Über mir Stille...your silence is the loudest sound
Es ist still…und doch ist es für mich laut. Der Nebel schwebt nur wenige Zentimeter über der Wasseroberfläche. Ich nehme das Gewicht des Steines, der an meinem Bein hängt wahr. Die Berge und die Tannen auf der anderen Seite des Sees sind schneebedeckt…in meinem Kopf höre ich Stimmen, ja sogar ein Klavierstück. Es ist ein sehr trauriges Lied. Der Mensch der es spielt, muss sehr traurig und verzweifelt sein, so wie ich es bin. Ich spüre den Holzsteg unter meinen Nackten Füßen, mir ist kalt und dann beginnt es zu regnen. Erst langsam, dann immer stärker. Ich lege den Kopf in den Nacken und schließe die Augen. Ich verspüre tiefe Ruhe, die aus meinem inneren zu kommen scheint. Diese Momente sind die, für die es sich zu Leben gelohnt hat. Ich bin bereit…ich trete einen Schritt nach vorn und falle. Ich tauch in das tiefe Wasser ein, das Gewicht des Steins zieht mich nach unten. Die Luft weicht aus meinen Lungen, Bilder tanzen vor meinen Augen…Und nun will ich euch meine Geschichte erzählen, was ich gesehen, und wie ich gelebt habe…
Mein Name ist Massimo, bin 25 Jahre alt und lebte in einer Stadt. Meine Eltern habe ich nie kennen lernen dürfen…man hat mich eines Tages einfach gefunden. Bei mir fand man nichts, nichts, dass erklären würde woher ich komme. Ich kann nicht einmal sicher sein, wie ich heiße…ich bin im Heim aufgewachsen. Dort hatte ich es nie leicht. Damals war ich „der Neue“, ich war der Junge, der immer schweigend und alleine am Tisch saß. Oft habe ich andere Kinder angesprochen, doch sie haben mich nur angestarrt und sind davon gegangen. Damals hab ich es nicht verstanden…nicht verstanden, was an mir anders war. Doch jetzt weiß ich es. Ich bin krank. Zuerst hat sich die Krankheit nur äußerlich gezeigt, später sind auch seelische Probleme aufgetreten. Aber ich habe immer versucht stark zu bleiben. Ich habe meinen Schulabschluss gemacht und bin in die Stadt gezogen. Doch ich hatte mich geirrt. Ich sollte immer ein schweres Leben haben. Hatte Gott es so gewollt? Oder ist es nur eine einfache Vererbung? Ich weiß es nicht. Doch damals war ich mir sicher, dass es allein Gottes Schuld war, dass er allein für mein Leiden verantwortlich war und dass er mich erlösen könnte. Also ging ich in die Kirche…ich wollte eine Verbindung zu Gott aufbauen. Einige Monate verstrichen. In dieser Zeit hatte er mich oft in meinen Träumen aufgesucht, hat mir von anderen Menschen, anderen Sitten und Gebräuchen erzählt…er wurde mein Vertrauter. Ich habe ihm alles anvertraut…Gott allein wusste was ich fühlte. Es war, als wäre er mein Vater gewesen. Es war eine schöne Zeit…ich hatte zum ersten Mal das Gefühl…ja…als würde ich leben.
Ich ging regelmäßig einen Arzt besuchen, der mir jedes Mal neue Arzneimittel verschrieb…doch ich wusste, dass es für mich keine Heilung gab, oder je geben würde. „Krankheit beginnt am Körper…äußerlich“, hatte mein Arzt mir erklärt. „Doch sie kann sich ausbreiten…dein Gehirn und deinen Geist, ja sogar deine Seele befallen, du beginnst dir Dinge einzubilden.“ Ja, über diese Worte dachte ich viel nach…generell verbrachte ich viel Zeit mit denken. War der Gott, der mich in meinen Träumen besuchte nur eine Vorstellung? Ich wollte das nicht glauben. Doch von diesem Tag an kam mein neuer Vater nicht mehr, um mir zuzuhören. Er ging einfach fort. Ich war enttäuscht und voller Wut. Ich war regelrecht verzweifelt, fühlte mich im Stich gelassen. Ja, ich wurde depressiv. Und von da an wusste ich: Die Krankheit breitet sich aus…sie wird mich schon bald besitzen. Aber kannst du dir vorstellen, dass dir jemand oder etwas die Fähigkeit nimmt zu gehen, zu atmen, ja sogar zu denken? Sind die Gedanken eines jeden Menschen nicht etwas, was ihm nie jemand nehmen kann? Ich konnte mir so etwas nie vorstellen. Ich habe viel geweint.
Ich ging nicht mehr nach draußen. Oft habe ich aus dem Fenster meiner Wohnung geschaut und habe gesehen wie das Leben an mir vorüber zieht. Wie ein Zug, der dich vergisst und weiterfährt. Ich hatte diesen Zug verpasst. Mehrere Jahre vergingen. An meinem 25. Geburtstag geschah etwas, von dem ich nie geglaubt hätte, dass es sich ereignen würde. Es war Weihnachten. Der 24. Dezember. Ich saß auf der Treppe vor meinem Haus und sah zu, wie kleine Kinder sich mit Schneebällen bewarfen und Erwachsene Menschen durch die Gassen eilten. Ich liebte Weihnachten. Nicht nur weil ich Geburtstag hatte, sondern, weil jeder zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um einen jungen Kranken auf einer Treppe zu beachten. Doch dieses Weihnachten war anders. Denn ein Mann kniete plötzlich vor mir nieder. Aus Furcht wich ich bis zur Mauer zurück. Der Mann war sehr alt. Er hatte krauses weißes Haar und einen leichten Bart. Seine Augen waren blau und er strahlte Ruhe und Frieden aus. Ich starrte ihn einfach nur an, als der Alte meine Hand ergriff und seine Lippen an meine kalten Finger legte. Seine Hand hielt meine, seine warm, meine kalt. Ich schloss die Augen. War es Frieden was mir dieser Fremde schenkte? Plötzlich war alles wieder kalt. Ich öffnete die Augen. Doch was ich dort sah, waren nur Menschen, die nichts als sich selbst sahen. Diese Menschen, die immer blinder wurden. Ich stand auf…zu verstört um nachzudenken. Ich lief zurück in meine Wohnung und begann zu schreiben. Ich schrieb meine ganze Geschichte. Ich hielt mein Leben fest. Während ich schrieb, hatte ich viele Hustenanfälle. Mein ganzer Körper schien gegen diese Anstrengung zu arbeiten. Ich war schwach. Schwach und Krank und ich spürte, dass es zu Ende ging. Und doch hatte ich Dinge erlebt, die andere nie erleben werden.
Und dann habe ich beschlossen zu gehen. Ich bin gelaufen. Den ganzen weg, bis zum See. Dort habe ich die Seiten mit der Krakeligen Handschrift abgelegt…die Seiten die mein Leben erzählten. Ich zog meine Schuhe aus und lief bis zum Rand des Stegs. Dort blieb ich stehen. Früher konnte ich nicht untergehen. Jetzt, so war ich mir sicher, würde ich es können. Nun konnte ich gehen. Ich band den Stein an mein Bein und blieb ruhig stehen. In meinem Kopf hörte ich, dass jemand Klavier spielte. Ja ich war krank. Körperlich wie Seelisch. Doch meine Seele konnte ich retten. Und das tat ich…
Jetzt sinke ich. Es könnte so grausam sein, wenn ich nicht so glücklich gewesen wäre. Diese letzten Stunden hatten mir gezeigt, was Leben ist. Leben ist nicht das, was du, du oder du jeden Tag tust. Nein. Leben ist zu Spüren. Schmerz, wie Freude, Angst und Hoffnung. Auch habe ich gemerkt, dass Gott niemals weg ist. Er ist immer da. Willst du wissen was das letzte ist was ich gehört habe? Über mir ist nur die Stille…denn Stille ist das lauteste Geräusch…man muss nur versuchen sie zu hören…