arbeiten, ich wüsste eben ganz genau, wann ich die Hände aus den Taschen nehmen muss.
Das kommt ein wenig überraschend, weil sie vorher so extrem vorsichtig miteinander sind, liefert aber weitere Hinweise auf Differenzen.

iss doch mit. `s reicht für drei.
Vielleicht gibt es da eine andere Lösung, so finde ich es unglücklich, weil es den Lesefluss stört.

„Mühlen-Kölsch“, sagte mein Vater leise und nickte.
„Ich geh‘ auch hart arbeiten.“
Der hat ne Nase für Gutes.

Ich öffnete die Flaschen mit der Kante meines Feuerzeugs und reichte ihm eine herüber.
du weißt schon ...

Ich werd‘ einundsechzig, da kann ich mir nicht aussuchen.
ich's mir nicht mehr …?

Ich konnte Teile seines Gesichts erkennen - den olivfarbenen Teint,

In der Nacht wachte ich vom Lachen des Krankenhauspersonals auf.
Bezeichnend, dass du den Prota so dicht am Krankenhaus platzierst, da schwingt die Krankheit der Mutter mit, auch wenn sie nie erwähnt wird.

blieb dabei im Schatten der Jalouise
Jalousie

hinter der großen Kakteen,
hinter den großen Kakteen oder hinter dem großen Kaktus, oder?

Die Glut zersprang auf dem Asphalt in tausend Funken.

Dann ging er zurück ins Innere des Gebäudes, zur nächsten Operation, ein Leben retten.
das nächste Leben retten?

war kleiner als die anderen - ein hochkantiges Format

Ich sog diesen Geruch ein – den Geruch von getrockneter Farbe und altem, feucht und wieder trocken gewordenem Papier.
Auch das finde ich eine schöne Beschreibung, wo du in die Tiefe, in die bereichernden Details gehst.

weißt du das nicht mehr? – konnten ja nicht einfach eine Kanone mitnehmen, wie sollte das gehen?, aber du, du gabst keine Ruhe
Den Gedankenstrich würde ich durch einen Dreipunkt ersetzen, das Komma weg und das aber groß.

immer noch!, ich hab’s dir ja gesagt
Glaub nicht, dass das so geht.

Hatt‘ ich ja auch zu tun, war viel auf Arbeit. (…) Wollt‘ ich draußen grillen
Auf das ich könnte ich verzichten.

Kümmern wir uns mal lieber um’s Fleisch
ums

Hab‘ ich ja auch bei den Franzosen gelernt, die drehen die Dinger in der Hosentasche, und einhändig
na klar.

wendete die Steaks noch einmal und schob sie auf einen weniger heißen Bereich des Rosts zum Garen.
schob sie an die Seite würde mir reichen, finde es so sehr erklärend.

holte Saucen für das Fleisch aus dem Beistellregal, das in einer Ecke des Pavillons stand
Das Fette bräuchte ich nicht, ist mir zu viel Mobiliar.

Ich legte die Zigarette unangezündet neben den Teller
Auch das ergibt sich, finde ich.

Das grelle Licht der Notaufnahme erhellte einen Teil der Hauswand, ich starrte auf die harten Kanten der Schatten, die auf dem Putz entstanden. Eine Katze sprang von der brusthohen Backsteinmauer auf eine der Mülltonnen, sie machte dabei ein leises, dumpfes Geräusch, das in dem schmalen Gang widerhallte. Für einen Moment sah ich ihr durchgeflecktes Fell, danach verschwand sie wieder in der Dunkelheit. Ein süßlicher Kiengeruch wehte in sanften Schüben vom Stadtwald herüber, und ich schloss die Augen, atmete tief ein und suchte nach der Zigarette, die immer noch auf dem Tisch lag. Ich tastete über das (den) kühle(n) Granit, bis ich das weiche, nachgiebige Papier der Selbstgedrehten an meinen Fingerspitzen spürte. Bevor ich sie anzündete, nahm ich ein paar kalte Züge, schmeckte das Aroma des starken Tabaks. Den ersten Rauch ließ ich langsam durch die Nasenlöcher entweichen, wartete auf das Kratzen tief unten im Hals, wie sich die Wirkung des Nikotins allmählich in meinem Brustkorb entfaltete. Das Aufleuchten der Glut sah ich durch meine geschlossenen Lider hindurch – ein pulsierender Schein in fließendem Orange.
Licht, Schatten, Farben, Gerüche, Haptik, Temperatur, Geschmack, dann später die Geräusche und das alles bereitet den Boden für die Selbstgedrehte seines Vaters … alles da an seinem Platz und fließt ineinander. Sehr starker Part. Auch die folgende Traumsequenz und der Morgen mit den Selbstgedrehten, da bin ich ganz nah dran an deinem Prota.

im Schlaf versunken. Ich hörte
Leerzeichen vor Ich weg.

aber irgendwie … denn, mal ganz ehrlich
MMn Denn groß.

Ich hab‘ mit der Scheiß-Raucherei seit fünf Jahren aufgehört
vor

Sag mal, was ganz anderes - hast du vielleicht

Sester, Garde, Ganser, Peters, Giesler, die gängigsten Kölschsorten
Ich dachte das wären Früh, Gaffel, Reissdorf? :D Off: Päffgen finde ich übrigens so lecker wie Mühlen.

die Emitec lag - die Fabrik

und um kurz nach Zwei kamen die ersten
zwei klein?

So Jimmy, mehr schaffe ich heute nicht, mir fallen die Augen zu.

Peace, linktofink

 

Howdy @Daeron,

ich lese viele deiner Texte als Auseinandersetzung mit einer Vater-Sohn-Beziehung. Immer etwas Distanz, aber dahinter viel echte Wärme und Liebe. Als der Sohn in dieser Geschichte die Hand auf das Knie des Vaters legt, ist das ja schon eine ganz enorme Geste.

Ja, ich schreibe wohl viel über die Beziehungen zwischen Vater und Sohn. Für mich ist das auch einer stärksten Momente, weil viel passiert, viel verhandelt wird, ohne das viel gesagt wird. Manchmal passt ja in einer Szene alles, da kommt alles zusammen, Setting, Dialog, Gesten und Mimik - allzu oft gelingt das einem wohl nicht, umso schöner, wenn es gelingt und der Leser die Intensität auch wahrnimmt.

Sehr berührend. Ich weiß jetzt schon, dass mir der Text - wie so viele andere von dir - noch lange nachgehen wird.

Das ist ein tolles Lob, vielen Dank dafür, sowie für deine Zeit und den Kommentar!


Mir scheint, du vertraust mehr und mehr darauf, dass das 'normale' Leben erzählenswert ist. Gute Geschichten brauchen keine Plots und Twists und - darüber haben wir glaub mal gesprochen - krasse Szenen.

Moin @Peeperkorn,

ja, ganz genau, aber meine letzten Texte gingen schon alle in eine ähnliche Richtung, da passierte weniger, weniger Gewalt, Sex, Alkohol. Ich halte das alltägliche, normale Leben, die Mythen des Alltags sozusagen, für absolut erzählenswert. Natürlich sucht man auch da das Besondere, es muss aber nicht immer krass im Sinne des Wortes sein.

Auch die Markennamen, zu denen ich glaub auch schon mal was kommentiert habe, fügen sich in diesem Text hier nahtlos ein. Erzählsituation und Erzählhaltung passt, die Suspension of Disbelief fällt mir leicht, wenn ich dafür einen so erfahrungsgesättigten, sinnlichen Text zu lesen kriege.

Das ist so eine Sache. Ich glaube, würde ich den Text wie einen fremden Text lesen, würde ich eher tendieren, ihn zu konstruiert zu finden. Zu sagen: Nee, also der Fernfahrer, der sich da jetzt so genau ausdrücken kann, ich weiß nicht ... deswegen, wie bereits erwähnt, war das ja meine Ausrede, ihn mit einer künstlerischen Ader auszustatten, damit man das als Leser eher kauft - so dachte ich. Ich lege da auch einen relativ großen Anspruch an mich selbst, aber manchmal geht es eben durch und ich denke: Da noch eine geile Beschreibung hin!, und man verliert oft die Kontrolle, wie was wer sagt, und ob das auch tatsächlich stimmen könnte, also von der Sprache her. Ich bin da noch nicht ganz zu einem Entschluss gekommen, was richtiger wäre und was geht und was nicht, ist auf jeden Fall sehr hilfreich, wenn du sagst, du würdest es auch oder gerade deswegen "kaufen", um diese Leseerfahrung zu machen, das ehrt mich natürlich.

Danke dir für deine Zeit und deinen Kommentar.

Hey @Fliege,

Habe so das Gefühl, dass es fast den Tod der Mutter gebraucht hat, damit die beiden sich (wieder? überhaupt?) näherkommen. Kann das nicht begründen, aber für mich schwingt das so in dem Text mit.

Ich lese das ganz ähnlich. Ich würde jetzt lügen, wenn ich sagen würde, na klar, hab ich so gewollt. Aber in vielen meiner Texte sind die Familien auseinandergedriftet und versuchen, wieder zueinander zu finden, oft vergeblich. Vom Grundtenor her passt das, ich denke, da ist schon eine Entfremdung da, die er vielleicht auch jetzt erst bemerkt, nachdem der Vater sich da so mehr oder weniger ins Bild gedrängt hat. Der Vater weiß ja auch relativ wenig über den Sohn, wann er arbeitet und so, da spricht natürlich einiges dafür, dass sie sich bereits entfremdet haben.

Diese Vater-Sohn Geschichte gewinnt wirklich an Tiefe und Emotionalität mit Textlänge, so ganz alltäglich banal und dabei oder daraus erwächst eine enorme Kraft. Sehr feine Figurendynamik! Schöne Arbeit, habe ich sau gern gelesen!

Vielen Dank, Fliege, so ein Lob bedeutet mir eine Menge.

wird alsbald fortgesetzt!

 

Mahlzeit @jimmysalaryman,

gestern gelesen deine Geschichte. Aber nicht gleich kommentiert. Das schien mir unvernünftig. Es gibt viele Texte hier, die man sogleich kommentieren kann, weil sie schnell zu erfassen sind. Ich hab es jetzt nicht von Rechtschreibung etc.; da würde ich nur etwas anmerken, wenn es gar zu grauselig ist. Ich meine auch nicht den Stil, denn es ist unverkennbar dein Stil (auch wenn ich schon lange nichts mehr von dir gelesen habe, weil kaum anwesend).

Was ich meine, ist, dass der Text Assoziationen in mir erzeugt aufgrund meines Alters. Ja, klingt dämlich, aber gestern begann die Geschichte ja erst in mich einzusickern und heute kommt das Wort dafür: Metamorphose.

Der Übergang von einem Lebensabschnitt zum nächsten ist gleichbedeutend mit einer Metamorphose. Dabei ist es egal, ob der Auslöser der Renteneintritt ist, der Tod eines Partners oder geliebten Menschen, eine schwere Krankheit ... diese Metamorphose benötigt eine Menge Ressourcen. Hat man sie sich nicht vorher angefressen durch Erfahrung (in ein wenig Weisheit konvertiert), dann wird es umso schwerer.

Loslassen, das ist schwer. Sich der Erinnerungsfetzen NICHT hinzugeben, nicht der Melancholie zu verfallen, das ist schwer. Metamorphosen beim Menschen KÖNNEN gelingen. Aber selbst, wenn sie gelingen, bleibt ein Kern des Alten zurück. Manchmal das Gefühl von Verlust, Verlorensein, trotz des Neuen.

Der Schmerz des Menschseins. Schön, weil er Quelle von Kunst zu sein vermag. Schrecklich, wenn ohne Hoffnung.

Du bist ein echter Poet.

Morphin

 

Hallo Jimmy,
Vor langer Zeit habe ich mir einmal gewünscht, du würdest deine fabelhaften Dialoge und Personenzeichnungen auch abseits von Gewalt, Sex und Alkohol einbringen. Alltag in verschiedenen Milieus., nicht spektakulär, aber mit genauen Beobachtungen und treffsicherer Sprache.
Jetzt finde ich deine neue Geschichte dort angesiedelt, wo sich jeder Mann und jede Frau wiederfinden kann. Sprachlose Nähe und Einsamkeit sind überall möglich, besonders im Alter. Da bist du ganz dicht dran, und was mich betrifft, hast du mich mitgenommen, auch emotional. Das möchte ich dir ohne Wenn und Aber mitteilen.

Freundliche Grüße
wieselmaus

 

Keine Nutten, kein Koks, keiner kriegt aufs Maul, und doch ist es das Ergreifendste, was ich je gelesen habe von dir.

Hey @Proof,

danke dir für deine Zeit und deinen Kommentar. Ich lese deine Texte immer, denke mir dann aber, ich kann da sowieso nix Konstruktives zu sagen, weil ich nicht so der Horror-Mann bin, was vielleicht auch ein Fehler ist. Du sagst jedenfalls eine Menge konstruktive Sachen über den Text.

Für mich geht's so darum, wie jeder einfach zuerst sein Leben lebt, und wenn's der Vater ist, der leidet.

Ja, das stimmt, da bin ich bei dir. Ein Nebeneinanderherleben, bis man sich wiederfindet, die Spuren zusammenlaufen.

Ich finde die Metapher wie erwähnt toll, aber das hätte ich nicht gebraucht, das wird mir zu viel. Besser hätte ich gefunden, wenn der Vater zwischendurch zum Beispiel krank geworden wäre und der Titel so als Dialogzeile tatsächlich genau so vorgekommen wäre. "Mensch, hör dir deinen Husten an. Wir wollen, dass du endlich aus der Kälte rauskommst."

Ist interessant, dass du das so liest. Die Kälte meint ja im Text zweierlei, also einmal durchaus die physische Form, dann aber auch eben eine emotionale Kälte - allerdings finde ich, bleibt das eine etwas fragwürdig offen, denn es klingt ja nach Mission, nach einem Auftrag, und deswegen habe ich im Titel auch das "Wir" gewählt, weil es betont zweideutig ist, weil man nicht weiß, wer ist dieses Wir überhaupt? Klingt das irgendwie logisch?

Die restlichen Sachen werde ich verbessern, da wird auch noch einiges gekürzt, sind gute Gedanken von dir dabei.

Danke dir für deine Zeit und deinen Kommentar, hat mich sehr gefreut.

Howdy @Kellerkind,

Mit Deiner wundervollen Geschichte setzt Du dem einfachen Menschen ein Denkmal.

Ich weiß wahrscheinlich, wie du das meinst, aber in meinen Ohren klingt das irgendwie seltsam: einfache Menschen. Warum sind die denn einfach? Wer legt das fest, wer legitimiert das? Weil sie ein ganz normales Leben leben, keine Akademiker sind, bodenständiger Arbeit nachgehen und ihre Bildung nicht heraushängen lassen? Dann wäre ich auch ein einfacher Mensch. (Damit bin ich übrigens total okay, so ist es nicht.) Ich habe kein Abitur, nie studiert, und meinen Zugang zur Literatur habe ich mir selbst ermöglicht, was ein langer und steiniger Weg gewesen ist. Ich komme aus einer Familie von Dachdeckern, Metzgern, Schreinern. Ich will das jetzt gar nicht weiter ausbreiten, aber ich empfinde es schon auch als wertend, heute sagt man: klassistisch, wenn man solche Begrifflichkeiten benutzt, und ich weise da jetzt lediglich drauf hin, ohne ein Faß aufmachen zu wollen, no beef. Einfach vs was eigentlich? Schwierig.

Die Liebe zwischen Vater und Sohn, aber auch zwischen dem Erzähler und seiner Partnerin.

Ja, das ist so, und es ist schön, dass du das so liest. Es ist immer eine Bestätigung, wenn man die Figuren in einem Text so wahrnimmt, wie sie zueinander stehen, ohne das man es explizit erwähnen muss. Das läuft einfach so mit, diese emotionale Bindung, die nimmt man wahr, oder eben nicht, je nachdem, wie man den Text liest, was man für ein Leser ist.

Die Geschichte vermittelt aber auch die Wärme, die notwendig ist, um nicht an der Bitterkeit zu verzweifeln.

Ja, Wärme, und auch ein wenig Stoizismus, den Stolz weiterzumachen. Es nützt ja nichts. Wie oft ich das höre am Tag. Weitermachen, aber auf eine nietzscheanische Weise, mit erhobenem Kopf dem Mahlstrom begegnen.


Ich hab das fast genauso gedacht, als ich den ersten guten Freund verlor und danach noch viele Male. Und es wird nicht leichter.

Manchmal ist es ja so, dass sich die Dinge nicht verändern wollen, die bleiben in ihrer Intensität gleich, egal wie oft du sie erlebst - Trauer, Traurigkeit, das liegt sehr nah an der Oberfläche, und das sind starke Emotionen, die dich erfassen und überwältigen können, da ändert sich nichts an der Empfindung, ganz egal wie oft man das erlebt/durchlebt.

Danke dir für deine Zeit und deinen Kommentar, hat mich sehr gefreut.

wird fortgesetzt!

 

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