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Über den Horizont

adi

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21.03.2004
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Über den Horizont

Er redete nicht mehr mit ihr. Er schrie.
"Du weißt nicht, wie sich das anfühlt. Du hast keine Ahnung, was es heißt, wenn keiner dich versteht. Wenn jeder sein altes Leben glücklich und zufrieden weiterlebt, immer dieselben Spiele, dieselben Filme, Essen und Sex, wann immer er will. Wenn jeder glücklich ist und nicht versteht, was ich sage und es auch gar nicht verstehen will. Ich sage ihnen, mir geht es nicht gut. Mir geht es schlecht, ja, ich sage, mir geht es schlecht! Und sie lachen und wollen mit mir spielen. Oder mit mir schlafen. Was sind das für Freundschaften, ohne Verständnis und ohne Mitgefühl?"
"Mach ihnen keine Vorwürfe. Es sind trotz allem deine Freunde"
"Freunde? Es sind Menschen, mit denen ich viel Zeit verbracht habe, mit denen ich vieles erlebt habe. Aber macht sie das zu Freunden? Mir machen ihre Spiele keinen Spaß mehr, ich habe keine Lust auf Sex und stundenlanges Essen. Ich will raus aus dieser Stadt, will zurück in meine Heimat, wo ich echte Freunde hatte und wo meine Familie auf mich wartet!"
"Du regst dich zu sehr auf. Ich bitte dich, setz dich, ich hole dir etwas zu trinken."
"Ich will nichts trinken!"
"Das wird dir gut tun..."
"Nein, wird es nicht! Nicht dieses widerliche Wasser."
"Was passt dir nicht an diesem Wasser?"
"Es ist...wie diese Stadt, wie diese Menschen...irgendwie verhext! Es macht mir Kopfschmerzen, es raubt mir den Verstand! Und diese Farbe..."
"Aber es ist Wasser. Es ist durchsichtig."
"Es schimmert! Sieh nur, es schimmert blau, ganz eindeutig."
"Ich sehe nichts darin. Trink schon, es wird dir gut tun."
"Ich kann es nicht trinken!"
"Aber...wie willst du denn ohne Wasser leben?"
"Nicht ohne Wasser, aber ohne dieses blaue Gift! Auf dem Balkon sammele ich Regenwasser, es schmeckt nicht gut, aber es ist gesund."
"Du trinkst Regenwasser?"
"Schon seit Tagen. Und ich trinke mehr denn je! Es löscht den wahren Durst, wie kein anderes Getränk es kann."
"Du bist ja ganz krank im Kopf! Du weißt nicht, was für Bakterien du aufnimmst! Du gehst ja ganz kaputt an diesem Wasser! Sieh nur, was es aus dir gemacht hat! Jetzt trink dieses Glas mit Leitungswasser, ich bitte dich! Dir wird es bald wieder besser gehen!"
"Nein!"
"Trink"
"Niemals!"

Sie glaubte, die Situation nicht mehr kontrollieren zu können und griff nach der Waffe an ihrem Gürtel. Aber er hatte damit gerechnet und hielt ein großes Brotmesser an ihre Kehle.

"Schon immer habe ich mich gefragt, wieso du eine Waffe trägst. Niemand hier trägt eine, es gibt keinen Grund, eine zu tragen."
"Nimm das Messer runter, ich will dir doch nichts tun. Ich will dir helfen!"
"Mit dir stimmt etwas nicht. Du bist meine beste Freundin, aber du belügst mich jeden Tag. Ich will, dass du mir alles erzählst. Was ist das für eine merkwürdige Stadt? Warum bin ich hier, nicht mehr in meiner Heimat? Was ist mit meiner Familie geschehen? Warum höre ich nie von ihr? Was mit meinen Freunden?"
"Du willst dir Wahrheit? Du willst die gottverdammte Wahrheit erfahren?"
"Rede!"
"Du hattest niemals Freunde! Das einzige, was du hattest, war Geld. Du warst ein todunglücklicher und einsamer Mensch, der uns gerne all sein Geld vermacht hat. Bloß, damit wir seinen Tod vortäuschen, damit wir ihn retten aus dem tiefem Sumpf der Depressionen, in dem er zu versinken drohte. Wir sind deine Retter, du warst uns dankbar, verflucht, dankbar!"
"Du lügst! Ich könnte mich erinnern!"
"Erinnern? Das Gedächtnis ist wie ein Pessimist, ein ständiger Nörgler, der dir alles kaputt redet. Doch nichts ist leichter, als ihn zum schweigen zu bringen – man muss nur einfach nicht auf ihn hören, dann verstummt er von ganz alleine. Du wolltest vergessen, du wolltest alles vergessen! Ja, du musstest es sogar, um zu überleben."
"Aber ich erinnere mich an so vieles, das vorher war..."
"Einbildung! Die verhasste Stadt aus der du kommst, du nennst sie jetzt Heimat. Menschen, von früher, Nachbarn, Kollegen, Rivalen, sie wurden Freunde – aber nur in deinem Kopf!"
"Das ist nicht möglich!"
"Das ist es und das weißt du! Mit jedem Wort, das ich sage, kommt ein Teil der Erinnerung zurück, tief aus deinem Innern. Wer du wirklich warst, früher, vor langer Zeit. Als aus dem aufstrebendem Geschäftsmann ein gieriger Schlund wurde, der sich gefährliche Feinde verschaffte, die ihn für seine Gier bestraften. Deinen Fehler hast du realisiert, als es zu spät war. Du warst verzweifelt, am Boden, quältest dich mit Vorwürfen, bekamst Wahnvorstellungen. Dein Leben war nicht mehr lebenswert."
"Du lügst! Du lügst nur noch mehr!"
"Du wolltest die Wahrheit und das ist sie! Aber glaub ja nicht, dass du dich mächtig fühlen kannst, weil du mir ein Messer an den Hals hältst! In diesen Wohnungen ist jedes Zimmer überwacht und in nur wenigen Sekunden wird deine Tür eingerannt und unsere Wachleute werden dich erschießen! Du kannst nicht fliehen, du bist am Ende. Warum kann man es dir bloß nicht recht machen? Man versucht, jede Sorge aus deinem Leben fernzuhalten, dir alles zu geben, was du brauchst. Damit du ein friedliches und sinnliches Leben hast! Aber du, du scheiterst! Du scheiterst an deiner eigenen Neugier!"

Er taumelte zurück und warf das Messer fort. Sie zog sofort ihre Waffe, bereit zu schießen. Er nahm jedoch keine Notiz von ihr, schleppte sich zum Tisch, auf dem das Glas mit Wasser stand. Es schien ihm, als sei es nicht nur ein blauer Schimmer, nein, das Glas strahlte gerade zu im hellsten, klarsten Blau, das er je gesehen hatte. Er leerte das Glas in einem Zug.

 

"Aber es ist Wasser. Es ist durchsichtig."

Hallo Adi,

inhaltlich gefällt mir Deine Geschichte gut. Du beschreibst jemanden, der sich wehmütig zurückerinnert an seine "Heimat", obwohl er eigentlich aus dieser Heimat geflohen ist. Seine Wünsche im dort wurden ihm hier erfüllt, aber er ist nicht mit dem zufrieden, was er bekommen hat, sondern idealisiert lieber das dort. Man sollte also vorsichtig mit seinen Wünschen sein, sie könnten sich erüllen.

Stilistisch bist Du mir leider zu nahe dem "zweiten Kreis der Leserhölle", wie das hier einmal jemand genannt hat: Deine Dialoge sind keine Dialoge, sondern nur lange Erklärungen. Die Wachfrau erklärt in einem einzigen Aufwasch die gesamte Situation. Das ist etwas langweilig. Besser wäre es, das ganze noch mehr zu verpacken, mehr um die Erklärung zu kreisen, mehr über Andeutungen zu transportieren.
Eine weitere Sache die mir nicht so gut gefällt, ist, dass keine Deiner Figuren viel Emotion zeigt. Versuche, im Dialog Gesten und Mimik einzubauen, das macht die Sache lebendiger.

Insgesamt eine gute Idee in etwas verbesserungsfähiger Form.

Grüße,
Naut

 

Hallo Naut,

vielen Dank für die stilistischen Anmerkungen!
Ich fürchte allerdings, dass gerade ein "natürlicher" Dialog mit seinen vielen Unterbrechungen und dem mühsamen Herantasten an die Thematik im Rahmen einer Kurzgeschichte noch langweiliger wäre. Ich habe beispielsweise die Wachfrau darum viel reden lassen, weil sie mit jedem Satz eine Unklarheit von vorher erklärt oder etwas vorher Geglaubtes revidiert. In einem "natürlichem" Dialog hätte das Stunden gedauert. Die sinkende Glaubhaftigkeit des Dialogs nehme ich gerne in Kauf, um den Inhalt zu wahren.

Ich bin jedoch deiner Ansicht, dass sich das Gespräch so viel nüchterner liest, als mit zusätzlichen Beschreibungen der Personen. Hier hätte ich mehr rausholen können!

Liebe Grüße,
adi

 

Du hast schon recht: Ich meinte auch nicht, dass der Dialog absolut naturalistisch sein sollte (das ist nämlich, wie Du schon schreibst, genauso langweilig). Vielmehr musst Du den Leser noch ein bisschen fordern, sonst sieht das Ganze zu sehr wie ein Sachtext aus.
Die Emotionen werden aber auch schon ihren Teil beitragen, denke ich.

Grüße,
Naut

 

Hallo!

Erstmal, ich fand den Text sehr interessant.Mit dem Thema hatte ich auch schon zu tun, das gibt was her.

In Einzelheiten könntest du noch mehr "spielen". Ich finde gerade das Abstruse, Künstliche an dem Dialog faszinierend. Die Unklarheit des Kontexts. Das könnte man sogar noch forcieren, indem die recht blasse Gesprächspartnerin zu Anfang intensiver agiert. Wer ist sie?

Den Schluss mit dem blauen Wasser fand ich einfach nur genial! Sehr gut geamcht!

MfG

 

Hi adi,

interessanter Text, und dein Schreibstil passt auch. Aber genau da liegt manchmal auch der Knackpunkt. Es wurde ja schon angesprochen: Der Dialog wirkt trocken und unmotiviert. Da kannst du noch viel dran tun. Bring etwas Leben hinein. Dabei muss die aufgebaute Atmo auch gar nicht drunter leiden.
Wenn du das hinbekommst, gibt es an dieser kg eigentlich nichts zu meckern.

Einen lieben Gruß...
morti

 

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