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Abweichung
Etzelman Bergersberger, der bekannte Moderator trat, eine ältere Frau an seiner Seite, auf die Bühne.
Die Bühnenausstattung war das unstrittige Wahrzeichen der Show. Der aus Pappmache gefertigte und blau angemalte Schriftzug der Sendung sprang dem Fernsehzuschauer wie gewohnt ins Auge und lenkte den Blick auf den darunter stehenden Stuhl.
Dieser war mit Klammern und Bügeln ausgestattet die, wie der Zuschauer wusste, die Gäste der Sendung bewegungsunfähig auf dem Stuhl festhielt.
Applaus wurde eingespielt und die Scheinwerfer richteten ihre Spots auf Moderator und Stuhl.
Er lächelte und komplimentierte die sichtbar verunsicherte Frau auf das Sitzmöbel.
Nachdem diese Platz genommen hatte, nahm die Regie die Spots von Stuhl zurück, so dass der Stuhl im Dunkeln verschwand und einigen Techniker Gelegenheit gab, die Frau festzuschnallen.
Pachelbels Canon in D Major wurde eingespielt und Etzelman erhob seine volle Stimme, die er intuitiv auf die schwermütigen Klänge angepasst hatte.
„Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie herzlich zu einer neuen Ausgabe von ´Abweichung´, der gelebten Demokratie im Fernsehen“, rief er.
„Unser heutiger Gast, Frau Giselle Lampenbrecher ist eine bekennende Echtesserin und bereit, heute für ihre Idee einzustehen.“
Die Regie dimmte den Spot auf Etzelman und ließ einen Kreis aus weißem, kalten Licht um die festgeschnallte Frau aufflammen.
Mit zusammen gekniffenen Augen, den Versuch eines Lächelns auf den strichartigen Lippen, wandte sie ihren Kopf in die Richtung, aus der sie die Stimme des Moderators hörte. Das gelang ihr aber nur teilweise, weil Etzelman um sie herumglitt und sich hinter den Stuhl stellte.
Beruhigend strich er ihr über die zu grell blondierten Haare und flüsterte ihr, ohne Bewegung der Lippen, einige beschwichtigende Worte zu.
Zur Kamera gewand erklärte er das Konzept der Show.
Mit wenigen, witzigen Worten beschrieb er, wie am Ende des vorigen Jahrhunderts die totale Individualisierung eingesetzt hatte, was zum Werteverfall geführt und die Gesellschaft an den Rand des Abgrundes gebracht hatte.
Die putschartige Machtübernahme des Sittenkomitees war von der Bevölkerung dann aufatmend begrüßt worden.
Doch die starre Normierung allen gesellschaftlichen Miteinanders führte schon in der folgenden Generation zu ernsten Konflikten.
Es kam zu bürgerkriegsartigen Zuständen zwischen Normern und Unnormern die erst mit einem Kompromiss ein Ende fanden, der festschrieb, dass jede vom Sittenkodex abweichende Verhaltensnorm öffentlicher Prüfung unterworfen werden musste.
Zu diesem Zwecke war die Show ins Leben gerufen worden.
Die Regie untermalte Etzelmans Vortrag mit der Einspielung von in schwarzweiß gehaltenen Filmbeiträgen aus den Zeiten von Individualismus und Uniformisums.
Etzelman wandte sich nun an die Frau und stellte einige allgemeine, einleitende Fragen, die bereitwillig beantwortet wurden.
„Sie sind also Echtesserin?“, kam er schließlich zum eigentliche Thema.
Sie nickte.
„Hm, vielleicht können Sie mir und dem Publikum an ihren Fernsehschirmen verraten, was die Philosophie des Echtessens ausmacht und wie sie selbst zu Echtesser wurden?“
„Oh das ist ja ganz einfach“, rief sie,
„Wir Echtesser verlangen nichts weiter, als echtes, also aus Tieren gewonnenes Fleisch essen zu dürfen. Mein Großvater hat mir, als ich noch ein kleines Mädchen war erzählt, das Tierfleisch mit Synthfleisch nicht zu vergleichen ist. Ich möchte einmal, nur einmal in meinem Leben echtes Fleisch schmecken können.“
„Und deshalb sind Sie heute hier“, ergänzte der Moderator, drehte sich mit großer Geste zur offenen Bühne, wo aus dem Bühnenboden ein mit schwarzen Tüchern verhangener Quader auftauchte.
„Ihr Wunsch soll erfüllt werden, Sie werden heute frisches, natürliches Fleisch essen dürfen, um nicht zu sagen: müssen.“
Trommelwirbel setzte ein und plötzlich fegte ein Luftzug die Tücher auf den Boden.
Der Quader erwies sich als ein Käfig, in dem ein rosafarbenes Hausschwein ängstlich grunzte.
„Und hier ist es, ihr echtes, tierisches Fleisch an dem sich schon unsere Vorfahren nicht satt essen konnten.“
Die Gesichtszüge der Frau, die bei der Ankündigung des Moderators erwartungsvoll und froh gewesen waren, verwischten sich und zeigten nun Zweifel und Unsicherheit.
„Ich“, stammelte sie,
„ich dachte eher an bearbeitetes, wie sagte man damals, gekochtes Fleisch“.
Etzelman lachte lauthals. Diesen Teil der Show in dem die vorher ihrer Sache so sicheren Gäste schwankend wurden und anfingen sich vom Stuhl, auf dem ihnen doch ein Lebenstraum ermöglicht wurde, herunterzuwünschen, liebte er geradezu.
„Selbstverständlich wird mein Assistent das Fleisch kochen, aber sie werden zugeben, liebe Frau Lampenbrecher, dass tierisches Fleisch eben aus Tieren gewonnen werden muss und wie das vor sich geht, wollen wir ihnen und dem Publikum nicht vorenthalten.
Begrüßen sie nun zusammen mit mir meinen Assistenten, den unvergleichlichen Schlacht- und Fleischernmeister Toni Metzler!“
Unter dem eingespielten Applaus trat ein vierschrötiger Mann auf die Bühne. Er trug eine blutbefleckte Schürze und hielt ein Bolzenschussgerät in der rechten Hand.
Er verneigte sich kurz in Richtung Kamera und setzte das Gerät mit geübter Hand an den Kopf des Schweins. Ein scharfer Knall und ein kurzes Quieken, dann fiel das Schwein tot auf die Seite.
Aus der Schürze zog der Fleischer ein riesiges Messer und begann auf offener Bühne das Schwein auszunehmen. Beim Anblick des hervorquellenden Gekröses stöhnte die Frau auf.
Nun begann der Fleischer Innereien in einen bereitstehenden Kessel mit kochendem Wasser zu werfen. Er grinste breit und schabte mit kurzer Handbewegung die Augen des Schweins heraus und war sie ebenfalls in den Kessel.
Die Zeit des Abkochens überbrückte die Regie mit einer Werbepause.
Als die Zeit um war, ließ der Fleischer das Wasser ab und unter theatralischer Orchesterbegleitung rollten Helfer einen Fleischwolf auf die Bühne.
Der abgekochte Fleischbrei durfte noch einige Minuten austrocknen, derweil der Fleischer Darm aus dem Schwein zog und auswusch.
Die Frau war der Hysterie nahe.
„Oh, nein“, stammelte sie, als die schweinernen Exkremente aus dem Darm quollen.
„das haben die niemals so gemacht.“
Sie ließ offen, wen sie meinte, denn Tränen erstickten ihre Stimme.
Der Fleischer schüttete jetzt die Fleischmasse in den Fleischwolf und drehte langsam die Kurbel. Die untere Öffnung spie einen dunkelroten Streifen aus, die irgendwie Nudeln ähnelten.
Die Streifen presste er mit einem spritzenähnlichen Gerät in den Darm und überreichte das fertige Produkt dem Moderator.
Der hielt es in die Höhe.
„Und hier haben wir eine echte, hausgemachte Blutwurst“, schrie er mit falscher Begeisterung in die Kamera.
„die unsere Echtfleischesserin nun mit Genuss verspeisen darf.“
Er näherte sich dem Stuhl, auf dem sich ein kreischendes Etwas aufbäumte und den Fesseln zu entkommen versuchte.
Als der Moderator neben ihr stand und die Wurst über sie hielt, versuchte die Frau mit panischen Bewegungen ihren Kopf außer Reichweite zu bringen.
„Nanu“, wunderte sich der Moderator amüsiert,
„da ist wohl jemand der Appetit vergangen? Na, das ist doch sehr unhöflich, bei dem ganzen Aufwand den wir getrieben haben, um ihren sehnlichsten Wunsch zu erfüllen.“
Er nickte unsichtbaren Helfern zu und eine Vorrichtung sank von aus der Bühnendecke herab. Es war ein maskenähnliches Ding, das der Moderator nun über das Gesicht der Frau schob. Ein Hebel legte sich in der Regie um und der Mund der Frau, von elektrischen Reizen ermuntert, öffnete sich.
Sie schrie gurgelnd.
Der Moderator ließ langsam die Wurst in den Rachen der Frau gleiten. Elektrische Stimuli zwangen die Frau zu Kaubewegungen. Sie biss in die Wurst.
Sie würgte, erbrach und musste doch essen.
Als die Wurst verzehrt war befreite man sie von ihren Fesseln und hob die völlig verstörte Frau aus dem Sessel, stellte sie notdürftig auf die Beine. Gestützt vom Moderator, apathisch, nahm sie ihren tosenden Schlussapplaus entgegen.
Etzelman empfing den Produktionsleiter in seiner Umkleide.
„Wie stehen wir?“, fragte er.
„Oh, heute waren wir grandios. Höchste Einschalte des Monats.“
„Und die Frau?“, Etzelman runzelte die Stirn,
„sind wir nicht vielleicht doch zu weit gegangen?“
„Die wird schon wieder“, entgegnete der Produktionsleiter,
„aber das Stabilitätsministerium hat gratuliert. Siebentausenddreihundertzwölf Echtesser haben ihre Anträge auf echtes Fleisch zurückgezogen. Während der Sendung.“
Lächelnd machte Etzelman das Victoryzeichen.
„Übrigens wie habt ihr das denn hinbekommen? Ich dachte fast, das Schwein wäre echt.“
Der Produktionsleiter grinste.
„Betriebsgeheimnis. Aber soviel kann ich dir sagen: unsere Techniker haben ein Wunder vollbracht. Übrigens, hast Du schon dein Briefing für die nächsten Show bekommen?“
„Ja, sicher“, Etzelman schüttelte den Kopf,
„möchte wissen, wo die Leute immer diese absurden Ideen ausgraben? Natursex! Na das wird ein schönes Gejammer geben, wenn die sich erst einmal bewusst werden, dass sie ihre Ausscheidungsorgane ineinander stecken müssen.“
Er schüttelte sich.
„Aber das gibt mit Sicherheit wieder gute Quote.“