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Zuckerbrot und Peitsche

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13.02.2008
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Zuckerbrot und Peitsche

„Wir machen das hier Zuckerbrot und Peitsche. Du Zuckerbrot, ich Peitsche“, entscheide ich und komme einen Zentimeter vor der Garagentür zum Stehen.
Jule sitzt auf der Beifahrerseite wie ein Dummy vorm Crashtest.
„Kann ich nicht lieber das Auto bewachen?“
„Nein, heute müssen wir zusammenhalten.“
Der Garten hinter dem grünlackierten Eisentor liegt seit Jahren wild, Löwenzahn zwischen den Pflastersteinen und mehrere Kilo Haselnüsse im Gras. Das Plastikkitz mit den roten Augen hat sich einen Moospelz wachsen lassen. Am Wegesrand sammeln wir noch ein paar späte Erdbeeren. Zwei Minuten Aufschub sind besser als nichts.
Vorsichtig steige ich die glatten Stufen hinauf. Sie haben mir schon als Kind Angst eingejagt. Die Vision: offene Brüche und Hirnfetzen am Rauputz der Hauswand. Mittlerweile haben sich einige Steinfliesen gelockert und ich verfluche meine hohen Absätze. Jule schleicht auf rutschsicheren Sneakern hinter mir her.
Er steht schon in der Tür, hat mein Auto gehört und seine Töchter sicher vom Fenster bei der Erdbeerlese beobachtet. Als ich ihn umarme, fühlt er sich noch immer stark an. Nur die Beine werden immer spindeliger, am linken ist der Puls kaum noch messbar. Deshalb sollte ein Stent eingesetzt werden. In letzter Minute entschied Papa sich jedoch um, floh im wehenden OP-Kittel. Er wollte es erstmal mit einer Knoblauchkur probieren. Das Bein habe sich seither deutlich gebessert, hat er schon am Telefon gelogen.
„Schön, dass ihr da seid“, sagt er und stakst voran in die Küche.
Dort schiebe ich ungeöffnete Briefe beiseite, verfrachte Zeitungsstapel und randvolle Aschenbecher auf die Arbeitsplatte, um die Bank frei zu räumen. Jule taucht derweil in die Tiefkühltruhe, bis sie etwas hervorzerrt, das sich wie ein Kuchen ausnimmt. Schwer zu sagen, was sich wirklich unter den Verpackungsschichten verbirgt. Wenn wir Pech haben, ist es nicht Buttercreme mit Streuseln, sondern ein Barren Kopfsülze.
Dann sitzen wir Knie an Knie auf unserem Kinderbänkchen und beobachten Papa beim Kaffeekochen. Unter den Polstern ist die Bank aufklappbar. Als ich zum letzten Mal hineingeguckt habe, auf der Suche nach Schleifen für eins meiner Kostümprojekte, lagen darin Häkeldeckchen, Margarinenbecher und Gummibänder.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches steht der Armlehnenstuhl. Ein verfilztes Strickkissen liegt darauf, jahrelang plattgesessen. Dort hat Oma gewohnt.

Als Kinder stritten Jule und ich uns darum, wer Oma kämmen durfte, während sie auf dem Armlehnenstuhl thronte. Wir fingen unten an, wo ihre arschlangen Haare dünn ausliefen. Dort konnte man sich noch vorstellen, es seien die dunklen Locken einer Prinzessin – bis wir uns weiter nach oben bürsteten, zu den grauen Strähnen und den fleischigen Ohrläppchen, die weich waren und mit viel Flaum daran, wie Pfirsiche, die man im Schulranzen vergessen hatte. Wenn wir am Scheitel angekommen waren, wo das Haar flach und ölig lag, drehte Oma ihren Zopf zu einem überraschend kleinen Knoten und setzte eine Perücke darauf. Sie hatte viele Perücken, alle mit kurzen Locken, aber in unterschiedlichen Brauntönen, je nach Jahreszeit. Wenn Oma die nicht gerade auf ihrem Knötchen trug, saßen sie auf Styroporköpfen ohne Augen vor dem Schlafzimmerspiegel. Manchmal, wenn Mama uns am Sonntagabend abholen kam und sich noch auf einen Kaffee an den Küchentisch setzte, sagte sie, ein echter Kurzhaarschnitt wäre womöglich praktischer als arschlange Haare mit einer Kurzhaarperücke obendrauf. Doch das kam für Oma aus Bibelgründen nicht in Frage, zumindest nicht bis zum ersten Schlaganfall.

Jule versucht, mit dem Käsemesser Scheiben vom gefrorenen Kuchen zu säbeln. Weil ich nicht hinsehen und Jule das Messer auch nicht wegnehmen kann, ohne dass sie es als Entmündigung anprangern würde, gehe ich Sprudel holen. Den Flur zum Wasserkasten in der Stube hat Papa in einen Tunnel mit Wänden aus Computerlaufwerken verwandelt. Hier müsste man auch mal einen Stent einsetzen, oder wenigstens mal eine Knoblauchknolle hindurchwerfen. Doch Papa hat einfach Bettlaken und Teppiche über die Geräte gehängt, damit es schöner aussieht. Als er mit dem Zubauen anfing, habe ich geschimpft, wegen der Oma, die doch seit dem Schlag eh nicht mehr gut laufen konnte. Aber er hatte ihren Rollator ausgemessen, links und rechts sogar noch fünf Zentimeter Manövrierspielraum draufgeschlagen. Auch als er die Laminatfalttür zur Stube zuzog und das angrenzende Esszimmer zum Verkaufsraum für seine auf- und umgerüsteten Schrottcomputer machte, hatte ich keine Chance. Wenn ich mit Oma allein war, klagte sie über den annektierten Empfangsraum, die Unzugänglichkeit des guten Porzellans. Wenn ich Papa vor ihr zur Rede stellte, fand sie ein Esszimmer eigentlich überflüssig und Gäste sowieso eher lästig. Zum Schluss blieben ihr so nur die Küche und die Stube, in der sie schlief und fernsah, wenn sie sich nicht gerade vor Elektrosmog fürchtete.

Früher nähte Oma in der Stube mit uns Stoffschweine und häkelte Ringelschwänze dazu, während Papa in der Garage an den Enten seiner Kunden schraubte. In der Küche kochte sie tolle Sachen: Rindsrouladen mit dicker Soße und Kartoffelknödeln, die elastisch wie Flummis waren, aber nicht so verwendet werden durften. Oft holte sie fünf Hähnchen vom Markt, zerknackte ihre Wirbelsäulen, Beine und Rippen mit der Geflügelschere, um sie dann dicht an dicht auf ein Backblech zu ordnen. Wenn die Hähnchenteile endlich fertig waren, durfte nichts verschwendet werden. Das Bratfett wurde über die Kartoffeln gegossen. Sobald wir aufgegessen hatten, sammelte Oma unsere Knochen auf ihren Teller, nagte Sehnen und Knorpel ab und brach schließlich die Röhren auf, um das Mark herauszusaugen. Wir schüttelten uns, schrien „pfui“ und „bäh“, wenn sie so schmatzte und mit beiden Händen zugriff. Nach dem Abräumen wurden die übriggebliebenen Hähnchenteile in Margarinendosen gelegt, die in Gefrierbeutel gesteckt wurden, die doppelt zugeknotet und ihrerseits in Einkaufstüten verpackt wurden. „Damit die Beinchen nicht davonlaufen“, sagte Oma. Die meisten Beutelpakete wurden eingefroren, damit man bei Gelegenheit Mikrowellenschenkel machen konnte, die innen oft gefroren blieben. Zwei Beutelpakete mussten wir aber mit nachhause nehmen, weil Mama nie anständig kochte.

Jule verteilt Kuchenfetzen auf Kristallteller, und Papa stellt die Kaffeekanne auf die Wachstischdecke. Dann setzt er sich vor Kopf und beginnt, eine Zigarette zu drehen. Früher übernahm Jule das oft für ihn. Ihre Zigaretten waren rund und schön, meine immer platt, mit viel Spucke am Papier. Die mochte er nicht rauchen. Vor ein paar Monaten haben Jule und ich die jahrzehntealte Blümchentapete überstrichen und Nikotinschmier von Fensterrahmen, Hängeschränken und Tür gewaschen. Danach habe ich Papa das Rauchen im Erdgeschoss verboten – der Oma zuliebe, die sich nie traute, etwas zu sagen. Ich hatte nicht erwartet, dass er sich daran halten würde, aber er tat es. Und jetzt darf er hier meinetwegen wieder alles zuqualmen.
Jule hustet ein paar Mal und wedelt die Schwaden weg. Ich muss sie unter dem Tisch kneifen, damit sie aufhört mit ihrem Getue. Darum geht es uns heute nicht.
Früher war es Jule, die mich unter dem Tisch kniff und piekte, bis ich ihr über dem Tisch an den Haaren zog und dafür von Papa ausgeschimpft wurde, der sie nie durchschaute. Bei Oma war das anders, die langte eines Tages über den Tisch und verpasste Jule eine echte Ohrfeige, die uns beide zum Heulen brachte. Als wir Mama die Ohrfeige petzten, sagte Oma, sie habe Jules Wange nur gestreichelt. Wir waren erschüttert: Oma log. Was würde der liebe Herr Jesus dazu sagen?

Oma hatte einen guten Draht zum lieben Herrn Jesus. Er sprach zu ihr, riet ihr etwa aus der evangelischen Kirche auszutreten, weil diese bald von den Katholiken übernommen würde. Einmal platzierte er sogar ein Atkins-Diätbuch so geschickt neben dem Altpapierkontainer, dass sie es finden und damit all ihre Gebrechen heilen konnte. Und nichts war ihm zu gering, darin seine Fürsorge zu offenbaren, und sei es bloß, dass sie den Knopf wiederfand, der ihr beim Bücken von der Bluse gesprungen war. Ein Leben lang hatte der liebe Herr Jesus seine schützende Hand über Oma gehalten.
Als Jule und ich noch in ein Bett passten, las Oma uns immer aus der Bibel vor. Sie versuchte zu erklären, warum Abraham Isaak wie ein Vieh auf den Opfertisch gebunden hatte: aus reiner Liebe und demütigem Gehorsam. Der barmherzige Samariter blieb Jule und mir dennoch lieber, und natürlich der liebe Herr Jesus, der uns von allen Wänden herab gütig anlächelte, weil er Kinder so gern hatte. Über unserem Bett stand er umringt von Schäfchen. Und das Lamm, das er auf dem Arm trug, war Jule, und das etwas größere Lamm, das mit der Nase in seine Tasche stupfte, das war ich. Und wenn Gott vielleicht einmal keine Lust gehabt hätte, uns am Morgen zu wecken, wäre das kein Problem gewesen, weil wir sofort an der Hand des lieben Herrn Jesus in den Himmel aufgefahren wären. Nur Mama würden wir dort nicht treffen. Das tat der Oma selbst schrecklich leid, uns das sagen zu müssen, aber ohne den lieben Herrn Jesus an der Hand konnte man nunmal nicht fliegen. Mama schimpfte sehr mit Oma als sie ihre rotäugigen Kinder am nächsten Morgen in Empfang nahm.

Sehr viel später erfuhr ich von einer entfernten Großtante, dass Oma sich in einem Wandschrank versteckt hielt, als sie noch nicht die Oma war, sondern ein ostpreußisches Mädchen, das Trudchen hieß. Im selben Raum erschossen russische Soldaten währenddessen ihre Mutter und ihren Bruder. Monate später brachte Trudchen ein Kind unbekannten Namens und Geschlechts zur Welt, das von einem unbekannten Russen gezeugt worden war. Die Ankunft im Westen erlebte es nicht mehr. Und so gebar Trudchen dem Fremden, der mit dem Namen ihrer ersten großen Liebe aus sibirischer Gefangenschaft zurückkehrte, ihr zweites erstes Kind, meine Tante. Dann folgte Papa und die Familie richtete sich ein. Der Vater auf dem Platz vor dem Fenster, die Mutter auf dem Armlehnenstuhl, die Kinder auf der Bank.
Ein gemeinsames „Kommherrjesusseiduunsergastundsegnewasduunsbescherethast“ über den sonst stillen Mahlzeiten. Als der Vater eines Tages vom Stuhl kippte, änderte sich eigentlich nichts. Nur der Platz am Fenster blieb leer und der Herr Jesus war jetzt nicht mehr Gast sondern Familienoberhaupt. Und er sperrte seine Kinder zu ihrem eigenen Besten in den Spinnenkeller, wenn sie statt der Bibel Westernheftchen lasen.

An der Fotowand hängt ein Sepiapapa mit kurzen Hosen und knubbeligen Knien. Der aktuelle Papa darunter erscheint kaum farbiger.
„So, was ist der Plan?“
„Welcher Plan?“, fragt er.
Jule setzt sich auf, hat ihren Einsatz erkannt. „Na, wir dachten, du würdest dir jetzt vielleicht eine kleine Wohnung nehmen wollen. Weniger zu putzen, weniger Gartenarbeit, ein Balkon vielleicht. Das könnten wir sicherlich sehr hübsch machen.“
Als ich sehe, wie er Luft schnappt, setze ich nach: „Also hier kannst du wirklich nicht bleiben. Das Haus ist viel zu groß und zu teuer. Da muss so viel gemacht werden. Du musst doch Johannes auch seinen Erbteil auszahlen. Du bekommst ja nicht mal Rente.“
„Ich habe eine bessere Idee“, verkündet Papa.
Jule rollt die Augen, und ich versuche, ein offenes Gesicht zu machen. „Ach ja?“
„Du könntest das Haus kaufen.“
Ich huste ein paar bunte Streusel. „Ich?“
„Du wolltest doch ein Haus kaufen. Du und Josch, ihr habt doch gespart.“
„Ja, aber doch nicht dieses Haus.“
„Jetzt lass mich doch erstmal aussprechen. Das ist eine gute Wohngegend hier, mit vielen jungen Familien. Und es wäre sehr praktisch. Ihr könntet unten einziehen und ich würde oben bleiben. Ich kann auch auf Paul aufpassen, wenn ihr arbeitet. Und wenn ich dann tot bin, hättet ihr das ganze Haus. Jule müsste natürlich unterschreiben, dass sie ihren Erbteil abtritt, wenn ihr schon das ganze Geld reinsteckt.“
„Mach ich sofort“, sagt Jule und lehnt sich zurück.
Jetzt passt es ihr natürlich wunderbar, dass sie von Praktikum zu Volontariat zu Schwangerschaftsvertretung hüpft, von Klappsofa zu Luftmatratze. Mit ihren schmalen Schultern und dem hohen Pferdeschwanz wirkt sie noch immer wie ein zwölfjähriges Mädchen. Dafür sah ich schon mit fünfzehn aus wie die Mutter, die ich heute bin. „Was zum Anpacken“, sagte Papa. „Monstertitte“, riefen die Jungs auf der Straße.
„Paul geht aber am anderen Ende der Stadt zur Schule“, sage ich, „das liegt jetzt fünf Minuten von zuhause und genau auf dem Weg zur Arbeit.“
„Der kommt doch nächstes Jahr eh auf die Weiterführende“, wirft Jule ein und versenkt den fünften Zuckerwürfel in ihrer Kaffeetasse.
Ich will ihr unterm Tisch vors Knie treten und überm Tisch an den Haaren ziehen. Stattdessen überlege ich angestrengt, lasse es aussehen, als ließe ich mir die Sache ernsthaft durch den Kopf gehen, als suchte ich nur noch die richtigen Wandfarben aus. Doch weil mir keine gute Lüge einfällt, sage ich schließlich die halbe Wahrheit: „Aber das Haus ist ... schlimm. Das müsste man doch quasi abreißen und neu bauen. Die Heizung ist hundert Jahre alt, die Bäder ... Ich will nicht hier wohnen.“
Papa schüttelt den Kopf und macht böse Schlitzaugen. „Wie kommst du eigentlich darauf, dass es hier um dich geht? Aber das ist typisch. So warst du schon immer. Dabei weißt du genau, was passiert, wenn du mir Stress machst.“

Manchmal ging Papa mit uns zum Bärenloch, wo wir Stichlinge und Kaulquappen fingen, um sie zuhause ins Aquarium zu setzten. Wenn die Stichlinge es nicht schafften, alle Kaulquappen rechtzeitig zu fressen, ließen die sich Beinchen wachsen, mit denen sie aus dem Aquarium heraussprangen. Dann fanden wir sie Wochen später als knistrige Lederfrösche hinter der Heizung.
Manchmal machten wir auch Radtouren zur Burg und kochten dort Hühnersuppe auf einem wackeligen Gasbrenner, die gute mit den Muschelnudeln, die sich von unten an den Löffel und an den Gaumen napften. Abends zeigte Papa uns dann, wie er die Hühneraugen auf seinen Zehen mit Gift einpinselte, und wir grausten uns freudig.
Aber es gab auch andere Wochenenden, Wochenenden, an denen wir von morgens bis abends vor dem Fernseher saßen und Zöpfe in den Flokati flochten, an denen wir uns bis aufs Blut stritten, während Papa tage- und nächtelang Siedlungen auf seinem Computer baute. Nur zu den Mahlzeiten in Omas Küche machte er Pause: um neun, um halb eins, um drei und um sechs.
Als ich dreizehn und Jule zehn war, fuhren wir das letzte Mal mit ihm in den Urlaub. Dort angelten wir Sardellen, die vor Schreck starben, noch bevor man ihnen mit dem Schraubenschlüssel auf den Kopf hauen konnte. Aber es war eine schwierige Zeit. Papa hatte Angst, dass ihm die deutsche Polizei wegen der schwarzen Entenbastelei über die Grenze gefolgt sein könnte, Jule hatte eine hysterische Phase, und ich schwieg mich in eine perfekte Einsamkeit hinein. Da lernte Papa die Frau im Nebenzelt kennen, die weder schwieg noch kreischte. Um mit ihr im Zelt allein zu sein, halste er uns ihr fünfjähriges Kind auf, „zum Spielen“, wie er sagte. Also spielten Jule und ich zum ersten Mal in diesem Sommer einträchtig, vergruben den bleichen Jungen bis zum Hals im Sand und ließen ihn so allein am Strand zurück. Als andere Camper das verrotzte Kind zum Platz zurückbrachten, heulte Papa laut und nass vor allen Leuten, weil er Töchter wie uns nicht verdient hatte.
Auf der Rückreise, als wir im heißen, verqualmten Auto saßen und die Fenster nicht öffnen durften, wegen der Aerodynamik und weil Papa sonst Zug im Nacken bekam, fragte er uns freundlich: „Und? Wie fandet ihr den Urlaub?“
„Saudoof!“, schrie Jule und trat von hinten gegen seinen Sitz.
Da tat Papa mir leid, weil er doch mit teurem Benzin so weit gefahren war und sich Mühe gegeben hatte. Und so log ich: „Also ich fand’s schön.“
Er drehte sich nicht zu uns um, als er antwortete: „Also ich fand’s auch richtig scheiße. Mir geht’s eh nicht gut im Moment, da habe ich euch mitgenommen, um mich aufzumuntern. Jetzt geht’s mir dank euch noch viel beschissener. Ich hätte nicht gedacht, dass ihr so egoistisch sein könnt.“
Eine Woche später besuchten wir ihn im Krankenhaus, wo er zur Erholung hingegangen war. Er konnte nicht richtig sprechen und als er über dem Nachtisch einschlief, aß Jule seinen Milchreis auf.

Ich versuche, nicht zu klingen, als säße mir ein Lederfrosch in der Kehle. „Papa, es geht nicht um mich. Es geht um dich. Ich mache mir Sorgen. Was ist denn so schlimm daran, in eine perfekt renovierte Wohnung zu ziehen? Es ist doch besser, das jetzt alles ruhig und gemütlich zu organisieren, statt auf die Zwangsversteigerung zu warten.“
Er schnaubt. „Eine Wohnung! Du bist witzig. Ich brauche Platz. Wo soll ich denn hin mit meinen Sachen?“
Ich drehe mich zu Jule um, damit sie noch ein bisschen Zuckerbrot nachlegt, doch sie kneift nur Muster ins Wachs der Tischdecke und schweigt.
„Die müssten wir dann halt mal aussortieren“, sage ich. „Das belastet ja auch. So viele Dinge. Die brauchst du doch bestimmt nicht alle.“
Papa schwitzt und zittert. „Ich will aber verdammt nochmal nicht ausziehen!“, brüllt er und haut auf den Tisch, dass das Käsemesser zu Boden fällt. „Begreifst du das nicht? Ist das zu viel verlangt, dass du einmal auf meiner Seite bist? Dass meine eigene Tochter auch mal was für mich tut?“
In mir schnurrt etwas zu einem harten Knoten zusammen, nicht wie eine Schnecke, der man zu oft auf die Fühler getatscht hat, sondern wie ein Staubsaugerkabel, wenn man auf den Einzug tritt und aufpassen muss, dass einem der Stecker nicht ans Schienbein peitscht. Ich muss raus, quetsche mich zwischen Tisch und Bank hindurch und schere mich nicht darum, dass ich dabei Papierstapel vom Beistelltisch fege. „Gut, dann warten wir jetzt einfach noch ne Weile, bis das Bein ab ist, bis du mit dem Rollstuhl nicht mehr die Treppe rauf kommst und in deinem Scheißtunnel steckenbleibst. Dann stopf ich dich in eine Zwangsjacke, roll dich raus und ruf ein Entrümpelungskommando.“
Jule und Papa glotzen mich an. Noch nie sahen sie einander so ähnlich. Vier grüne Augen sehen zu, wie ich meine Jacke vom Garderobenständer rupfe. Mit schweren Omamänteln behängt, beginnt er zu schwanken und ich kann ihn gerade noch abfangen, bevor ich unter Persianern begraben werde. Dann schleudere ich meine Schuhe von den Füßen und stopfe sie in die Handtasche.
„Und wenn du nicht mit dem Taxi nach Hause fahren willst, würde ich dir empfehlen, jetzt deinen Arsch zu bewegen“, rufe ich Jule noch zu und verlasse das Haus.
Was ich bei meinem Abgang nicht bedacht habe, ist, dass die Außentreppe auf Feinstrumpfhosen tatsächlich noch glitschiger ist als auf hohen Hacken. Ich eile über die erste Stufe, fitsche über die zweite und stürze über die dritte. Vor allem habe ich überraschend viel Zeit, meine Vision auszubauen: offene Brüche, Hirnfetzen am Rauputz, Josch wirft eine weiße Lilie in mein Grab, obwohl er wissen müsste, dass ich die nicht leiden kann. Dann lande ich auf allen Vieren und erinnere mich daran, wie fies Schürfwunden wirklich brennen. Doch was mich aufheulen lässt wie einen Cartoonkojoten, ist nicht der Schmerz, sondern die Demütigung. Hilflos rolle ich mich auf die Seite und sehe nach, ob Knochensplitter aus Handflächen und Knien ragen. Aber so viel Drama ist mir dann auch nicht vergönnt.
Papa und Jule stehen in der Haustür und starren vieräugig auf mich hinab.
„Hilfe“, sage ich gereizt.
Da setzen sie sich in Bewegung, krallen sich am Geländer fest und hoppeln in einer ungelenken Mischung aus Eile und Vorsicht zu mir hinunter.
„Kannst du deine Beine bewegen?“, fragt Jule.
„Du bist aber auch immer ungeschickt“, sagt Papa. Dann kratzt er mich zu einem handlichen Menschenpaket zusammen und hebt mich hoch.
„Lass mich runter! Du bringst uns beide um!“, zetere ich, während er mich die heimtückische Treppe hinaufträgt. Aber sein Griff und sein Schritt sind fest.
„Wo willst du hin?“, frage ich, als er versucht, sich mit mir durch den Computertunnel zu fädeln.
„Na, in die Stube, aufs Sofa“, antwortet er zwischen zwei Schnaufern.
Da trommele ich mit den Fäusten auf seinen Rücken. „Bist du bescheuert? Die Oma lag da sechs Stunden, bevor du sie gefunden hast. Lass mich jetzt runter! Ich kann selber laufen, verdammt nochmal!“
„Dann leg dich oben auf die Couch. Ich hab den Verbandkasten in meinem Zimmer.“
Die Treppe in die erste Etage ist tatsächlich kein Problem. Das wird erst kommen, wenn sich Krustenpanzer um meine Knie geschlossen haben. Doch zur Sicherheit läuft Jule hinter mir her. Oben wischt sie sich ein bisschen Wasser aus den Augen. „Ich hab mich nur erschreckt.“
Wir bahnen uns einen Weg durch Angelruten, Sportbögen und Waschmaschinenkartons, auf die Papa Zielscheiben geklebt hat. Jule zieht den Flokati auf der Couch glatt, bevor ich mich hinlege. Über mir an der Schräge hängt die Jutepinnwand, darauf unsere Kinderkunst: das Bild mit dem Haus, in dessen Fenster Jule zehn ihrer hundert selbstklebenden Schulporträtfotos gepappt hat, mein Origamikrokodil, eine Maus aus versteinerten Marshmallows. Jule hockt an meiner Seite und streicht mir das Haar aus der Stirn, während Papa im Zimmer nebenan offenbar ein paar Schränke umwirft.
Ich schließe die Augen und denke an das rotäugige Kitz, das im Garten auf der Nase liegt, an die Häkeldecken im Kinderbänkchen und den lieben Herrn Jesus mit seinen Schäfchen über dem Bett. Und ich weiß, dass Papa nicht ausziehen kann, weil er an noch viel mehr Dinge denkt. An die Ententeile, die im Keller bis zur Decke gestapelt sind und für jeden Sammler ein echter Schatz wären: Rückbänke, Kotflügel und Stoßstangen. An die 95er Computer und Röhrenbildschirme, die nicht nur im Erdgeschoss, sondern auch in unserem ehemaligen Gästezimmer darauf warten, dass er sie irgendwann zusammenbastelt und verkauft. Er denkt an den großen Zeichentisch in seinem eigenen Kinderzimmer, den er zu Beginn seines Ingenieurstudiums gebraucht kaufte, und daran, wie erst Oma, dann Mama, dann Jule und ich, dann eine lange Reihe stressiger Freundinnen ihn vom Studieren abhielten, bis er außer dem anonymen Prüfungsamt niemanden mehr fand, der schuld sein konnte, und sich mit fünfzig im sechzigsten Fachsemester exmatrikulieren ließ. Und er denkt an die Bastelarbeiten seiner Schwester Christel: Makrameeeulen und staubige Blumengestecke, die Bilder, die sie malte, bevor sie den einjährigen Johannes bei ihrer Schwiegermutter absetzte und selbst vor einen Lastwagen sprang, weil sie spürte, dass eine neue Welle auf sie zurollte. Es waren die gleichen Wellen, die ihn selbst wieder und wieder von den Füßen rissen. Manchmal gelang es ihm, auf ihnen zu reiten, mit Gischt im Vollbart durch ein Leben voller Möglichkeiten zu surfen. Da spielte er spanische Gitarre, züchtete Cannabis unter Infrarotlampen, reiste im Entenkonvoi nach Italien, liebte meine Mutter und gründete Initiativen, die eines Tages die Waffenindustrie, das Militär und die Polizei abschaffen würden. Doch dann schlugen die Wellen über ihm zusammen, wirbelten ihn im Kreis und spuckten ihn schließlich mit zerschundener Seele in sein Elternhaus zurück. Wieder und wieder entkam er. Wieder und wieder fand er sich an der Wachstischdecke, die Füße unter dem mütterlichen Tisch, das gebeugte Haupt unter den wachsamen Augen des lieben Herrn Jesus.
Mama erzählte mir von seinem letzten Ausbruchsversuch: An diesem Tag kurz nach Jules Geburt stach er Oma das Käsemesser mit der Doppelspitze in den Rücken. Er wollte nachsehen, ob sie ihr Herz wirklich am rechten Fleck trug, wie sie immer behauptete. Da rief sie den lieben Herrn Jesus an: „Nimm mich zu dir, Herr, ich bin bereit zu sterben!“ Doch so sollte es nicht sein. Sie hatte eine dicke Haut und blutete nur ein paar Tropfen. Und so lebten Papa und Oma fortan unter einem Dach und er begann, sich dort mit ihr einzumauern.

Papa rumort noch immer in seinem Zimmer und ich muss ein bisschen heulen. Da hakt Jule ihren kleinen Finger in meinen. „Wir machen das schon.“

 

Diese Geschichte wurde von einem Autor geschrieben, der hier im Forum angemeldet ist, es für diese Geschichte aber bevorzugt hat, eine Maske zu tragen.
Der Text kann, wie jeder andere Text im Forum, kommentiert werden, nach zehn Tagen wird die Identität des Autors enthüllt.

Als Kritiker kann man bis dahin Vermutungen über die Identität des Autors anstellen. Damit man anderen mit einem schlüssigen Rateversuch nicht den Spaß raubt, sind Spekulationen und Vermutungen bitte in Spoiler-Tags zu setzen.
Beispiel [spoiler]Ich vermute, dass der Autor der Geschichte Rumpelstilzchen ist. Der schreibt doch auch immer von güldenem Haar und benutzt so viele Ausrufezeichen![/Spoiler]
Die eckigen Klammern setzt ihr mit der Tastenkombination Alt-gr+8 bzw. Alt-gr+9.
Da dies jedoch kein Ratespiel ist, sind Beiträge ohne Textarbeit, also reine „Vermutungen“, nicht erwünscht.

Viel Spaß beim Raten und Kommentieren!

 
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Hallo Unbekannte/r,
ich will dir mal schildern, wie es mir ging, als ich deine Geschichte las: Ich blieb kleben und kleben und hab meinen Kaffee in einem Zug ausgetrunken, obwohl ich das gar nicht wollte, ich wollte ihn eingentlich Schlückchen für Schlückchen genießen. Aber meine Genusssensoren waren auf etwas ganz anderes gerichtet. Genuss, ich weiß gar nicht, ob ich das so sagen kann. Das war einfach alles so vertraut und in seiner liebevollen Detailschilderung gleichzeitig sehr grausam, was mit all diesen Menschen passiert und wie sie zueinander sind. Deine Geschichte hat mich berührt und mit sich geführt, ich hab gedacht, ich kenn die alle, ich konnte mitfühlen, wie das war (und ist) für die beiden kleinen Schwestern. Es ist nicht leicht mit einem Menschen zu leben, der - und in einer Familie, in der alle ein wenig zerbrochen sind und mit den Rissen weiterleben müssen. Das ist nicht einfach für diejenigen, die hilflos und beobachtend damit umgehen müssen und gar nicht verstehen, was mit den Menschen, von denen sie abhängig sind, passiert.
Ich hab sehr emotional auf deine Geschichte reagiert - ich geb das einfach mal so zu. Ich mag daher jetzt auch nicht in Einzelheiten rumkramen. Da gab es mal was, ok., aber hier ist es einfach so, das ist eine Geschichte, die mich ähnlich wie damals Lolleks Muttergeruch an einem ganz persönlichen Zipfel erwischt hat. Das bleibt einfach.
Eine traurige, bewegende und wunderschöne Geschichte mit einem (zum Glück) etwas versöhnlichen Ende.
Viele Grüße
Novak

Ich hatte heute morgen keine Zeit mehr, aber ich hab schon einen Verdacht. Ich glaub ganz arg, das war feirefiz und ganz vielleicht lollek, die beiden haben es schon öfter geschafft, mich so am Arsch zu packen wie heut früh. Beide lassen es in ihren Texten auch so knuspeln und knirschen und duften und riechen. Spricht nur das Alter dagegen. Ihr beide seid viel zu jung für so eine Geschichte. ;) Trotzdem behaupte ich das mal. Raten macht Spaß!!!

 

Hallo Maskenball,

das ist eine schöne Familiengeschichte mit der richtigen Ausgewogenheit an Humor und Drama. Alle Figuren sind liebens- und hassenswert zugleich. Und es wirkt alles sehr authentisch, weil du Liebe zum Detail zeigst,

was dich natürlich entlarvt! ;) Wenn das nicht Feirefiz ist, fress ich einen Besen! Die Liebe gleichermaßen zu den Personen wie zu den Dingen, die neurotische Ich-Erzählerin, das ist alles soooo eindeutig!

Habe ich mit Genuss gelesen, unter anderem auch, weil es auch in meiner Familie üblich war, die Knochen abzunagen, die man anderen vom Teller nahm. *schauder*

 

Salü Maske,

was für eine Geschichte. Zum Jubeln traurig und zum Heulen komisch. Das alles knuddelt, knorzelt, schnoddert und grumselt herrlich durcheinander und weckt so viele Erinnerungen, da weiss ich gar nicht wo anfangen. Diese Hühnerknochen – nie mehr, nie mehr will ich die essen. Ich rieche sie und hänge gleich meine Nase aus dem Fenster. Und die Wachstischdecke und Omas Haarknoten und die Makrameeeulen, ich könnte die ganze Geschichte hier zitieren um zu zeigen, wie mir das alles gefällt! Aber auch das, was zwischen den Zeilen steht: Geschwisterrivalität, beginnende Krankheit und altern des Vaters, Sorge und Trotz, die mitschwingen, der Muff in allen Ecken, die Vertrautheit zwischen den Dreien: Familie halt, schaurigschrecklichaberwitzigliebevollschön!

Den Flur zum Wasserkasten in der Stube hat Papa in einen Tunnel mit Wänden aus Computerlaufwerken verwandelt. Hier müsste man auch mal einen Stent einsetzten, oder wenigstens mal eine Knoblauchknolle hindurchwerfen.
:D
Einmal platzierte er sogar ein Atkins-Diätbuch so geschickt neben dem Altpapierkontainer, dass sie es finden und damit all ihre Gebrechen heilen konnte.
:lol:
Und ausserdem gefällt mir der Stil: Gedachtes, Gesagtes, Erinnertes, Gegenwärtiges im flüssigen Wechsel. Der farbige Bilder- und Ideenreichtum. Einfach toll zu lesen.

Lieben Gruss,
Gisanne

Die Entenbastelei und Sätze wie dieser: „Dort angelten wir Sardellen, die vor Schreck starben, noch bevor man ihnen mit dem Schraubenschlüssel auf den Kopf hauen konnte.“ lassen mich auf Makita tippen.

 
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Hallo Maske,

diese Geschichte ist ein echtes Pfund. Ein Pfund Freude! Die hat mir außerordentlich gut gefallen. Als Maskenball gestartet wurde, hatte ich so ein wenig die Erwartungshaltung, dass die Texte in dieser Rubrik sehr trashig und schriller würden. Doch für die AutorInnnen scheint doch die hohe Qualität im Vordergrund zu stehen.

Mich hat neben vieler tollen Formulierungen deine feine Beobachtungsgabe beeindruckt, die Liebe, mit denen du mir deine Figuren nahebringst, und der gut dosierte Humor. Geschickt wird die eigenwillige Familienkonstellation nach und nach enthüllt, alles ein bisschen anders, als man es von sonstigen Familiengeschichten gewöhnt ist, nicht so glatte Charaktere, sondern welche mit Ecken und Kanten, mit Marotten und Macken, aber liebenswert und echt. Menschen zum Anfassen! Das halte ich für eine große Kunst, aus Geschichtenfiguren Menschen zu machen. Das ist eine der wichtigsten Zielsetzungen beim Scheiben, wenn man in die Rolle des "Schöpfers" schlüpft. Das kommt alles sehr glaubwürdig rüber, die nostalgischen Rückblicke sind gut gesetzt, aber sie verklären nicht, sondern sie erklären und binden Zusammenhänge.

Und die Dialoge sind richtig gut, charakterisieren exzellent die Figuren und sind mehr als nur Gerede um des Redens willen. Das ist auch eine Kunst, Dialoge so einzubinden, dass sie Story und Personen weiterbringen/weiterentwickeln, und nicht nur zu so einer Selbstzwecklaberei verkommen. Prägnant wäre das, was mir dazu einfiele.

So habe ich diese Geschichte nicht nur einfach gelesen, sondern mich durch die Augen und Gedanken der Erzählerin tief in sie hinein bewegt. Ich bin ganz dicht heran gekommen, an diese Menschen, habe in ihre Gesichter geschaut, gehört, was sie sagen, wie sie es sagen, was sie nicht sagen ...

Es hat mir Spaß gemacht, dabei zu sein, in ihrer Gegenwart, und zurückzublicken in ihre Vergangenheit. Und ich war traurig, als die Geschichte dann zu Ende war. Davon hätte ich deutlich mehr haben können, gern auch einen ganzen Roman ;-)

Manchmal stört es mich bei guten Kurzgeschichten, dass sie nur kurze Geschichten sind.

Ja, tolle Geschichte, lesens- und empfehlenswert und aufgrund dieser beeindruckenden Erzählerstimme wusste ich natürlich von Anfang an, von wem der Text ist ;-)

Rick

 

Hallo Maskierte,

ich dachte, ich sitz' in der Küche von meiner Oma. Gefehlt hat nur noch der Kittelschurz und die Schublade mit Werthers Echten.

So eine liebevolle Geschichte und so reich bestückt mit passenden Details - das kann man nur in ähnlicher Form selbst erlebt haben. Man kehrt zurück in eine andere Welt, in der noch Kühltruhen und Wachstischdecken in den Haushalt gehören. Es ist so gewohnt und doch für das eigene Leben so fern.

Der Erzählton war ein viel humorvollerer für mich als Leser wie die Protagonisten wohl den Alltag tatsächlich erlebt hatten. Man erfährt nichts über die Umstände, wieso die Kinder nicht bei der Mutter leben, das trieb mich schon ein wenig um. Jule und die Erzählerin hatten sicher oft auch ihre liebe Not mit dem Herrn Papa, besonders als Teenies. Dann haben sie sich freigeschwommen. Einige Jahre später wird Papa krank und die Alte-Leute-bevormunden-Ära beginnt. Eine richtige Lösung wird dem Leser nicht geboten, aber wie soll es die auch geben?

Die Problematik mit der Frage, was mit den altgewordenen hilfebedürftigen Eltern passieren soll, ist eine sehr heikle. Dummerweise hören die Alten genauso wenig auf die Jungen wie es früher umgekehrt war. Und noch schlimmer ist die Tatsache, dass einige gar nicht mehr realisieren, dass man ihnen helfen muss, ob sie wollen oder nicht. Viele dieser Gedanken kamen mir zu der Geschichte.

Es gibt von mir aus kaum etwas zu mäkeln. Aber ein paar Dinge sind mir doch aufgefallen, die ich wenigstens anmerken will.

Interessanter Weise hatte ich beim ersten Mal lesen beim ersten Absatz Schwierigkeiten, die Örtlichkeiten einzuschätzen. Ich dachte erst, die Personen machen sich für einen Einbruch in einer verlassenen Villa bereit.
Erst beim Erdbeerpflücken wandelte sich das. Denn was für ein Einbrecher sammelt noch seelenruhig Erdbeeren vor seinem Bruch? Wahrscheinlich kam diese falsche Einschätzung wegen der Frage von Jule, ob sie nicht das Auto bewachen könne.
Und schon beim ersten Satz stolpere ich:

Wir machen das hier Zuckerbrot und Peitsche.
Für mich fehlt da was.

Wir machen das hier mit/wie Zuckerbrot und Peitsche.

Dann hake ich gleich noch zum Thema Titel ein. So ganz klar wird mir nicht, wo ich dieses Zuckerbrot und Peitsche finden soll. In der neuen hübschen Wohnung? Ich kann den Titel nicht so recht in die Geschichte zuordnen.

Also ich verstehe schon die gesetzte Mission, aber innerhalb der Gespräche scheint mir dieses Zuckerbrot-Peitschen-Symbol nicht so recht eingesetzt. Ich seh' eindeutig mehr Peitsche. Wenn sich das Symbol für die ganze Familienbeziehung untereinander anwenden lassen soll, dürfte der erste Dialog nicht so dominant dahin führend sein.

Die Vision: offene Brüche und Hirnfetzen am Rauputz der Hauswand.
Da habe ich auch sehr gestockt. Was ist das denn für eine Protagonistin? Jedes normale Mädchen hüpft Treppen hinunter und zählt einen Reim dazu, oder hat im schlimmsten Falle Angst um ihr Röckchen, wenn sie ausrutschen könnte - und die denkt an einen offenen Schädelbruch.
Gut, das ist inhaltlich schräg, aber formal hatte ich mit dem Die Vision: auch ein Stolperer.
Mein Alptraum z.B. hätte mich viel besser gleich zur Prota geführt. Mit Die Vision: könnte soviel gemeint sein, erstmal.


Wenn wir Pech haben, ist es nicht Buttercreme mit Streuseln sondern ein Barren Kopfsülze.
Das ist so mitten aus dem Leben gegriffen, einfach genial.
den fleischigen Ohrläppchen, die weich waren und mit viel Flaum daran, wie Pfirsiche, die man im Schulranzen vergessen hatte
was für ein herrlicher Vergleich

Rindsrouladen mit dicker Soße und Kartoffelknödeln, die elastisch wie Flummis waren, aber nicht so verwendet werden durften.
was ja nicht heißt, dass man es nicht schon probiert hätte
Zwei Beutelpakete mussten wir aber mit nachhause nehmen, weil Mama nie anständig kochte.
sagte Oma - und die Erzählstimme äußert sich aber nicht dazu.

Dann setzt er sich vor Kopf und beginnt, eine Zigarette zu drehen.
Den Ausdruck kenne ich nicht, wenn ich auch damit die Stirnseite des Tisches in Verbindung bringe.

Papa schüttelt den Kopf und macht böse Schlitzaugen. „Wie kommst du eigentlich darauf, dass es hier um dich geht? Aber das ist typisch. So warst du schon immer. Dabei weißt du genau, dass ich keinen Stress vertrage.“
So mal am Rande gesagt wäre das für mich so der Titelbringer gewesen: Um wen es geht, gehts noch um wen oder nur noch um was? - aber ich sehe auch aus persönlichen Gründen den Fokus in dem Text im Unverständnis der Generationen zueinander.

In mir schnurrt etwas zu einem harten Knoten zusammen, nicht wie eine Schnecke, der man zu oft auf die Fühler getatscht hat, sondern wie ein Staubsaugerkabel, wenn man auf den Einzug tritt und aufpassen muss, dass einem der peitschende Stecker nicht ans Schienbein knallt.

Der Vergleich ist auch wieder sehr gut gewählt, aber ich würde dir vorschlagen, zu überdenken, ob man den peitschenden Stecker nicht weglassen kann und dafür den Einzug etwas dynamischer beschreibt.
Der peitschende Stecker steht ja nur für den schnellen Einzug und nicht als Symbol für den harten Knoten, um den es geht. Da der Satz beim ersten Lesen sicher von vielen nicht gleich 100% verstanden wird, hängt man sich evtl. am Peitschen auf, sieht das als Bild für den Schmerz, dabei ist es ja der harte feste Knoten, der der Protagonistin zu schaffen macht.

Ich hoffe, ich konnte einigermaßen erklären, was ich damit sagen will.

Hilflos rolle ich mich auf die Seite und sehe nach, ob Knochensplitter aus Handflächen und Knien ragen. Aber so viel Drama ist mir dann auch nicht vergönnt.
Herrlich.

Papa und Jule stehen in der Haustür und starren vieräugig auf mich hinab.
Vieräugig gefällt mir hier überhaupt nicht, was soll das auch aussagen? Wenn sie gucken und keiner ein Glasauge hat, müssen sie ja wohl mit vier Augen gucken. Könnte man demnach ersatzlos streichen.

„Hilfe“, sage ich gereizt.
köstlich - bei so was kann ich mehr grinsen wie bei jeder Humorgeschichte hier

Da trommele ich mit den Fäusten auf seinen Rücken. „Bist du bescheuert? Die Oma lag da sechs Stunden, bevor du sie gefunden hast.
noch mal herrlich.

Danke für diese schöne Geschichte,

Makita. Diese außerordentlichen Vergleiche, dieser spitzbübische Humor, das kannst nur du sein.

Falls ich nicht Recht habe, fresse ich keinen Besen, mir aber vor Kummer 5 kg mehr Gewicht an.

 

Hallo,

das ist eine jener Geschichte bei denen mir beim Lesen, wie soll ich sagen, warm ums Herz wird. Schon als sie aus dem Auto steigen, durch den verwilderten Garten stapfen, habe ich eigentlich nicht mehr gelesen, sondern mich selbst in der Geschichte befunden und, wie ein Gespenst hinter den beiden herlaufend, alles miterlebt. Das sind dann so die Geschichten, die mich voll packen. Ich erkenne die Gerüche, die Geräusche, das Ambiente, das Gerede. Ich fühle mich wie in eine alte Wolldecke, voller Katzenhaare und Kaffeeflecke, gehüllt, auf der Bank sitzend, im Kamin blubbert das Feuer vors sich hin, die Familie sitzt um einen herum, man redet oder schweigt, es riecht nach Bratfett und Omas Haarshampoo, nach menschlichen Ausdünstungen. Da findet Leben statt, auch wenn sich die Hauptperson eigentlich am Ende der Lebens-Straße befindet. Und man weiß, das ist jetzt ein Schnitt für alle und irgendwas unwiderrufliches muss passieren. Das ist schmerzhaft und nicht alles worüber man nachdenkt ist gut, manches nur spießig-heimelig, anderes rührend - das ist ein nicht ausreichendes Wort, um das zu beschreiben, was die Erzählerin fühlt, wenn sie an die Oma zurückdenkt, an das Kämmen ihrer Haare, die Gebete bei Tisch, die Ohrfeige. Da gab und gibt es ein Menge Konflikte, natürlich. Das macht eine Familie erst aus, das ist das Leben. Da läuft nicht alles glatt. Aber trotzdem, das ist auch das Zuhause, die Kindheit, das, was einen geprägt hat. Und der Vater ist der letzte, der da noch lebt, der übrigbleibt und wie eine beim Putzen vergessene Spinnwebe in diesem selbstgebauten und doch unerwünschtem Nest drin hockt und jetzt will er, kann er da nicht mehr weg. Das ist sein Leben, auch wenn wenig davon wirklich ideal war. Das Chaos mit dem Computerkram, den er seit undenkbaren Zeiten sammelt, seine ganzen Macken, die rutschige Treppe, der verwilderte Garten, die gehäkelten Tischdeckchen. Das ist – soll ich diesen spießigen, altmodischen, deutschen Begriff wirklich verwenden(?) - Heimat, seine Heimat. Und genau das ist es, was dir in deiner Geschichte auf wunderschöne Weise, ohne aufgesetzte Sentimentalität, ohne Rührseligkeit, in ruhigem und doch Spannung erzeugendem Erzählrhytmus und auch mit der richtigen Portion Humor, verdammt gut gelingt. Diesem ganzen Ambiente, diesem Leben, diesen Gefühlen aller Beteiligten eine erkennbare, erfühlbare, erlebbare Ausprägung zu geben.

Ich könnte noch stundenlang schwadronieren, aber ich würde nicht annähernd die richtigen Worte finden, um zu sagen, was ich beim „Erlesen/Erleben“ empfunden habe.

Einfach nur - Danke für diese besondere Geschichte

Ich habe leider überhaupt keine Idee, wer diese Geschichte geschrieben hat. Dazu kenne ich die potentiellen Kandidaten noch zu wenig. Lass mich gerne überraschen.

Fred B

 
Zuletzt bearbeitet:

Er wollte es erstmal mit einer Knoblauchkur probieren. Das Bein habe sich seither deutlich gebessert, hat er schon am Telefon gelogen.*
Das ist wirklich schön.

Dort hat Oma gewohnt.
Das ist auch toll.
Warum hat noch keiner vermutet, dass die Geschichte von mir ist? Das gibt mir zu denken!

Wir fingen unten an, wo ihre arschlangen Haare dünn ausliefen.
Das ist schon toll, also „arschlang“ hier bei die Oma zu setzen, da muss man erstmal drauf kommen.
Was ist das denn für ein Text? Das ist ja der Hammer.

*Doch das kam für Oma aus Bibelgründen nicht in Frage, zumindest nicht bis zum ersten Schlaganfall.
Alter! Das ist echt sehr gut.

Hier müsste man auch mal einen Stent einsetzten, oder wenigstens mal eine Knoblauchknolle hindurchwerfen.
Auch toll! So ein Rückbeziehen auf etwas im Text. Nick, der Fisch, hat mir mal erklärt, Comedians nennen das Call-Back.

*ach dem Abräumen wurden die übriggebliebenen Hähnchenteile in Margarinendosen gelegt, die in Gefrierbeutel gesteckt wurden, die doppelt zugeknotet und ihrerseits in Einkaufstüten verpackt wurden.
Da hatte ich fast Tränen in den Augen hier, das ist wirklich saukomisch.
Das ist auch sstilistisch, das ist eigentlich der Trick, den ich bei Palahniuk immer seh, wenn man den Eindruck von hysterischer Akribie und Mühsamkeit erzeugen will, immer so die Details mitschreiben halt nicht nur „Dose“, sondern „Margarinendose“, „Gefrierbeutel“, „doppelt zugeknotet“, „Einkaufstüten“ und dann immer die Beiordnung so, das ist wirklich wichtig, man sieht ja als Leser hier richtig die Arbeitsschritte , die Hände, die Dosen. Das ist wirklich ein plastischer Text, und ich denke es leigt dann immer daran, dass man in so einem Text eine klare Struktur von Zeit und Raum hat. Es werden 6 Hühner gekauft, zerhackt, auf das Backblech gelegt, der Saft über die Kartoffeln, dann wird hastig gespeist, die Knochen werden eingesammelt, abgenagt, alles wird gebrochen, gelutscht, das Mark noch ausgesaugt, und dann hier das.
Da kann man sich wriklich jeden einzelnen Schritt gut vorstellen, ich denke das kann man wirklich – man soll ja immer so wenig absolutes wie möglich über Texte sage -, aber das ist doch immer toll. So eine klare Einheit von Raum und Zeit, dass man sich das Leser vorstellen kann, dass man es sieht, das ist doch immer toll.
Das hier ist mal ein Musterbeispiel für Show, don't tell. Das wird immer so abgetan als nervie, spießige Forderung, und dann als Beispiel kommt eine dämliche Beschreibung wie Regen irgendwo dagegentropft statt „Es regnet“ zu schreiben. Nein, show don't tell ist überhaupt nicht spießig und nervig und langweilig,nein, man hätte den Leser ja um das Vergnügen dieses Absatzes bringen können mit einem schlichten: „Oma konnte nix zukommen lassen, das hatte sie noch aus dem Krieg.“
Dann liest man das und sagt auch: Guter Satz, gute Figur, aber tiefer passiert da nix.
Den Absatz sollte man wirklich linken, wenn einer kommt mit dem spießigen Show, don't tell. Nur weil das ständig überall wiedergekaut wird in irgendwelchen leidenschaftslosen Diskussionen und nur weil so viel unter dieses schwammige Motto passt, im Kern ist das eine unheimlich wichtige Forderung.

Früher war es Jule, die mich unter dem Tisch kniff und piekte, bis ich ihr über dem Tisch an den Haaren zog und dafür von Papa ausgeschimpft wurde, der sie nie durchschaute. Bei Oma war das anders, die langte eines Tages über den Tisch und verpasste Jule eine echte Ohrfeige, die uns beide zum Heulen brachte. Als wir Mama die Ohrfeige petzten, sagte Oma, sie habe Jules Wange nur gestreichelt. Wir waren erschüttert: Oma log. Was würde der liebe Herr Jesus dazu sagen?*
Das ist ein so reichhaltiger Text, das hier sind 5 Zeilen und man kriegt tasächlich über FÜNF Figuren etwas mitgeteilt, so ein Puzzlestück. Jule ist die, die unter dem Tisch kneift. Die Erzählerin ist die, die das aushält, aber dann über dem Tisch in die Haare greift. Papa kriegt das nicht mit, sieht nur das, was oben bezahlt. Oma kriegt das mit und kann dieses falsche offenbar überhaupt nicht. Dann heulen beide Schwestern gleichzeitig, also da ist eine tiefe Verbundenheit da. Mutti ist das ausgleichende Element. Und Oma ist schon ziemlich pragmatisch.
Und das auf 5 Zeilen – wie schön! Was ein schöner Text. Da kommen 2 Schwestern zu Papa und sagen – ich vermute mal: Papa, du musst ins Heim. Darauf läuft das ja hinaus, denke ich, und es ist so ein schöner Text, ohne Migräne und ohne Kargheit. Ich muss das auch mal sagen: Ich kann diese migränigen Texte von Leuten, die gerne lesen und studiert haben und viel fühlen und grad mit dem Schreiben angefangen haben, um sich auszudrücken – ich kann die nicht mehr sehen.

Sie versuchte zu erklären, warum Abraham Isaak wie ein Vieh auf den Opfertisch gebunden hatte: aus reiner Liebe und demütiger Gehorsamkeit.
Diese Abraham-Geschichte ist zusammen mit der Hiob-Geschichte immer das Schwerste einem Kind zu erklöären, glaub ich. Der Wechsel im Gottes Bild vom Alten ins Neue Testament und wie man den alttestamentarischen mit dem „neuen“ Gott unter einen Hut bringt und in ein Buch – das sind ja wirklich ersnte Fragen, die dann so am Rand hier behandelt werden.
Wie das immer dann erklärt wird, der Erklärer hat einfach seinen Glauben und kein Theologiestudium und dann: Ja, Gott wollte … prüfen ehm … Gottes Wege sind unergründlich.
Grad weil man, wenn man das zum ersten Mal hört, selbst noch ein Kind ist und dann: Und der Vater hat den da schon auf dem Altar gehabt und mit einem Messer? Und Gott wollte das so? WAS?

*Nur Mama würden wir dort nicht treffen. Das tat der Oma selbst schrecklich leid, uns das sagen zu müssen, aber ohne den lieben Herrn Jesus an der Hand konnte man nunmal nicht fliegen.
Oh Mann, der Text ist ja der Hammer. Ich hab ja wirklich ewig nicht mehr über einen Text so gelacht wie über den hier. Weil man das auch alles so sehen kann, ich kann das alles deutlich sehen. Diese kitschigen Lamm-Jesu-Aufstellholzdinger. Das sind so richtige Kindheitsflashbacks. Die Figuren in der Geschichte werden so alt sein wie ich.

Um nicht der ganzen Armee Freiwild zu sein, nahm Trudchen sich einen General zum Gefährten und brachte schließlich ein Kind unbekannten Namens und Geschlechts zur Welt. Die Ankunft im Westen erlebte es nicht mehr. Und so gebar Trudchen dem Fremden, der mit dem Namen ihrer ersten großen Liebe aus sibirischer Gefangenschaft zurückkehrte, ihr zweites erstes Kind, meine Tante
Hm, das gefällt mir nicht so, wirkt wie ein Fremdkörper im Text. Auch von der Erzählperspektive.

Papa schüttelt den Kopf und macht böse Schlitzaugen. „Wie kommst du eigentlich darauf, dass es hier um dich geht? Aber das ist typisch. So warst du schon immer. Dabei weißt du genau, dass ich keinen Stress vertrage.“
Das ist auch ein toller Absatz, ich dachte, sie schicken ihn ins Heim, aber es ist die Vorstufe „kleinere Wohnung“, und wie hier aus der gelebten Schwesternsolidarität mit diesem einzigen Satz ausgebrochen wird, ist großartig.
Zieh du mal hier ein und kümmer dich um Papa, ich hab derweil mein eigenes Leben.

an denen wir uns bis aufs Blut stritten, während Papa tage- und nächtelang Siedlungen auf seinem Computer baute. Nur zu den Mahlzeiten in Omas Küche machte er Pause: um neun, um halb eins, um drei und um sechs.
Ja, im Text ist natürlich die ungestellte Frage: Warum ist die Oma so wichtig? Haben die keine Mutter? Und offenbar it da was passiert, das ist die Leerstelle im Text. Das hier scheint eine fast schon depressive Phase zu sein, wenn er da Sim City oder Siedler spielt (Wann wird das gewesen sein? 95? 96? Was gab's da? Das erste Siedler kam 93 raus, das zweite 96. Sim City 2000 kam 93 raus. Die Mädchen sind vielleicht 85 geboren und 83. Da ist die Mutter dann früh gestorben, und wenn man davon ausgeht, dass die Geschichte im Jetzt spielt, sind die so Ende 20 rum. Wird der einen ja vorgeworfen, Schule, Praktikum, Volontoriat. Nix festes.
Und die andere: Kind in der 4. Klasse.
Das ist schon ein richtig trauriger Absatz durch die Kinderaugen, dass er da wirklich mit den beiden kleinen Säcken in Urlaub fährt, wohl alleine, und dann hat er Glück und trifft wen und hat wohl ein bisschen Sex und ein bisschen Glück und die Kinder sabottieren das eiskalt. Graben den Jungen ein, sind sicher neidisch.
Ich denke diese Dynamik bei einem Witwer mit Kinder in dem Alter – das ist grausam. Grad mit zwei Mädchen in dem vorpubertären Alter da – wenn man überlegt, man ist da in den Schuhen des Mannes – ich weiß auch nicht, wie man sich da verhalten sollte. Da hast du ja 10 Jahre Hölle vor dir. Es ist kein Wunder, dass die Oma dann so wichtig wurde. Der Vater scheint auch keiner zu sein, der dann Nine-to-Five Arbeitsalltag hat, sondern – ja, wie es da steht. Bis aufs Blut.
Ich denke das ist arg, wenn man so Verhältnisse mitgemacht hat – als Kind-, ohne sie wirklich durchschauen zu können; Und dann bleiben die Verhältnisse ja so, die sind ja passiert in der Erinnerung, aber man selbst ist nicht mehr das Kind, sondern wächst und kriegt einen neuen Blick darauf. Und kann das, wenn's gut läuft, auch mal aus einer anderen Perspektive sehen. Das ist das Trauma der heutigen zeit, es ist kein Schützengraben, es ist keine Depression, sondern es ist ständig die Kindheit, die Patchworkkindheit, die Tragik; der gewandelte Blick auf die eigene Kindheit.
Bei dem Bachmannpreis letzten Jahres war das der große, implizite Vorwurf der Kritiker an die Autoren: Ihr habt doch nichts erlebt, ihr habt doch keine existentielle Erfahrungen gemacht, keine Schlüsselerlebnisse, ihr schreibt doch nur über eure Kindheit. Da gab's dann einen Text: Papa beerdigt meinen Hund; und der nächste Text: Ich spiel mit dem Arbeitermädchen von nebenan kindliche s/m-Spiele. Und die erste Liebe; und die erste Liebe und die erste Liebe.
Ich denke das sind die zwei großen, aktuellen Stränge. Eskapismus mit Schwertern, Pistolen, Zauberstäben und Vampiren – oder die Kindheit. Und dieser große Trend aus den USA Young-Adult-Novels, der mixt halt beides und gießt das schön flach aus.
Egal.

Papa rumort noch immer in seinem Zimmer und ich muss ein bisschen heulen. Da hakt Jule ihren kleinen Finger in meinen. „Wir machen das schon.“
Ach! So ein Nicht-Ende, wie trarugi. Ich hatte mir jetzt ein tolles Ende gewünscht,und da lässt mich die Geschichte im Stich. Das geht dann nicht, also das Ende ist dann schon enttäuschend, man hat doch diese tolle Sache, dass die Erzählerin – eine tolle Figur – diese große, hartherzige Szene macht: Dann wart ich halt, bis du verreckst und dann räum ich hier alles aus! Das ist das Äquivalent zu: Dann kommst du ins Heim!
Das ist ja die Dynamik in der Familie. Mit Sicherheit hat der Vater seinen Töchtern gedroht: Mach, oder du kommst ins Hei.
Und jetzt, 20 Jahre später, hat man das umgedreht. Und fürmich die schönste Szene ist dann, wenn sie sich fast wünscht, sich die Haxen gebrochen zu haben (mit der weißen Lilie ins Grab), nur um aus dieser Schmach da rauszukommen, nach der dramatischen Szene keinen Abgang hinzukriegen.
Und dann ist das ja ganz klein, dass der gebrechliche Vater sie auf den Arm nehmen und durch die Wohnung tragen kann. Und dann will sie aber nicht auf das Sofa, weil da Oma sechs stunden tod gelegen hat. Also wie reflektiert die Menschen in der Geschichte sind, wie wachsam dem Leben gegenüber und ihren eigenen Gefühlen, das sind schon außergewöhnliche Frauen dort, und die Oma war das auch und auch der Vater – diese Milde ihm gegenüber.
Vielleicht ist so ein Aufwachsen ja auch für was gut? Kinder von Alkoholikern sollen oft empathisch hochbegabt sein. Verkorkste Biographie ist gut für den Schaffensprozeß später - glückliche Jahre sind verlorene Jahre, ist das nicht von Proust?

Ich hab mich das auch gefragt: Was macht der Vater? Was hat der gemacht? Er ist alt geworden, ohne je erwachsen geworden zu sein. Ohne je irgendeine Richtung in sein Leben bekommen zu haben. Das macht mich traurig.
Ich will dir den Tag verderben, aber nur ganz kurz: Das ist dasselbe wie die rothaarige aus How i met your mother, deren Vater ist auch ein Tunichtgut, der ständig davon phantasiert, brettspiele zu erfinden, der dann aber in so einer „Großvaterrolle“ durchaus seine Stärken hat.
Das wär ja für mich noch eine spannende Frage gewesen: Wenn man sagt, dass sich Frauen als erste Freunde, als erste Männer, Abbilder ihres Vaters suchen – wer ist dieser Josch, und wie tickt er?
Nochmal zurück: Ich hatte viel Freude an der Szene, wenn der Vater sie nochmal trägt und tragen kann. Und in der Erzählerin tickt a sowas gegeneinander, dass sie nicht wie ihr Vater sienwill, sondern sie will sich Problemen stellen, und Realitäten sehen; aber auf der anderen Seite – in diesem Haus, das so voll ist von ihnen und gegen das sie sich mit ganzer Kraft wehrt – das lädt dazu ein, alles zu verdrängen. Es heißt dann: Du hast keine Rente, wovon willst du das bezahlen? Die Mutter ist völlig verschluckt – sie muss ja fast gestorben sein, warum hätte sonst der Vater das Sorgerecht? Oder ist sie wirklich auf und davon und wirklich verschwunden? Ich weiß es nicht. Ich hab fast erwartet, das kommt als großes Finale, aber der Text sirrt dann aus mit der Anekdote über den vater, da zurrt man etwas fest, die Figur des Vaters, das hätte es für mich nicht gebraucht.
Also das Ende … das gefällt mir nicht. Das Ende, die Komposition des Endes, das was passiert, nachdem er sie trägt, und dieser eine Absatz mit Oma in Ostpreußen – ansonsten: Richtig starker Text. Ganz toll!
Wenn man das noch ausbauen will: Was ist mit der Mutter? Tickt Josh wie der Vater? Konflikt zwischen Erzählerin und Jule.
Und dann das Ding irgendwo einschicken und was gewinnen. Der Text ist wirklich der Hammer. Da kann man auch mal richtig mit rausgehen. Weiß nicht, wieviele Leute es geben sollte, die in der Qualität schreiben können. Und so ungeordnet, viele tolle Autoren machen dann ja nach Schema F und auf den Leser mundgerecht zu und so sehr domestiziert, also viele wirklich gute Autoren, legen sich da selbst sehr Zügel an, und hier in dem Text, denke ich, ist das nicht. Und es ist trotzdem durchdacht und feingliedrig und filigran. Bei einem Gemälde würde man dann sagen, dass der Künstler noch Feinarbeit geleistet hat, im Hintergrund, in den Details! Das ist toll!

70% Feirefiz. 25% Möchtegern. 5% Irgendein irres Alter Ego von wem? Fight-Club-mäßig? Ist jemand in letzter Zeit häufiger vor seinem PC aufgewacht und hatte ein Text-Dokument offen? Irgendwie sowas?
Also, wenn das von wem anders ist, muss ich anfangen dessen Geschichten zu lesen.

 

Hallo Maske

Jule sitzt auf der Beifahrerseite wie ein Dummy vorm Crashtest.
„Kann ich nicht lieber das Auto bewachen?“
„Nein, heute müssen wir zusammenhalten.“

Finde das einen tollen Einstieg, der mich sofort in die Geschichte gezogen und Lust auf mehr gemacht hat. In diesen beiden Dialogsätzen wird schon unheimlich viel transportiert, ohne Umschweife erfährt man etwas über die Situation und die Personen.

Nur die Beine werden immer spindeliger,

"spindeliger" - tolles Wort.

Wenn wir Pech haben, ist es nicht Buttercreme mit Streuseln sondern ein Barren Kopfsülze.

:lol:

Unter den Polstern ist die Bank aufklappbar. Als ich zum letzten Mal hineingeguckt habe, auf der Suche nach Schleifen für eins meiner Kostümprojekte, lagen darin Häkeldeckchen, Margarinenbecher und Gummibänder.

Die Detailverliebtheit des Textes und die eigenen Erinnerungen, die beim Leser damit geweckt werden, sind jetzt schon öfters erwähnt worden - ich schliess mich da gern an. Im Ernst, ich bin auf genau so einem Ding auch in der Küche meiner Grosseltern gesessen, nur dass da auch Buntstifte drin waren. Der Text ist mit so vielen liebevollen Details gespickt, das ist echt Wahnsinn. Auch später, mit diesen Jesus-Geschichten, der barmherzige Samariter - ja, so war das auch bei meinen Grosseltern.

Als Kinder stritten Jule und ich uns darum, wer Oma kämmen durfte, während sie auf dem Armlehnenstuhl thronte.

"thronte" ist super hier.

Hier müsste man auch mal einen Stent einsetzten,

einsetzen

Aber er hatte ihren Rollator ausgemessen, links und rechts sogar noch fünf Zentimeter Manövrierspielraum draufgeschlagen.

Da musste ich lachen, weil ich mir das richtig vorstellen kann, wie der Bastler da praktisch denkt und gleich mit dem Meterstab um den Rollator herumwuselt und einen "Manövrierspielraum" berechnet.

Das ist sehr liebenswürdig beschrieben hier, später kippt der Text dann ins Melancholische, mir hat diese Mischung sehr gut gefallen. Ich kann da richtig mitfühlen mit dem Vater, stelle ihn mir im Grunde als herzensguten Mann vor, der aber doch nicht so richtig vom Fleck kommt, zwar Träume hatte, diese aber nie verwirklichen konnte.

In der Küche kochte sie tolle Sachen: Rindsrouladen mit dicker Soße und Kartoffelknödeln, die elastisch wie Flummis waren, aber nicht so verwendet werden durften.

Auch ein toller Satz, finde ich. Da schwingt bei jedem Satz noch eine Situation mit, das sind sehr lebendige Bilder dieser Familie.

Und so gebar Trudchen dem Fremden, der mit dem Namen ihrer ersten großen Liebe aus sibirischer Gefangenschaft zurückkehrte, ihr zweites erstes Kind, meine Tante.

"zweites erstes Kind" finde ich auch toll.

Nur der Platz am Fenster blieb leer und der Herr Jesus war jetzt nicht mehr Gast sondern Familienoberhaupt.

Ich merke, ich zitiere bald jeden dritten Satz, aber gerade die erste Hälfte ist auch grandios geschrieben. Auch hier wieder, was alles in diesem einen Satz mitschwingt, Herr Jesus als Familienoberhaupt, ja, da kann man sich vorstellen wie es zuging in dieser Familie nach dem Tod des Vaters. Auf den anschliessenden Satz könntest du dann auch beinahe verzichten, das sagt eigentlich dieser Satz schon alles aus.

Das ist eine gute Wohngegend hier, mit vielen jungen Familien. Und es wäre sehr praktisch. Ihr könntet unten einziehen und ich würde oben bleiben. Ich kann auch auf die Kinder aufpassen, wenn ihr arbeitet.
[...]
Doch weil mir keine gute Lüge einfällt, sage ich schließlich die halbe Wahrheit:

Jetzt geht es langsam ans Eingemachte - was der Vater da vorschlägt, ergibt aus seiner Sicht sicherlich Sinn, auch seine Argumente sind sicher nicht schlecht, aber es ist natürlich der Albtraum vieler junger Eltern. Das ist ein ganz schwieriger Spagat, den die Erzählerin da machen muss - auf der einen Seite will sie den Vater ja nicht abschieben, nein, sie möchte ihn in einer hübschen kleinen Wohnung unterbringen mit Balkon und so, man möchte ja, dass der eigene Vater es schön hat - aber ihn permanent um sich herum, im selben Haus? Wohl eher nicht. Nur wie sagt man das, ohne verletzend zu sein? Vor allem, wenn dann noch ein solcher Vorwurf kommt:

Wie kommst du eigentlich darauf, dass es hier um dich geht? Aber das ist typisch. So warst du schon immer. Dabei weißt du genau, dass ich keinen Stress vertrage.

Im den letzten Abschnitten erfährt man dann ein wenig mehr über den Vater, es sind aber mehr so Schemen, die man sieht - der Krankenhausaufenthalt "zur Erholung", das ewige Studium, der Selbstmord der Schwester, diese "Wellen", die wohl auf Depressionen schliessen lassen. Hier ändert sich das Bild des Vaters, wie ich es zu Beginn hatte, und, wie gesagt, hier kippt die Geschichte mehr und mehr ins Melancholische, Tragische - es tun sich immer mehr Abgründe auf hinter diesem zu Beginn so normal wirkenden Familienalltag. Mir gefällt, dass hier vieles nur angedeutet wird, auch das Schicksal der Mutter - es passt zum Text, finde ich.

Papa rumort noch immer in seinem Zimmer und ich muss ein bisschen heulen. Da hakt Jule ihren kleinen Finger in meinen. „Wir machen das schon.“

Ja, mit dem Ende bin ich auch nicht so glücklich - es hätte mich schon noch interessiert, wie dieser Besuch denn nun ausgegangen ist. Der Text bricht mir hier zu abrupt ab. Auch dieses "Wir machen das schon" - was genau meint Jule hier? War sie zuvor doch keine soo grosse Hilfe. Hat sie da schon eine konkrete Idee, oder möchte sie der Schwester eher allgemein Mut zusprechen (vermutlich letzteres)? Ich hätte diesen Text gerne noch weiter gelesen, also wenn ich sage, mir bricht der zu schnell ab, kann man das durchaus auch als Kompliment auffassen :).

Gut, also ich hab das wirklich gern gelesen, wie gesagt, eine schöne Mischung, der Text bietet tolle Details und sehr lebendige Bilder. Dahinter wird eine sehr traurige Familiengeschichte angedeutet. Hab ich wirklich gern gelesen.

Wäre Rick nicht schon an der Reihe gewesen, hätte ich auf ihn getippt, weil er neulich schonmal einen Generationenkonflikt thematisiert hat, wenn auch von anderer Art. Lollek kann ich mir gut vorstellen, weil er auch gerne detaillreiche Familiengeschichten schreibt. Aber irgendwie glaube ich, der Text ist von einer Frau, von der Sprache könnte ich mir sowohl Möchtegern als auch Fliege selbst vorstellen.

 
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Kaum ist man mal ein paar Tage im unverdienten Urlaub, geht hier sowas ab...:hmm:

Hallo Maske,

das ist sicherlich eine sehr huebsche Geschichte. Man merkt auf jeden Fall, dass da viel Liebe und Muehe drinsteckt. Ich hab fast ein bisschen Angst, darin herumzustochern, weil ja doch heikle Themen angesprochen werden, die mir sehr persoenlich erscheinen. Und es ist schon sehr schoen gemacht - mit Huehnern und Essen allgemein kriegt man mich ja immer :D Aber die Wirkung beruht halt auch sehr auf diesem Wiedererkennungs- und Nostalgieeffekt, das merkt man ja auch an den Kommentaren. Und wenn man wie ich keine wichtige Omafiigur in seinem Leben hatte, kann das da nicht so richtig andocken. Also wie gesagt, ich find es schon schoen und liebevoll, ich kann die Schreibtechnik da auch auf jeden Fall wuerdigen, aber es packt mich nicht so richtig. Vielleicht auch, weil mir die Figuren ein bisschen typisch sind. Also die Oma ist ja wirklich so eine Archeoma, die kocht und betet und kein Essen wegschmeisst wegen den Kriegserlebnissen. Und die aeltere Schwester ist eine typisch aeltere Schwester, die Verantwortung uernehmen will und gegenueber der juengeren Schwester und dem Vater dann so ne Mutterrolle uebernimmt. Ich glaube nicht mal, dass das so nicht laeuft, Omas sind wahrscheinlich tatsaechlich so, und gerade Kinder von gestoerten Eltern uebernehmen ja dann oft die Elternrolle. Das kommt fuer mich besonders schoen da zu tragen, wo sie ihn im Auto nicht enttaeuschen will. Ihre Schwester reagiert wie ein Kind und sie will ihn schonen. Das ist schon sehr muetterlich. Aber so richtig neu ist diese Erkenntnis, so schoen sie auch umgesetzt wird, halt nicht. Die Figur der Mutter finde ich auch etwas komisch. Die schrabbt da immer so am Rand entlang und verschwindet dann im Nirvana. Da haette ich sie vielleicht direkt rausgelassen. Ist bei der Geburt der zweiten Schwester gestorben oder so. Und der Vater, der ist fuer mich die ungewoehnlichste und interessanteste Figur in dieser Geschichte. aber ich versteh nicht so recht, was jetzt genau mit dem abgeht. Depressionen und allgemeine Verpeilthet haben die andern ja vermutet, aber dass er sich da von der Polizei verfolgt fuehlt und der Oma das Messer in den Ruecken sticht. Das ist ja nochmal ne ganz andere Nummer. Das war mir irgendwie zu viel. Das haette ich mir leiser gewuenscht.
Ein anderer Grund, warum diese Geschichte mich vielleicht nicht ganz so tief beruehrt hat wie die anderen ist auch, dass ich oft das Gefuehl habe, die ist sehr auf Wirkung gebuerstet, mit diesen niedlichen Kindheitserinnerungen. Und wenn ich das Gefuehl hab, eine Geschichte will mich anfassen, mache ich oft einfach dicht. Da war ich sehr froh, um den Humor darin, der das ein bisschen gemildert hat. Der ist wirklich gut vom Timing her und lockert dieses ganze Drama so ein bisschen auf, sonst waer's halt ne richtige sob story. Besonders gut haben mir da uebrigens die leiseren Sachen gefallen, nicht der Cartoonkojote, sondern diese Juxtaposition von Huehnersuppe und Hueneraugen, Huehnerteilen und Ententeilen.

Also ich will die Geschichte gar nicht schlecht machen. Weil man merkt, dass da echt viel drinsteckt, Muehe und Liebe. Und sie ist auch sehr ordentlich geschrieben. Nur braucht man glaub ich besondere Anknuepfungspunkte, um die richtig geniessen zu koennen und die hab ich leider so nicht. Und ja, das Ende ist wirklich lahm, dafuer find ich das Wort Makrameeeulen super ;)

Also ich glaub, der Text ist von Fliege. Weil die ihre Figuren auch so liebt und auch gerne Details pinselt. Und gerade im letzten Copywrite hat sie gezeigt, dass sie auch gerne und sehr gut lustig schreiben kann, mit Dialogen auch. Und dieser Ausbruch der Schwester, der erinnert mich an diesen Ausbruch der Frau bei diesem Krimiwochenende. Also das wuerde schon passen. Aber es kann natuerlich auch sein, dass ein Mann hier versucht, ob er mit der weiblichen Erzaehlstimme durchkommt. Da deuten schon die Highheels und dicken Titten der Protagonistin drauf hin ;). Und dann waere mein Tipp Lollek. Weil es einfach in seine Beschaeftigung mit Familien und Geschwisterrivalitaet hineinpasst, weil es so professionell geschrieben ist, weil so viel Essen und gemuetliche Oma drin vorkommt, weil es sehr lustig ist und weil es mir an ein paar Stellen ein kleines Schippchen zu deutlich wird. ;) Und vom Alter kommts auch hin!
Mir ist grad eingefallen: Es koennte auch apfelstrudel sein. Ich hab grad noch mal "Mischa weint" gelesen, und da geht sie auch ziemlich hart mit der Protagonistin um, laesst sie grausam sein. Uuund: Es kommen "knubbelige Knie" drin vor (Beweisstueck A)!

Aber auf jeden Fall eine gut gemachte Geschichte mit huebschen Details.

lg,
fiz

PS: Ich hab jetzt so viel Zeit mit diesem Text zugebracht und muss diesen Leihomputer gleich verlassen. Deshalb komm ich jetzt gar nicht mehr dazu, die Kommentare zu meiner eigenen Geschichte zu beantworten. Folgt die Tage.

 
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Liebe Maske,
mir ist noch was eingefallen zu deiner Geschichte.

Papa und Jule stehen in der Haustür und starren vieräugig auf mich hinab.
Der Satz drückt für mich so wunderbar das Starren und Staunen derjenigen aus, die auf einen herabglotzen. Wenn man da unten liegt, sich weh getan hat, nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll, dann sind die Köpfe und Augen der Beobachter gar keine einzelnenTeile mehr, sie verlieren ein bisschen die Individualität, verbinden, vereinen sich zu einem gemeinsamen Glotzen. Und vieräugig drückt das perfekt aus, ein vieräugiges Glotzmonster.

Dieser Text hier ist für mich, egal wie humorvoll und witzig er in seinen Detailschilderungen ist, die Geschichte einer traumatisierten Familie. Die Geschichte der Weitergabe eines Traumas von einer Generation an die nächste. Ich brauch gar nichts über die Kriegsenkeldebatte lesen, ich muss nur diesen Text lesen, dann weiß ich Bescheid. Und die Kraft und die Eindringlichkeit, die gewinnt der Text darüber, dass diese Thematik mit sehr sinnlichen und vorstellbar machenden Details verknüpft ist. Dann stinkt eben die Sülze und quaddert und die Hähnchenknochen krachenund das Lamm Jesu nickt einem zu und dazwischen riecht es nach Himmel und Erde, wenn die Äpfel in der Pfanne brutzeln. Die Oma ist noch im Krieg schwer traumatisiert worden. Sie hat überleben müssen, Dinge tun müssen, die einem heutzutage das Herz zusammenziehen würden, es musste ja weitergehen, sie hat auf Überlebensmodus geschaltet. Kinder aber, die von jemandem groß gezogen werden, der seine Dämonen nur einsperren kann zusammen mit einem Herzjesulein, von jemandem, der seine eigenen Traumata nie bewältigt hat, diese Kinder werden selbst traumatisiert. Den Rest übernehmen dann die Bibelgeschichten mit der schrecklichen Kindsopfergeschichte, die bigotte Moral (der Kommentar der Oma zur Mutter) oder das Einsperren im Keller. Beide Geschwister, der Vater und seine Schwester sind/waren depressiv und wie ich dem Text entnehme, schwer depressiv. Bruder und Schwester (also Vater und Tante) haben versucht, sich davon zu befreien und sind doch jeder auf seine Weise daran gescheitert. Er der Vater hat seine Mutter attackiert und sie nach dem Tod "vergessen". Auch die beiden Enkel, also Jule und die Icherzählerin haben an diesem schrecklichen Familienschatz zu tragen. Dieser Fluch, das Trauma, die Depression, das ist von einem zum anderen weitergegeben worden. Man spürt es, wenn die Icherzählerin davon berichtet, wie oft sie allein blieben und sich selbst versorgen mussten, wie sehr sie um die Liebe des Vaters (und aus Rache für die Mutter) kämpften, dass sie den fremden Jungen bis zum Hals eingruben. Oder wie sie den Vorwurf des Vaters, sie sei eigennützig, empfindet. Oder die Festlegung der Rollen.
Wenn man den Anfang des Textes sieht: Zuckerbrot und Peitsche machen, sagt da die Icherzählerin, da ist sie auf die böse Rolle festgelegt - oder anders ausgedrückt, die Verantwortungsträgerin. Und die beiden Schwestern halten eben nicht zusammen, sie müssen sich erst absprechen, sich zusammentun, da gibt es keine echte Schwesternsolidarität, sondern Rollen. Und als die Icherzählerin auf die Schnauze fliegt und ihr Vater sie trägt, da kippt das alles ein bisschen, dieses Festgelegte. Da hakt dann die Kleine der Großen den Finger ein und aus dem Du wird ein Wir.
Und von daher sehe ich das Ende des Textes nicht als abrupt oder als etwas Fremdes an, sondern für mich ist es stimmig. Es ist hoffnungsfroh, weil zwischen den beiden Schwestern etwas passiert. Etwas Tröstliches.
Ich denke, dass man den Text und Teile des Textes vor einem ganz persönlichen Erfahrungshintergrund sieht - meiner ist eben anders als eurer. Oder wie fiz es sagte, vielleicht funktioniert der Text besonders gut, wenn man Ähnliches auf die eine oder andere Weise erlebt hat. Wie auch immer. Das Verhalten der beiden Schwestern zueinander am Anfang und am Ende der Geschichte ist der Rahmen, ist die Klammer, die den Besuch und das Aufblättern all der Ereignisse und Familienbilder hält.
Ich bin froh über das Ende, weil es tröstet und so einen kleinen Hoffnungsschimmer anzeigt, dass eine Familie doch aus diesem Kreislauf entkommen kann.
Viele Grüße noch einmal von Novak

 

Von mir gibt's einfach nur ein dickes Lob.
Du hast mein Herz berührt und mich dabei tief in die Familiengeschichte hineingezogen, so dass mir am Ende meine eigenen vier Wände nach dem Wiederauftauchen fast etwas fremd vorkamen.

Er konnte nicht richtig sprechen und als er über dem Nachtisch einschlief, aß Jule seinen Milchreis auf.
Da musste ich gleichzeitig aufgluggsen und den Klos schlucken, das haut einfach rein, - eigentlich schon die ganze Zeit. Ach, ich weiss nicht, wie ich es sonst ausdrücken soll. Da sind so viele subtilen Feinheiten, vielleicht erkennst du auch so meine Begeisterung für diesen Text.

In mir schnurrt etwas zu einem harten Knoten zusammen, nicht wie eine Schnecke, der man zu oft auf die Fühler getatscht hat, sondern wie ein Staubsaugerkabel, wenn man auf den Einzug tritt und aufpassen muss, dass einem der peitschende Stecker nicht ans Schienbein knallt.
Das ist so aus dem Leben - wie kommt man auf solche tollen Vergleiche? Klasse!

Dann lande ich auf allen Vieren und erinnere ich mich daran
ein ich zuviel.

An die Ententeilen, die im Keller bis zur Decke gestapelt sind und für jeden Sammler ein echter Schatz wären:
Ententeile

Einen kleinen Holzsplitter hab ich mir eingefahren:
Wenn ich es richtig verstanden habe, rutscht die erwachsene und "korpulentere" der beiden Schwestern auf der Treppe aus, und der Papa (Zitat: "Das Bein habe sich seither deutlich gebessert, hat er schon am Telefon gelogen ... und stakst voran in die Küche.") hat genug Kraft, sie anschliessend nach oben zu tragen? Das war die einzige Stelle, die mich kurz rauswarf.

Ich möchte gar nicht raten, wer das geschrieben hat, ich lass mich überrachen.
Vielen Dank für die gute Unterhaltung, liebe Maske.
Gruss dot

 
Zuletzt bearbeitet:

Moin Maske,
das sind wunderschöne Szenen, liebevoll und eindringlich beschrieben. Sie haben mich als Leser wirklich mit ins Geschehen gezogen und ließen mich am Küchentisch mitsitzen. Super! (meinetwegen auch fantastisch)

Gestolpert bin ich dann über diesen Satz:

Papa schüttelt den Kopf und macht böse Schlitzaugen. „Wie kommst du eigentlich darauf, dass es hier um dich geht? Aber das ist typisch. So warst du schon immer. Dabei weißt du genau, dass ich keinen Stress vertrage.

Wie alt ist bitteschön denn Papa. Auch wenn er nie erwachsen geworden ist, ewig an seinen Enten und Computerteilen rummontiert hat und trotzdem nie damit auf einen grünen Zweig gekommen ist, kann ich mir diese Reaktion bei einem erwachsenen Mann (ich schätze ihn in der Szene mal auf siebzig), der schon einiges im Leben hinter sich hat, nicht vorstellen.
Dass dann in der Vergangenheit noch eine ähnliche Situation von dir ausgegraben wird, macht es nicht erklärbar – im Gegenteil, es kam mir wie eine nachgereichte Erklärung vor:

Mir geht’s eh nicht gut im Moment, da habe ich euch mitgenommen, um mich aufzumuntern. Jetzt geht’s mir dank euch noch viel beschis-sener. Ich hätte nicht gedacht, dass ihr so egoistisch sein könnt.

Natürlich geht es um die Ich-Erzählerin, wenn Papa fordert, sie solle ihr gesamtes Leben umstellen, um ihm seine Illusion eines selbstbe-stimmten Lebens nicht zu rauben.

„Begreifst du das nicht? Ist das zu viel verlangt, dass du einmal auf meiner Seite bist? Dass meine eigene Tochter auch mal was für mich tut?“

Entweder ist Papa senil (was mir nicht gewollt zu sein scheint) oder ich habe etwas überlesen. Mit dreizehn ist sie zum letzten Mal mit ihm in den Urlaub gefahren – scheinbar hat sich ihre Mutter früh von ihm getrennt und sie hat Papa nur am Wochenende und in den Ferien erlebt – sprich: so richtig viel war er nicht für sie da und jetzt stellt er solche verqueren Forderungen auf? Das bekomme ich nicht zusam-men.

Das Ende ist mir dann zu abrupt – sie fällt, ein paar Erinnerung (wieder wunderschön beschrieben) und dann ist die Luft raus.
Also, ich hätte mir etwas mehr an Auseinandersetzung gewünscht, nicht gradlinig und ausschließlich mit Argumenten, nein, in der Form wie es in der ersten Hälfte passiert. Papa zieht sich schmollend zurück, Tochter kommt auf ihn zu, es knallt, Vorwürfe (von beiden Seiten und gespickt mit der Vergangenheit) werden durch den Raum ge-schmettert, Abkühlung, erneute Annäherung, die Schwester kommt mit hinzu und dann vielleicht ein offenes Ende und nicht so versöhnlich wie bei dir.

Vielleicht ist der Stoff zu viel für eine Kurzgeschichte, ich weiß es nicht. Diverse Erinnerung an den Vater waren nur als Gedankenfetzen vorhanden und wirkten auf mich, als wolle der Autor die Figur noch interessanter und logischer machen. Mir war das aber zu schnell und dadurch zu klischeehaft.

Also, super Geschichte, der ich noch mehr Seiten gönnen würde und etwas mehr nachvollziehbare Reaktion vom Vater.

Glückwunsch zur Geschichte!

Herzlichst Heiner

 

Liebe Maskenträgerin,

das ist eine Geschichte der schönen Worte. Und der schweren Erinnerungen. Das sind keine Erinnerungen, die ein Autor in die Köpfe seiner Figuren gesteckt hat. Das sind Erinnerungen, die die Figuren selbst haben. Das liest sich wie eine eigene Erinnerungen, als hätte man etwas vergessen und erinnert sich nach der Lektüre wieder daran. Leider habe ich gar nicht so viel Zeit, aber ich wollte trotzdem einen kleinen Kommentar hier lassen. Wie das geschrieben ist: Als hättest du einen Blumenstrauß pflücken wollen, die Worte die Blumen, die Geschichte der Strauß. Statt irgendwelche Blumen zu pflücken, die irgendeinen Strauß ergeben, bist du über alles gestolpert und hast dir nur die schönsten von allen ausgesucht. Im Moment ihrer schönsten Blüte hast du sie dir geklaut. So möchte ich das nennen.

Drei Beispiele, und ich denke der Zauber deiner Zeilen liegt ganz wesentlich in den Verknüpfungen: Styroporköpfchen, Schlafzimmerspiegel, Kuchenfetzen, Kristallteller, usw…

Wenn Oma die nicht gerade auf ihrem Knötchen trug, saßen sie auf Styroporköpfen ohne Augen vor dem Schlafzimmerspiegel.
Jule verteilt Kuchenfetzen auf Kristallteller, und Papa stellt die Kaffeekanne auf die Wachstischdecke.
An der Fotowand hängt ein Sepiapapa mit kurzen Hosen und knubbeligen Knien.

Und ein Beispiel für die Lebendigkeit, wie lebendig dein Text ist:
Sobald wir aufgegessen hatten, sammelte Oma unsere Knochen auf ihren Teller, nagte Sehnen und Knorpel ab und brach schließlich die Röhren auf, um das Mark herauszusaugen.

Stolpersteine sind mir keine aufgefallen. Jedenfalls keine, die noch nicht bemängelt wurden. Ich weiß, mein Kommentar ist eher unnütz, aber vielleicht reiche ich später noch etwas nach. Ich empfinde deine Erzählung nämlich nicht uneingeschränkt als fantastisch. Die Sprache schon.

Beste Grüße und bis bald!
markus.

feirefiz

 

Ja, ein toller Text. Allerdings fehlte mir, wie bernadette, die Kittelschürze. Aber Hähnchen auf dem Backblech, das kenne ich. Ist wohl ein Rezept noch aus der Römerzeit. Ja, und den Armlehnenstuhl kenne ich auch. Ist wohl Standard bei Omas. Damit sie leichter aufstehen können. Denn solange sie aufstehen und alleine aufs Klo gehen können, ist alles in Ordnung. Danach erst gibt es Drama, das tagtägliche. Das hier aber nicht thematisiert wurde. Wäre wohl zu viel verlangt bei all der Nostalgie, die alle Herzen schmelzen lässt. Skurriles zu erzählen ist leichter, sorgt für Lacher, macht es angenehmer, sich zu erinnern.

Dass ein alter Mann mit spindeldürren Beinen, dem kurz zuvor krankheitshalber ein Stent ins Bein eingesetzt werden sollte, eine auf dem Boden liegende erwachsene Frau, die schon mit fünfzehn „was zum Anpacken“ war, hochheben und in den ersten Stock tragen könnte, bezweifele ich aber. Und das Motiv, dass sich eine Frau einen Russenoffizier angelt, um von den vielen Soldaten verschont zu bleiben, das kenne ich aus einem Film: Anonyma - Eine Frau in Berlin. Nur war der nur ein Major oder so etwas, kein General wie in dieser Geschichte. Günstig auch, dass das Besatzungskind nicht weiter störte und bald starb.

Und ja, wie einem das Christentum beigebracht wurde, das war auch lustig. Oder auch nicht. Erinnert mich an meine Oma. Sie stellte auch keine Fragen, sie glaubte einfach. Und wir Kinder mussten auch glauben, wer nicht, wurde gezwungen: Geh in die Kirche, Gottes Wort hören! Aber da war nur der Pfarrer, kein Gott.

Aber genug gemotzt, sonst werde ich noch gelyncht – bei so vielen, inklusive mir, die sich bei dieser Geschichte an Kindheit erinnern, die im Rückblick immer ein bisschen verklärt vorkommt, selbst wenn dazu Spinnenkeller und das Zuzeln an Hühnerknochen gehören. :D

Was ich eigentlich sagen wollte: Die Geschichte wird zu Recht empfohlen - auch ich habe ein weiches Herz, das sich dem Sog dieser fabelhaft geschriebenen Geschichte nicht entziehen konnte.

 

Hey xy,

sehr schön. Der Text schnurrt so vor sich her, riecht nach Bratfett und Autoabgasen und überall stehen so Nippes im Weg. Ich habe das sehr gern gelesen.

Ich mag das Bild, dass die Drei da in diesem mit Altlasten vollgestopften Haus hocken und Tiefgefrorenes auftauen. Also, dieses Gesamtkonstrukt fand ich bemerkenswert hübsch. Dabei ist das alles so mit Liebe gemacht, dieser ganze Krempel, der Staub, der Müll und dennoch steckt in all den Details Liebe drin. Das bricht das natürlich auf und man gewinnt das alles lieb, irgendwie. Man hat sich halt eingerichtet, in dem Haus, dass so viel erlebt hat und so viele Träume in sich begraben hält und natürlich will die Prot. da nicht einziehen, sondern sich davon lösen. Das hat der Vater ja auch schon probiert und ist daran gescheitert.

Das Bein habe sich seither deutlich gebessert, hat er schon am Telefon gelogen.

So kurz, so gut.

Wenn wir Pech haben, ist es nicht Buttercreme mit Streuseln sondern ein Barren Kopfsülze.

:)

Dort hat Oma gewohnt.

Ja, so was meine ich. Man könnte auch sagen, dass ist die Oma da vor sich hin vegetierte, aber nein, sie hat da gewohnt. Eigentlich ist es so traurig, aber wohnen impliziert eben ein gutes Gefühl. Diese Widersprüche zwischen Inhalt und Sprache und wie das wirkt, ich bin echt beeindruckt.

Wenn ich Papa vor ihr zur Rede stellte, fand sie ein Esszimmer eigentlich überflüssig und Gäste sowieso eher lästig. Zum Schluss blieben ihr so nur die Küche und die Stube, in der sie schlief und fernsah, wenn sie sich nicht gerade vor Elektrosmog fürchtete.

Das ist so typisch Mensch. Da flucht man, aber so Auge in Auge, da relativiert sich das dann immer, das will man eigentlich nicht austragen oder auch nur aushalten. Schöne menschelnde Stellen in dem Text.

... und Kartoffelknödeln, die elastisch wie Flummis waren, aber nicht so verwendet werden durften.

Hehe

Nach dem Abräumen wurden die übriggebliebenen Hähnchenteile in Margarinendosen gelegt, die in Gefrierbeutel gesteckt wurden, die doppelt zugeknotet und ihrerseits in Einkaufstüten verpackt wurden. „Damit die Beinchen nicht davonlaufen“, sagte Oma.

Da musste ich echt lachen. Als ich mal beim Arzt saß, das war ne Frau im Wartezimmer und die packte ihr Hab und Gut (Schal, Handschuhe, Zeitschrift, Brille etc.) einzeln in Tüten und über die Tüte noch ne Tüte und dann zwei Tüten in eine weitere Tüte, bis ihr auffiel, dass die nicht zusammengehören und dann packte sie die wieder aus und packte andere zwei Tüten zusammen. Ich habe die so beobachtet und dachte, merk dir das, das brauchst Du irgendwann mal!

Zwei Beutelpakete mussten wir aber mit nachhause nehmen, weil Mama nie anständig kochte.

Die Oma ist so böse, aber eben auch die Oma. Was hat die eigentlich mit der Mutter? Warum ist die der so spinnefeind? Ich kann ja nur mutmaßen, und würde sagen, es war nicht schicklich, dass sie ihren Jungen hat sitzenlassen. Das gehört sich nicht, Frauen müssen schlucken, wenn Männer sich umtreiben. Aber das ist jetzt ne Vermutung.

Nur Mama würden wir dort nicht treffen. Das tat der Oma selbst schrecklich leid, uns das sagen zu müssen, aber ohne den lieben Herrn Jesus an der Hand konnte man nunmal nicht fliegen.

So grausam von der Oma mit den arschlangen Haaren ... und im nächsten Absatz gleich das Schicksal der Oma hintendran, wo man ihr dann wieder alles verzeihen tut. Diese Figurentennis ist schon clever.

Nur der Platz am Fenster blieb leer und der Herr Jesus war jetzt nicht mehr Gast sondern Familienoberhaupt. Und er sperrte seine Kinder zu ihrem eigenen Besten in den Spinnenkeller, wenn sie statt der Bibel Westernheftchen lasen.

Und da kommt da mal so nebenbei ein so böser Satz. Ei, ei, ei. Da ziehts ein wieder weg und man denkt so, furchtbar. Aber eben so liebevoll furchtbar.

Jule rollt die Augen, und ich versuche, ein offenes Gesicht zu machen. „Ach ja?“

„Der kommt doch nächstes Jahr eh auf die Weiterführende“, wirft Jule ein und versenkt den fünften Zuckerwürfel in ihrer Kaffeetasse.

Hier auch, zuckersüß die Jule. Aber die trinkt keinen Zuckerkaffee, sondern irgendwas ganz Sauers.

Nur zu den Mahlzeiten in Omas Küche machte er Pause: um neun, um halb eins, um drei und um sechs.

Schön hinterhergeschoben, die Uhrzeiten aufzuführen. Wäre auch ohne gegangen. Aber hier steht es vier mal am Tag für, keine Ahnung 20 Minuten. Und da gehts dann auch nicht um die Kinder, sondern ums Essen.

Er drehte sich nicht zu uns um, als er antwortete: „Also ich fand’s auch richtig scheiße. Mir geht’s eh nicht gut im Moment, da habe ich euch mitgenommen, um mich aufzumuntern. Jetzt geht’s mir dank euch noch viel beschissener. Ich hätte nicht gedacht, dass ihr so egoistisch sein könnt.“

Ja geil. So fies, gerade weil die Prot. sich vorher noch bemüht ihn nicht zu verletzen und er haut verbal ihr dann in die Fresse.

Er konnte nicht richtig sprechen und als er über dem Nachtisch einschlief, aß Jule seinen Milchreis auf.

Ich glaub Jule war viel mehr seine Tochter, als die Prot. Wird ja später auch wieder aufgenommen.

„Das belastet ja auch. So viele Dinge. Die brauchst du doch bestimmt nicht alle.“

So meta der Satz.

„Gut, dann warten wir jetzt einfach noch ne Weile, bis das Bein ab ist, bis du mit dem Rollstuhl nicht mehr die Treppe rauf kommst und in deinem Scheißtunnel steckenbleibst. Dann stopf ich dich in eine Zwangsjacke, roll dich raus und ruf ein Entrümpelungskommando.“ ...
„Und wenn du nicht mit dem Taxi nach Hause fahren willst, würde ich dir empfehlen, jetzt deinen Arsch zu bewegen“, rufe ich Jule noch zu und verlasse das Haus.

Endlich, dachte ich, als ich das gelesen habe. Gut das sie auch mal aus ihrer Mutter Theresa-Rolle fällt.

Dann kratzt er mich zu einem handlichen Menschenpaket zusammen und hebt mich hoch.

So schöne Sätze aber auch. Der jetzt als ein Beispiel von vielen.

Also, für mich geht das Ende klar. Ich denk, wenn man dass weiterführt und du würdest an einer anderen Stelle enden, dann will man das auch nicht haben. Das ist so eine von diesen Geschichten, die eben kein Ende haben können. Es kann nicht gut werden, es kann nicht auseinanderbrechen, es kann am Ende nicht nur Scherben geben. Es geht halt weiter, immer. Insofern finde ich es konsequent und richtig. Aber klar, würde ich da noch ne Weile bei denen bleiben, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte :).

Sehr, sehr gern gelesen.
Beste Grüße Fliege

 

Hey xy,

sehr schön.

Diese Anrede finde ich sehr schön, weil sie von einem kommt, der allein den echten Namen des Autors oder der Autorin kennt. :D

Aber zur Geschichte wollte ich auch noch was sagen: Das Ende ist für mich klar. Die beiden Schwestern werden das Kind schon schaukeln, sprich ihren Vater zunächst in eine kleinere Wohnung mit Betreuung bringen. Dazu wird die kleinere Schwester die ihr zugewiesene und bisher verweigerte Zuckerbrotrolle fortan übernehmen, während die Erzählerin weiter die Peitsche schwingen wird. Das ist so wie bei einem Verhör: Der eine Verhörende spielt den brutalen, der andere den sanften, verständnisvollen. Und am Ende gibt der Verhörte auf. Wenn er schuldig ist, natürlich. Und "schuldig" ist dieser Vater nach Lage der Dinge auch.

 

Über unserem Bett stand er umringt von Schäfchen. Und das Lamm, das er auf dem Arm trug, war Jule, und das etwas größere Lamm, das mit der Nase in seine Tasche stupfte, das war ...

Gleich morgen :)

 

Hallo Maskierter,

sprachlich ganz großes Kino, wie ich finde. Ganz eigener Stil, mit teilweise herausragenden Bildern, ich habe sie in einem Rutsch lesen können, ohne ein einziges Mal zu stocken. Das Empfinden beim lesen ist natürlich ein anderes, als wenn man über die Geschichte dann nachdenkt: Man wird von so vielen Details überrumpelt, kriegt so viel Info, und will sich die Sachverhalte gar nicht erklären müssen, weil man einfach wissen will, was danach passiert - schon auch spannend, irgendwie. Familiensachen können ja total schnell richtig krass eskalieren, und vielleicht habe ich da auch drauf gewartet, der Vater, der durchdreht, oder die Prot, die einfach die Schnauze voll hat. Dieser Text ist da schon so eine kleine Achterbahnfahrt, hält immer so gerade das Tempo, könnte aber auch jederzeit richtig abgehen, ist sehr gut gemacht.

Die Figur des Vaters, die kennt man, der ist greifbar, greifbarer als alle anderen Charaktere. Dieser sympathische Loser ein wenig, der sich so durchmogelt, es irgendwie noch hinbekommt, mit dem kann man sicherlich auch nichts richtig vereinbaren, so kommt mir das im Text vor, der ist nicht aalglatt, aber vom Wesen her total unentschlossen, kann sich nicht so richtig entscheiden, die beiden Töchter rücken da ja richtig wie ein Kommando an, überfallen ihn fast.

Das Ende: Kann man so machen. Der Texte könnte natürlich auch das erste Kapitel eines Romans sein. Deswegen ist es schwierig, es neutral zu bewerten. Er steht schon für sich, und die Frage ist auch, muss es ein Ende mit Knall sein? Was sollte es bringen auch?

Toller Text, sprachlich wirklich ausgereift, und mit einem eigenen Erzählton - was will man mehr?

Keine Ahnung, wer denn verfasst haben könnte, ehrlich nicht.

Lieben Gruss, Jimmy.

 

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