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Abschied eines Clowns

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11.04.2020
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Abschied eines Clowns

Stille.

Michael starrte auf seine Knie, die gefalteten Hände auf seinem Schoß, er knetete sie sanft mit den Fingern. Er bemühte sich, die Augenlider offen zu halten. Sie waren schwer, sehr schwer. Wurden immer schwerer. Dann das erlösende “Amen” in seinem Rücken. Sein einziger Sitznachbar in der ersten Reihe reckte sich. Michael schaute zu ihm rüber. Der imposante Bauch irritierte ihn erneut. Wann war Martin so fett geworden? Sie sahen sich nicht oft, vielleicht alle zwei bis drei Jahre. Das letzte Mal war allerdings lange her. Seit Mutters Tod vor vier Jahren hatte er mit ihm lediglich ein paar Mal telefoniert.

“Ich bitte nun die beiden Söhne Martin und Michael vorzutreten.”

Sein Bruder erhob sich und ging festen Schrittes auf den Pfarrer zu. Michael stand ebenfalls auf. Er spürte die bohrenden Blicke in seinem Rücken, blieb mit schlaff an den Seiten hängenden Armen und gesenktem Kopf vor dem Stuhl stehen.

“Kommen Sie auch vor, Herr Tanner”, sagte der junge Pfarrer. Er ging einen Schritt auf ihn zu und streckte ihm milde lächelnd eine Kerze entgegen. Michael ergriff sie mit schweißnasser Hand. Er bemühte sich nicht zu zittern, als der Pfarrer die Kerze mit einem Stabfeuerzeug entzündete.

Langsam ging Michael dem Sarg entgegen. Er war froh, dass der Deckel geschlossen war. Das hagere, aschfahle Gesicht mit der spitzen Nase und den schlaffen Tränensäcken wollte er nicht noch einmal sehen. Das war nicht sein Vater. Es war nur sein Schatten. Die Hülle, die übrigblieb, wenn der Schmerz gewonnen hatte. Wenn die Lebensfreude versiegte. Wenn der Wille gebrochen war.

Michael stellte die Kerze vor den Sarg neben die seines Bruders, drehte sich um. Der breite Rücken von Martin verdeckte einen Teil des Raumes, doch er wusste, die Reihen waren voll besetzt. Alle Reihen, bis auf die erste.

Ihr Heuchler.

“Im Namen der Angehörigen möchte ich mich für die rege Anteilnahme bedanken”, hörte er jetzt die sonore Stimme seines Bruders durch den Raum hallen. “Mein Vater hat Euch geliebt. Euch, seine Gemeinde. So wie er Gott liebte.” Die nachfolgende rhetorische Pause ließ in Michael den alten Neid auf seinen älteren Bruder aufflammen. Martin war schon immer ein guter Redner. Selbstsicher wie Vater, sich seiner Wirkung gänzlich bewusst. Nie wortverlegen, nie zweifelnd.

“Er hat nicht nur sein ganzes Leben in Braunfelde verbracht, er hat für Braunfelde gelebt. Er liebte die Kirche, er liebte die Stadt. Er war für Euch da, in guten wie in schlechten Zeiten.”

Wieder diese Pause. Doch jetzt war es Wut, die in Michael aufstieg. In guten Zeiten? Wann waren die Zeiten zuletzt gut gewesen? Und was haben Sie seinem Vater als Dank zurückgegeben? Liebe war es nicht. Vor allem dann nicht, als er sie am dringendsten brauchte.

Die Mutter im Morgenmantel, das Haar zerzaust, die Füße nackt. Ihr Blick so leer wie der Inhalt der Worte, die sie vor sich hinmurmelte. Ein Teller fiel auf den Boden. Sie merkte es nicht, als sie über die Scherben lief.

Die Leute lachen, Michael.

Dieser eine Satz seines Vaters hatte Michael mehr getroffen als der Anblick der Mutter. Die Leute lachen. Michael hatte seinen Vater noch nie weinen sehen.

Ein schrilles Quietschen riss ihn aus den Gedanken. Er sah, wie sein Bruder die Hand vom Standmikrofon nahm und einen Schritt zurückging. Die Rückkopplung erstarb sofort.

“Und darum sollten wir nicht trauern, denn er hat seinen Frieden gefunden. Lasst uns stattdessen frohlocken und beten. Wir danken Dir, oh Herr, dass Du ihn zu Dir genommen hast.” Nach diesen Worten drehte sich sein korpulenter Bruder um und blickte ihn auffordernd an. Michael wusste, was jetzt von ihm erwartet wurde. Sie hatten es vorher kurz durchgesprochen. Nur ein paar wenige Sätze sollten auf Martins Rede folgen, mehr nicht. Ein kurzer Dank, ein aufmunterndes Schlusswort vielleicht.

Langsam ging er auf seinen Bruder zu, der zur Seite wich, um ihm das Mikrophon zu überlassen.

Die Gesichter, die Michael anblickten, waren fremd. Fremder noch, als sie aufgrund der langen Zeit sein sollten. Er hatte einige von ihnen erkannt, als er mit dem Pfarrer die Reihen durchschritt. Es waren sogar ein paar Klassenkameraden gekommen. Nicht viele. Hans war da. Und Thomas. Die meisten aber waren Freunde von Martin und Gemeindemitglieder. Viele Alte, die seinen Vater noch als Gemeindevorstand kannten.

Michaels zittrige Hand ergriff den Mikrofonständer, die trockenen Lippen näherten sich langsam der Schallmembran. “Es ist ein alter Mann gestorben”, flüsterte er, senkte den Blick.

Dann schaute er auf, die Stimme kräftig. “Ein Mann des Glaubens.” Er schluckte. Sein Griff um den Ständer lockerte sich kurz, wurde wieder fest.

“Und ein Mann der Ideale.”

Michael schaut in die Runde, zwang sich den Blick nicht abzuwenden. Da saßen sie. Taten, als hörten sie ihm zu.

“Mein Vater war jemand, der sein Leben für andere gab.”

Michael spürte das Hämmern seines Pulsschlags in den Schläfen. Die Knie zitterten, der Rücken nass. Er atmete tief ein und aus.

“Es ist ein Narr gestorben”, sagte er und ließ den Mikrofonständer los.

“Ihr dürft jetzt lachen.”

 

Moin @Abigail Rook,

ja, das gefällt mir. Der Hauch eines shakespearschen Endes. Die Rundum-Ohrfeige für all die Jahre zuvor. Bämm! Mitten ins Kirchenschiff. Beerdigungen können doch auch schön sein. Eine sehr kurze Geschichte, wobei die "Geschichte" an sich in den beiden letzten Sätzen liegt. Der Rest war nur Vorgeplänkel. Minimalistisch, und doch von mehrdimensionaler Kraft zur Entfaltung geprägt - in manch Leserleben.

Gesundheit, wünscht
Morphin

 

Moin @Abigail Rook,

ja, das gefällt mir. Der Hauch eines shakespearschen Endes. Die Rundum-Ohrfeige für all die Jahre zuvor. Bämm! Mitten ins Kirchenschiff. Beerdigungen können doch auch schön sein. Eine sehr kurze Geschichte, wobei die "Geschichte" an sich in den beiden letzten Sätzen liegt. Der Rest war nur Vorgeplänkel. Minimalistisch, und doch von mehrdimensionaler Kraft zur Entfaltung geprägt - in manch Leserleben.

Gesundheit, wünscht
Morphin

Hey, danke fürs Lesen und die positive Rückmeldung. Ja, es ist im eigentlichen Sinne auch keine Kurzgeschichte, sondern ein Teil eines Kapitels meines aktuellen Romanprojektes. Da das aber kurz vor dem Reißwolf steht wollte ich wenigsten ein Schnipsel davon veröffentlichen. Wo sonst als bei den Wortkriegern - hab 'ne masochistische Ader. Aber selbst diese Triebauslebung hast du mir verwehrt ;) Teufel auch.

LG Abi

 

Hallo @Abigail Rook

Abschied eines Clowns
Da hast du wirklich einen schönen Titel gewählt.
Heute nennen sich die Clowns ja eher Satiriker, daher erzeugt der Titel schon eine gewisse Spannung.

Michael starrte auf seine Knie, die gefalteten Hände auf seinem Schoß, er knetete sie sanft mit den Fingern.
Und schwupp ist man mitten drin in der Kapelle. Super.
“Und darum sollten wir nicht trauern, denn er hat seinen Frieden gefunden. Lasst uns stattdessen frohlocken und beten. Wir danken Dir, oh Herr, dass Du ihn zu Dir genommen hast.”
Großartig. Er merkt selbst gar nicht, wie respektlos er seinem Vater gegenüber ist, dass er nichmal "erlaubt", seinem Vater nachzutrauern, sondern sich alle freuen sollen, dass er weg ist.
“Es ist ein Narr gestorben”, sagte er und ließ den Mikrofonständer los.

“Ihr dürft jetzt lachen.”

Wer war nochmal der Clown?

Der Text erinnerte mich daran, dass ich mal als Pantomime auf einer Beerdigung gespielt habe - das war mein härtester Auftritt im Leben.

gern gelesen
Gruß
Pantoholli

 

Hallo @Rob F und @pantoholli ,
vielen Dank für Eure Kommentare!

Ich freue mich, dass ihr dem Text etwas abgewinnen konntet. Ich habe fast alle Textanmerkungen umgesetzt. Vielen Dank @Rob F !

Die Augenlider selbst hält man ja eigentlich nicht offen, sondern die Augen (?)
Wikipedia: "Das Schließen und Öffnen der Augenlider wird Lidschlag genannt". Kann man da nicht die Augenlider offen halten? Oder sollte man geöffnet halten schreiben?

Vielleicht lässt du es mal ´ne Zeitlang liegen und beschäftigst dich dann nochmal damit? Dieser Textausschnitt liest sich doch gut, kann mir nicht vorstellen, dass es so schlecht ist ...

Danke für den Zuspruch. Ich habe davor einen Thriller geschrieben, der locker von der Hand ging. Bei dieser Geschichte hier reihen sich allerdings Schreibblockade an Schreibblockade. Vielleicht will ich einfach zu viel. Vielleicht blockieren mich auch die viele persönlichen Dinge, die ich in die Figuren einbringe.

Großartig. Er merkt selbst gar nicht, wie respektlos er seinem Vater gegenüber ist, dass er nichmal "erlaubt", seinem Vater nachzutrauern, sondern sich alle freuen sollen, dass er weg ist.
Danke und sehr schön, dass du das auch so siehst.

LG,
Abi

 

Moin @Abigail Rook!

Auch ich habe deinen kurzen Auszug gern gelesen. Und ich muss sagen, wie auch Rob schon, dass ich Lust bekommen habe auf mehr. Du schreibst abgespeckt und sehr klar, das mochte ich. Diese Beziehungen zwischen den Menschen in einer Gemeinde - da muss ich an "Unterleuten" von Juli Zeh denken, auch wenn ich das Buch selbst nicht gelesen habe. Sehr schön jedenfalls, wie der Michael auf Konventionen scheißt und einfach mal seine Meinung sagt - mutig!

Der imposante Bauch irritierte ihn erneut. Wann war Martin so fett geworden?
Da musste ich schmunzeln - der subtile Sprung von imposant zu fett, das gefällt mir!

Sein Griff um den Ständer lockerte sich kurz, wurde wieder fest.
Schöne Details, die sehr deutlich machen, was in ihm vorgeht!

Gern gelesen! Beste Grüße,
rainsen

 
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Hey, danke fürs Lesen und deine Kommentare! Sie versüßen mir das Fest ;)
Vielleicht setze ich mich nächstes Jahr doch wieder an die Geschichte. Die positiven Rückmeldungen hier motivieren mich doch merklich.
Der Roman handelt von Michaels Rückkehr in seine alte Heimat und natürlich von den Begebenheiten, die zu seiner Entfremdung mit ihren Bewohnern geführt haben. Es ist eine Wendegeschichte über Republikflucht, Verrat und Enttäuschung.

Gruß und ein Frohe Fest!,

Abi

 

"My makeup is dry and it cracks 'round my chin / I'm drowning my sorrows in whisky and gin
The lion tamer's whip doesn't crack anymore / The lions, they won't bite and the tigers won't roar //
...
…. //
The old fortune teller lies dead on the floor / Nobody needs fortunes told anymore
The trainer of insects is crouched on his knees / And frantically looking for runaway fleas //
... //
So won't someone help me to break up this crown? / Let's all drink to the death of a clown
..."​

das ist nun nicht gerade Shakespeare, der da singt, sondern „nur“ Dave Davies (natürlich mit freundlicher Unterstützung seines Bruders Ray und der Kinks), aber schon Deine Namenswahl hat es in sich, „Abi“ bekanntermaßen nicht das Abitur, sondern der verkürzte Abraham („Vater“) und das engl. gelautete „gail“ hebr. „Freude“ und dann der Name Michaels (hebr., Erzengel mit der Namensbedeutung „Wer ist wie Gott“) und wiederauferstanden bei Heinrich von Kleist als Michael Kohlhaas (historisch Hans Kohlhase, Kaufmann – Pferdehändler - aus Brandenburg im 16. Jh.). Bezüge, an die – da wettete ich drauf, wenns was zu gewinnen gäbe – Du nicht mal näherungsweise gedacht hast, denn jeder Kohlhaas – ob im Kleinen oder Großen – wird erst durch bestimmte Verhältnisse geschaffen – und sei’s durch Opposition zum eigenen Abram. Dass die Verhältnisse der Familie nicht „ungestört“ ist, verrät schon das Erstaunen Michaels über den dicken Bauch des Martins (hat die Familie einen Hang zu kirchlichen Namen oder Du)?

Aber der Satz

Das war nicht sein Vater. Es war nur sein Schatten. Die Hülle, die übrigblieb, wenn der Schmerz gewonnen hatte.
Ist m. E. genial, umschreibt er doch das, was wir in einem Wort zusammenfassen, nämlich im Leichnam, den leblosen menschlich Körper, der bereits im Althochdeutschen līhhamo (8. Jh.; das erste h ist lautlich keineswegs unser heutiges Dehnungs-h, sondern symbolisiert den Laut, den wir heute kratzbürstig „ch“ aussprechen) in „Leib, Körper“ und dem Hemd zusammengefügt wird und die Leibeshülle meint.

Hat mir sehr gefallen!

Paar Flüsken

Wann war Martin so fett geworden? Sie sahen sich nicht oft, vielleicht alle zwei bis drei Jahre. Das letzte Mal war allerdings länger her gewesen.
Gewesen! Klingt schon sehr nach Verwesung.
Bedeutet aber auch, dass die Zeit der Trennung nun „gewesen“ und vorbei ist. Vllt. Folgt eine „Raue“, wo sich hier am Niederrhein alle nach der Beerdigung zum Leichenschmaus zusammenfinden – und da gehts oft hoch her, Karneval im Kleinen - wiewohl der Niederrheiner als sturer und wortkarger als der Friese ...

@RobF hatte das schon angeregt, auf das Partizip zu verzichten -

im Prinzip kann man es auch hier

Martin war schon immer ein guter Redner gewesen.
wird er doch immer noch sein. Oder?
Prüf vorsichtshalber nochmals alle „gewesen“

“Ich bitte nun die beiden Söhne Martin und Michael, vorzutreten.”
Komma weg!, es zerschlägt das komplexe Prädikat „vorzutreten bitten“ -

ähnlich hier „sich (nicht) zu zittern bemühen“ – das zwote Komma muss natürlich bleiben

Er bemühte sich, nicht zu zittern, als der Pfarrer die Kerze mit einem Stabfeuerzeug entzündete.
allein schon, weil das als einen vollständigen Satz einleitet

Hier

Michael schaut in die Runde, zwang sich den Blick nicht abzuwenden.
Tustu es übrigens im „sich (nicht) abzuwenden zwingen" korrekt

Ein schrilles Quietschen riss ihn aus seinen Gedanken.
Wurd auch schin erwähnt. Wessen Gedanken sonst?

Hier * dagegen ist m. E. ein Komma zu setzen

Fremder noch* als sie aufgrund der langen Zeit sein sollten.
denn was leitet die vergleichende Konjunktion ein ...
Was Du hier vllt. unbewusst tust
Da saßen sie. Taten, als hörten sie ihm zu.
Beide Male leitet die vergleichende Konjunktion einen vollständigen Satz ein und der „Vorsatz“ spielt da keine Rolle – ob Ellipse oder vollständig

Wie dem auch sei - ich tu mal, als wäre ich auf einer Raue -

gern gelesen vom

Friedel und - weil ich gerade nachgeschaut hab, es ist der erste Besuch von mir bei Dear -

herzlich willkommen hierorts!

 

Hallo @Friedrichard ,
vielen Dank fürs Lesen und deine Kommentare!

Bezüge, an die – da wettete ich drauf, wenns was zu gewinnen gäbe – Du nicht mal näherungsweise gedacht hast
korrekt ;)

hat die Familie einen Hang zu kirchlichen Namen oder Du
hier eher die Protagonisten-Familie, denn der Vater war der alte Pfarrer. Aber in meiner eigenen Familie sind sie auch dominant.

Habe alle Deine Korrekturvorschläge eingearbeitet und diesmal auch auf "speichern" gedrückt. Bei @Rob F Hinweisen habe ich das leider vergessen...

Im Roman geht es um die Gründe für die schwierige Beziehung von Michael zu Familie und Heimatstadt. Vielleicht kriege ich ihn ja doch fertig.

Vielen Dank für die interessanten Ausführungen. Ich lerne gern dazu ;)

Abi

 

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