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- 09.12.2019
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Agnes
Münzen aus Silber und Gold. Edelsteine in allen erdenklichen Farben. Glänzende Schmuckstücke. Der Schatz funkelte im Sonnenlicht, das durch die Öffnung in der Decke der Felskammer fiel. Staub schwebte durch die kalte Luft. Die beiden Männer hatten bereits zwei Beutel gefüllt.
„Beeil dich“, sagte einer der beiden, während er einen weiteren Beutel aufhielt. Seine Hände zitterten trotz Handschuhen und Fellmantel.
„Kein Panik“, antwortete der andere Mann, als er erneut in den Schatz griff. „Er wird schon noch ne Weile …“
Die Kammer wurde dunkel. Beide Männer sahen nach oben. Fast die gesamte Öffnung wurde durch die purpurne Bestie versperrt. Regungslos blickte sie aus gelben, kühlen Augen auf sie herab.
Das Ungetüm fauchte. Der Beutel fiel zu Boden, unter einem der Mäntel bildete sich eine gelbe Pfütze. Ein Geruch von Schwefel lag in der Luft. Rote Flammen schossen ihnen entgegen.
„Bist du dir sicher, dass du jetzt noch los möchtest?“, fragte ihr Mann. „Die Dämmerung setzt bald ein, du kannst auch morgen früh zur Kirche.“
„Noch ein wenig frische Luft und Sonne werden uns gut tun“, erwiderte Agnes und legte ihre Hand auf den beginnenden Babybauch. „Hilfst du mir?“
Er nahm den Fellmantel vom Haken neben der Eingangstür und half ihr hinein. „Aber bleib nicht zu lange, die Wölfe kommen immer früher raus.“
„Jawoll“, sagte sie lächelnd, knöpfte den Mantel zu und gab ihm einen Kuss. „Wir werden pünktlich zum Abendessen wieder hier sein.“
„Ach, wusste gar nicht, dass ich dran bin. Da seid ihr beiden euch wohl einig?“ Er streichelte sanft über ihren Bauch, bevor er die Tür öffnete. Kalte Luft drang in die Hütte.
„So ist es“, meinte Agnes und machte sich auf den Weg durch die verschneiten Gassen.
Agnes genoss die Stille und den leicht würzigen Geruch des Weihrauchs, als sie auf einer der Kirchenbänke saß. Mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen flüsterte sie ihr Gebet an Veta, den Gott des Lebens. Bis die Schreie begannen.
Sie riss die Augen auf und sah zu der geschlossenen Kirchentür. Niemand sonst war hier. Der Lärm kam aus dem Dorf, unterhalb der Anhöhe, auf der sich die Kirche befand. Während sie aufstand legte sie wieder die Hand auf den Bauch.
Sie stieß die schwere Holztür auf und lief hinaus. In der einsetzenden Dämmerung standen bereits einige Hütten in Flammen. Der Drache flog einen Bogen und steuerte erneut auf das Dorf zu. Die purpurne Haut schimmerte in der Abendsonne. Einige Bewohner hatten ihre Waffen geholt, Bögen und Speere. Eine Feuerlanze drang aus dem fauchenden Maul, setzte weitere Hütten und Menschen in Flammen. Die Pfeile und geworfenen Speere gingen ins Leere, sie konnten dieser Naturgewalt nichts entgegensetzen.
Agnes begann zu zittern, kniete sich in den Schnee und schloss die Augen. Betete, und erinnerte sich.
Vom Waldrand aus sah Agnes verschwommen das brennende Dorf. Tränen liefen ihre Wangen hinab. Sie wollte nach ihren Eltern rufen, nach ihnen suchen, aber traute sich nicht. Da landete der purpurne Drache nur wenige Meter entfernt. Blickte sie an und neigte den Kopf leicht zur Seite. Trotz ihrer jungen Jahre und der Angst hielt sie dem Blick stand. Bis das Ungetüm das Maul öffnete, fauchte und davon flog.
Die letzten Schmerzensschreie verstummten. Auch auf der Anhöhe spürte sie die Hitze des Drachenfeuers, roch verbranntes Holz und Fleisch. Die Überreste des Dorfes loderten in der beginnenden Dunkelheit. Wer hatte diesen Angriff provoziert?
Ein letztes Mal flog der Drache über das Dorf und sah in ihre Richtung. Auch diesmal hielt sie dem Blick stand, bis er abdrehte und zum Felsengebirge flog.
Agnes stand auf und ging in die Kirche, ohne zurückzublicken.
Die ersten Sonnenstrahlen weckten sie, als sie durch das verstaubte Fenster neben dem Bett schienen. Vögel zwitscherten nicht weit entfernt. Die Illusion einer friedlichen Welt.
Agnes richtete sich auf und erinnerte sich an die Albträume. Die Drachenangriffe, in ihrer Kindheit und gestern, immer wieder. Jedes Mal, wenn sie schweißgebadet aufgewacht war, wurde die Distanz größer. Als würden ihre Erinnerungen zu den Erlebnissen einer fremden Person, die sie mit sich trug.
Ihr Magen schmerzte, der stechende Geruch von Erbrochenem lag in der Luft. Vorsichtig stand sie auf, um nicht hineinzutreten. Die kleine Wohnung des Priesters, im hinteren Teil der Kirche, war spartanisch eingerichtet. Sie fand eine Tasche, die sie auf den Rücken schnallen konnte, und begann, sie mit Vorräten zu füllen. Hinter einer Tür fand sie einen kleinen Abstellbereich. Darin befanden sich einige Brote, außerdem Butter, Käse und Milch. Ein kleines Fenster sorgte für die nötige Kühlung.
Nachdem sie auch Teller, Tasse, Besteck und ein größeres Küchenmesser eingepackt hatte, zog sie den Fellmantel an und ging zur Hintertür. In den Dörfern gibt es keine Sicherheit mehr, dachte sie, als sie die Kirche verließ. Es hatte begonnen, leicht zu schneien.
Die Ruinen des Dorfes lagen unter einer dünnen Schneedecke. Feuer und Rauch waren erstickt. Jemand saß am Rand der zerstörten Siedlung. Als sie näher kam, erkannte sie Tedor, den Sohn des Priesters. Seine kurzen, blonden Haare waren zerzaust und vom Schnee bedeckt. Er blickte apathisch auf die Überreste seiner Heimat. Die Tränen waren bereits getrocknet.
Sie trat neben ihn, betrachtete ebenfalls die Zerstörung. Nach einigen Minuten sah sie ihn an, legte eine Hand auf seine Schulter. „Komm. Hier gibt es nichts mehr.“ Als er nicht reagierte, griff sie unter seine Achseln und zog ihn auf die Beine. Mit dem gleichen leeren Blick wie zuvor sah er zu ihr auf, dann wieder zum Dorf. Aber er blieb stehen.
„Komm“, sagte sie erneut und legte die Hand an seinen Rücken, führte ihn mit sich, in Richtung des Felsengebirges.
Sie folgten dem Pfad von Veta. Er führte hinauf in das Gebirge, entlang der heilenden Quellen und auf der anderen Seite hinab zu den Moorlandschaften der Wassernomaden. Als die Sonne hoch am Himmel stand, rasteten sie. Sie fand eine kleine Höhle, die sie vor dem Wind schützte. Es hatte aufgehört zu schneien.
Tedor war im Abstand von wenigen Metern hinter ihr her gegangen. Er hatte nicht gesprochen, aber zumindest begann er, sich ab und zu umzusehen.
„Setz dich“, sagte sie und schnallte die Tasche ab. Sie nahm Brot und Käse heraus und teilte die Ration mit Tedor. „Iss. Du wirst deine Kraft noch brauchen. Wir kommen bald zu den Quellen, dort können wir trinken.“
Er betrachtete die Nahrung, die sie vor ihn gelegt hatte, rührte sie jedoch nicht an.
„Ich werde dich nicht füttern, entscheide selbst“, ergänzte sie und begann zu essen. Sie füllte die Tasse mit Milch und hielt sie dem Jungen hin, aber wieder reagierte er nicht.
Als sie dabei war, alles wieder in die Tasche zu packen, sprach Tedor zum ersten Mal. „Wohin gehen wir?“
Überrascht sah sie auf, er blickte sie mit seinen blauen Augen an. „Ich hoffe, den Pfad von Fegnis zu finden. Der Weg des Feuers, zum Dach der Welt.“
Tedor schwieg einige Sekunden. „Zum Drachen. Du willst zum Drachen.“
„Ja. Hier unten gibt es keine Sicherheit, es gibt noch zu viele von ihnen.“
„Meine Mutter hat mir mal davon erzählt, bevor sie …“ Tränen rannen seine Wangen hinab. Er wischte sie weg, versuchte sich zu fassen. „Das Bündnis der Mütter, zwischen Mensch und Drache. Aber es ist ein Mythos, oder nicht?“
„Wir werden sehen.“
Sie konnte das Plätschern der Quellen bereits hören. Wenige Minuten später erreichten sie ein Plateau, nicht weit vom steinernen Weg entfernt begann der See. Er führte in eine große Höhle, verschwand dort in der Finsternis. Im Abstand von mehreren Metern sprudelten die Quellen hervor.
„Trink, es wird dir gut tun“, sagte sie, als sie erneut die Tasche abnahm. Bevor sie selbst trank, betrachtete sie sich auf der blauen Wasseroberfläche, die wie ein Spiegel wirkte. Die helle Haut, die schwarzen Haare, zu einem Zopf geflochten. Sie erkannte die Frau, Agnes, die mit ihr im gleichen Körper lebte. Aber sie würde sie nicht mehr zu sich lassen, so naiv und verletzlich, wie sie war.
Nachdem sie vom Wasser getrunken hatte und die belebende Wirkung spürte, füllte sie die beiden ledernen Wasserschläuche, die sie ebenfalls in der Wohnung des Priesters gefunden hatte.
„Nach einer Überlieferung führt der Weg von Veta durch das Wasser zu Fegnis Pfad des Feuers“, erklärte sie, als sie in Richtung des Sees und der Höhle blickte. „Du wirst dich entscheiden müssen, ob du mir folgst oder deinen eigenen Weg gehst.“
Tedor und sie hielten die Tasche über Wasser, als sie sich von der Strömung des Sees ins Innere des Berges ziehen ließen. Trotz der Finsternis fühlten sie sich beschützt, umgeben vom warmen Wasser, das sie behutsam führte. Sie hatten ihr Zeitgefühl verloren, irgendwann wurde es jedoch wieder heller. Sie steuerten auf eine Kammer zu, legten die Tasche auf den felsigen Boden und kletterten an Land.
Sie blickte sich um, der riesige Innenraum lief nach oben wie ein Trichter zusammen. Weit über ihnen kamen Sonnenlicht und Schneeflocken durch eine Öffnung. Zerschmetterte Skelette säumten den Boden. Am Rand der Kammer befand sich ein steinerner Weg, der an der Wand entlang wie eine endlose Spirale nach oben führte.
„Wer hat das hier gebaut?“, wollte Tedor wissen.
„Ich weiß es nicht, aber in den frühen Zeitaltern haben noch ganz andere Geschöpfe diese Welt bewohnt und den Drachen gedient.“ Sie schnallte sich die Tasche um und ging zu dem hinauf führenden Weg. „Lass uns gehen.“
Ihre Tochter sah sie an und lächelte. Es war das Lächeln eines Totenkopfes, sie bestand nur noch aus Haut und Knochen. „Ich möchte leben. Warum lässt du mich sterben?“
Sie konnte nicht antworten, der Mund war wie zugenäht. Tränen füllten ihre Augen.
Das Gesicht ihrer Tochter wurde zu einer Fratze. „Ich will leben“, schrie sie.
Sie wachte schweißgebadet auf und sah sich um. Es war die zweite Nacht auf dem endlosen, schmalen Weg, durch das Mondlicht über ihr konnte sie zumindest Umrisse erkennen. Die Vorräte waren fast aufgebraucht, sie hatten jedoch gerade erst die Hälfte geschafft. „Ich werde dich nicht sterben lassen“, flüsterte sie und streichelte mit der Hand über ihren Bauch.
Sie nahm das große Küchenmesser aus der Tasche und sah Tedor einige Minuten an, neigte den Kopf zur Seite. Auch er schwitzte und murmelte im Schlaf vor sich hin. „Dein Leben für das meiner Tochter“, sagte sie und stach ihm das Messer in den Hals. Blut spritzte aus der Wunde, als sie es herauszog. Tedor drückte die Hände auf den Schwall, strampelte mit den Beinen. Sein ganzer Körper bebte, aber es wurde weniger, immer weniger, bis er still liegen blieb. Seine Augen starrten sie im Mondlicht anklagend an. Sie brauchte Nahrung und machte sich mit dem Küchenmesser an die Arbeit.
Das Sonnenlicht ließ ihre Augen schmerzen und tränen. Gesicht und Hände waren von getrocknetem Blut bedeckt. Sie blickte sich um, konnte die Welt überblicken. Die tieferen, schneebedeckten Berge. Im Tal zur einen Seite die Moorlandschaften, zur anderen die Wiesen und Wälder, wo ihre Heimat gewesen war. Unter der Schneedecke waren die Überreste des Dorfes schon nicht mehr zu erkennen.
Nicht weit entfernt sah sie den Eingang einer Höhle, die in den Gipfel des Berges führte. Bevor sie eintrat, suchte sie den Himmel ab, nur vereinzelte Schleierwolken waren zu sehen.
Es dauerte nicht lange, bis die Höhle in eine große Felskammer führte. Unter der Öffnung in der Decke befand sich der Schatz, dessen Legende schon so viel Leid gebracht hatte. Jeder Diebstahl oder nur der Versuch wurde erbarmungslos bestraft.
Sie sah sich um und entdeckte am Rand der Kammer vier Dracheneier. Mit blutigen Händen berührte sie sie, als wäre sie blind und wollte ihre Form ertasten. Das größte Ei nahm sie mit und setze sich im Schneidersitz unter die Öffnung. Eine Hand berührte das Ei, die andere ihren Bauch. Sie wartete und betete zu Veta.
Es wurde finster. Sie öffnete die Augen und blickte nach oben. Der purpurne Drache sah sie und das Drachenei an, die gelben Augen weit geöffnet. Abwägend.
Sie durfte dem Blick auch diesmal nicht ausweichen, nicht einmal blinzeln. Aber jemand versuchte sie zu stören. Agnes. Ihre Angst drang zu ihr durch, ließ sie erzittern. Sie streichelte mit der Hand ihren Bauch. Es war nun ihr Kind, niemand würde sich dazwischen stellen. Während sie dem Drachen weiter in die Augen blickte, drängte sie Agnes zurück. Stellte sich einen Raum vor, in den sie sie schubste und einschloss. Versuchte, ihre Schreie zu ignorieren.
Das Ungetüm schwebte mit ausgestreckten Flügeln herab und kam mit seinem Kopf ganz nah an ihren. Beide hielten den Blick, Minuten vergingen, bis der Drache die Augen zumachte und das Haupt senkte. Sie lehnte den Kopf an seinen und schloss ebenfalls die Lider.
„Sollen wir nicht doch besser umkehren?“, fragte einer der beiden Männer.
„Warum? Es ist schon seit Jahren kein Drache mehr gesehen worden, also stell dich mal nicht so an. Wer weiß, vielleicht finden wir ja was. Ich bin bestimmt nicht hier rauf gekommen, um direkt wieder abzuhauen.“
Als sie sich der Höhle näherten, erschien ein Mädchen im Eingang. Mit heller Haut und schwarzen Haaren, zu einem Zopf geflochten. Sie lächelte die Männer an und verschwand in der Dunkelheit.
„Hey, warte“, rief einer der beiden, bevor sie hinterherliefen.
Sie erreichten die Kammer und blieben mit offenen Mündern stehen, als sie den Schatz sahen. „Heiliger Veta!“
Das Mädchen stand am Rand der Kammer, noch immer lächelnd.
„Du hast ja bestimmt nichts dagegen, wenn wir uns ein wenig bedienen, oder?“, fragte einer der beiden, während sie sich den Reichtümern näherten. „Wohnst du hier? Wo sind deine Eltern?“
Das Lächeln des Mädchens verschwand. „Sie sind tot. So wie ihr.“
Vier kleine Drachen flogen in die Höhle, bevor es dunkel wurde. Noch ehe die Männer wussten, was passierte, hüllten gleißende Flammen sie von allen Seiten ein.
"Ich habe keinen Namen", war das Letzte, was sie hörten.
„Beeil dich“, sagte einer der beiden, während er einen weiteren Beutel aufhielt. Seine Hände zitterten trotz Handschuhen und Fellmantel.
„Kein Panik“, antwortete der andere Mann, als er erneut in den Schatz griff. „Er wird schon noch ne Weile …“
Die Kammer wurde dunkel. Beide Männer sahen nach oben. Fast die gesamte Öffnung wurde durch die purpurne Bestie versperrt. Regungslos blickte sie aus gelben, kühlen Augen auf sie herab.
Das Ungetüm fauchte. Der Beutel fiel zu Boden, unter einem der Mäntel bildete sich eine gelbe Pfütze. Ein Geruch von Schwefel lag in der Luft. Rote Flammen schossen ihnen entgegen.
„Bist du dir sicher, dass du jetzt noch los möchtest?“, fragte ihr Mann. „Die Dämmerung setzt bald ein, du kannst auch morgen früh zur Kirche.“
„Noch ein wenig frische Luft und Sonne werden uns gut tun“, erwiderte Agnes und legte ihre Hand auf den beginnenden Babybauch. „Hilfst du mir?“
Er nahm den Fellmantel vom Haken neben der Eingangstür und half ihr hinein. „Aber bleib nicht zu lange, die Wölfe kommen immer früher raus.“
„Jawoll“, sagte sie lächelnd, knöpfte den Mantel zu und gab ihm einen Kuss. „Wir werden pünktlich zum Abendessen wieder hier sein.“
„Ach, wusste gar nicht, dass ich dran bin. Da seid ihr beiden euch wohl einig?“ Er streichelte sanft über ihren Bauch, bevor er die Tür öffnete. Kalte Luft drang in die Hütte.
„So ist es“, meinte Agnes und machte sich auf den Weg durch die verschneiten Gassen.
Agnes genoss die Stille und den leicht würzigen Geruch des Weihrauchs, als sie auf einer der Kirchenbänke saß. Mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen flüsterte sie ihr Gebet an Veta, den Gott des Lebens. Bis die Schreie begannen.
Sie riss die Augen auf und sah zu der geschlossenen Kirchentür. Niemand sonst war hier. Der Lärm kam aus dem Dorf, unterhalb der Anhöhe, auf der sich die Kirche befand. Während sie aufstand legte sie wieder die Hand auf den Bauch.
Sie stieß die schwere Holztür auf und lief hinaus. In der einsetzenden Dämmerung standen bereits einige Hütten in Flammen. Der Drache flog einen Bogen und steuerte erneut auf das Dorf zu. Die purpurne Haut schimmerte in der Abendsonne. Einige Bewohner hatten ihre Waffen geholt, Bögen und Speere. Eine Feuerlanze drang aus dem fauchenden Maul, setzte weitere Hütten und Menschen in Flammen. Die Pfeile und geworfenen Speere gingen ins Leere, sie konnten dieser Naturgewalt nichts entgegensetzen.
Agnes begann zu zittern, kniete sich in den Schnee und schloss die Augen. Betete, und erinnerte sich.
Vom Waldrand aus sah Agnes verschwommen das brennende Dorf. Tränen liefen ihre Wangen hinab. Sie wollte nach ihren Eltern rufen, nach ihnen suchen, aber traute sich nicht. Da landete der purpurne Drache nur wenige Meter entfernt. Blickte sie an und neigte den Kopf leicht zur Seite. Trotz ihrer jungen Jahre und der Angst hielt sie dem Blick stand. Bis das Ungetüm das Maul öffnete, fauchte und davon flog.
Die letzten Schmerzensschreie verstummten. Auch auf der Anhöhe spürte sie die Hitze des Drachenfeuers, roch verbranntes Holz und Fleisch. Die Überreste des Dorfes loderten in der beginnenden Dunkelheit. Wer hatte diesen Angriff provoziert?
Ein letztes Mal flog der Drache über das Dorf und sah in ihre Richtung. Auch diesmal hielt sie dem Blick stand, bis er abdrehte und zum Felsengebirge flog.
Agnes stand auf und ging in die Kirche, ohne zurückzublicken.
Die ersten Sonnenstrahlen weckten sie, als sie durch das verstaubte Fenster neben dem Bett schienen. Vögel zwitscherten nicht weit entfernt. Die Illusion einer friedlichen Welt.
Agnes richtete sich auf und erinnerte sich an die Albträume. Die Drachenangriffe, in ihrer Kindheit und gestern, immer wieder. Jedes Mal, wenn sie schweißgebadet aufgewacht war, wurde die Distanz größer. Als würden ihre Erinnerungen zu den Erlebnissen einer fremden Person, die sie mit sich trug.
Ihr Magen schmerzte, der stechende Geruch von Erbrochenem lag in der Luft. Vorsichtig stand sie auf, um nicht hineinzutreten. Die kleine Wohnung des Priesters, im hinteren Teil der Kirche, war spartanisch eingerichtet. Sie fand eine Tasche, die sie auf den Rücken schnallen konnte, und begann, sie mit Vorräten zu füllen. Hinter einer Tür fand sie einen kleinen Abstellbereich. Darin befanden sich einige Brote, außerdem Butter, Käse und Milch. Ein kleines Fenster sorgte für die nötige Kühlung.
Nachdem sie auch Teller, Tasse, Besteck und ein größeres Küchenmesser eingepackt hatte, zog sie den Fellmantel an und ging zur Hintertür. In den Dörfern gibt es keine Sicherheit mehr, dachte sie, als sie die Kirche verließ. Es hatte begonnen, leicht zu schneien.
Die Ruinen des Dorfes lagen unter einer dünnen Schneedecke. Feuer und Rauch waren erstickt. Jemand saß am Rand der zerstörten Siedlung. Als sie näher kam, erkannte sie Tedor, den Sohn des Priesters. Seine kurzen, blonden Haare waren zerzaust und vom Schnee bedeckt. Er blickte apathisch auf die Überreste seiner Heimat. Die Tränen waren bereits getrocknet.
Sie trat neben ihn, betrachtete ebenfalls die Zerstörung. Nach einigen Minuten sah sie ihn an, legte eine Hand auf seine Schulter. „Komm. Hier gibt es nichts mehr.“ Als er nicht reagierte, griff sie unter seine Achseln und zog ihn auf die Beine. Mit dem gleichen leeren Blick wie zuvor sah er zu ihr auf, dann wieder zum Dorf. Aber er blieb stehen.
„Komm“, sagte sie erneut und legte die Hand an seinen Rücken, führte ihn mit sich, in Richtung des Felsengebirges.
Sie folgten dem Pfad von Veta. Er führte hinauf in das Gebirge, entlang der heilenden Quellen und auf der anderen Seite hinab zu den Moorlandschaften der Wassernomaden. Als die Sonne hoch am Himmel stand, rasteten sie. Sie fand eine kleine Höhle, die sie vor dem Wind schützte. Es hatte aufgehört zu schneien.
Tedor war im Abstand von wenigen Metern hinter ihr her gegangen. Er hatte nicht gesprochen, aber zumindest begann er, sich ab und zu umzusehen.
„Setz dich“, sagte sie und schnallte die Tasche ab. Sie nahm Brot und Käse heraus und teilte die Ration mit Tedor. „Iss. Du wirst deine Kraft noch brauchen. Wir kommen bald zu den Quellen, dort können wir trinken.“
Er betrachtete die Nahrung, die sie vor ihn gelegt hatte, rührte sie jedoch nicht an.
„Ich werde dich nicht füttern, entscheide selbst“, ergänzte sie und begann zu essen. Sie füllte die Tasse mit Milch und hielt sie dem Jungen hin, aber wieder reagierte er nicht.
Als sie dabei war, alles wieder in die Tasche zu packen, sprach Tedor zum ersten Mal. „Wohin gehen wir?“
Überrascht sah sie auf, er blickte sie mit seinen blauen Augen an. „Ich hoffe, den Pfad von Fegnis zu finden. Der Weg des Feuers, zum Dach der Welt.“
Tedor schwieg einige Sekunden. „Zum Drachen. Du willst zum Drachen.“
„Ja. Hier unten gibt es keine Sicherheit, es gibt noch zu viele von ihnen.“
„Meine Mutter hat mir mal davon erzählt, bevor sie …“ Tränen rannen seine Wangen hinab. Er wischte sie weg, versuchte sich zu fassen. „Das Bündnis der Mütter, zwischen Mensch und Drache. Aber es ist ein Mythos, oder nicht?“
„Wir werden sehen.“
Sie konnte das Plätschern der Quellen bereits hören. Wenige Minuten später erreichten sie ein Plateau, nicht weit vom steinernen Weg entfernt begann der See. Er führte in eine große Höhle, verschwand dort in der Finsternis. Im Abstand von mehreren Metern sprudelten die Quellen hervor.
„Trink, es wird dir gut tun“, sagte sie, als sie erneut die Tasche abnahm. Bevor sie selbst trank, betrachtete sie sich auf der blauen Wasseroberfläche, die wie ein Spiegel wirkte. Die helle Haut, die schwarzen Haare, zu einem Zopf geflochten. Sie erkannte die Frau, Agnes, die mit ihr im gleichen Körper lebte. Aber sie würde sie nicht mehr zu sich lassen, so naiv und verletzlich, wie sie war.
Nachdem sie vom Wasser getrunken hatte und die belebende Wirkung spürte, füllte sie die beiden ledernen Wasserschläuche, die sie ebenfalls in der Wohnung des Priesters gefunden hatte.
„Nach einer Überlieferung führt der Weg von Veta durch das Wasser zu Fegnis Pfad des Feuers“, erklärte sie, als sie in Richtung des Sees und der Höhle blickte. „Du wirst dich entscheiden müssen, ob du mir folgst oder deinen eigenen Weg gehst.“
Tedor und sie hielten die Tasche über Wasser, als sie sich von der Strömung des Sees ins Innere des Berges ziehen ließen. Trotz der Finsternis fühlten sie sich beschützt, umgeben vom warmen Wasser, das sie behutsam führte. Sie hatten ihr Zeitgefühl verloren, irgendwann wurde es jedoch wieder heller. Sie steuerten auf eine Kammer zu, legten die Tasche auf den felsigen Boden und kletterten an Land.
Sie blickte sich um, der riesige Innenraum lief nach oben wie ein Trichter zusammen. Weit über ihnen kamen Sonnenlicht und Schneeflocken durch eine Öffnung. Zerschmetterte Skelette säumten den Boden. Am Rand der Kammer befand sich ein steinerner Weg, der an der Wand entlang wie eine endlose Spirale nach oben führte.
„Wer hat das hier gebaut?“, wollte Tedor wissen.
„Ich weiß es nicht, aber in den frühen Zeitaltern haben noch ganz andere Geschöpfe diese Welt bewohnt und den Drachen gedient.“ Sie schnallte sich die Tasche um und ging zu dem hinauf führenden Weg. „Lass uns gehen.“
Ihre Tochter sah sie an und lächelte. Es war das Lächeln eines Totenkopfes, sie bestand nur noch aus Haut und Knochen. „Ich möchte leben. Warum lässt du mich sterben?“
Sie konnte nicht antworten, der Mund war wie zugenäht. Tränen füllten ihre Augen.
Das Gesicht ihrer Tochter wurde zu einer Fratze. „Ich will leben“, schrie sie.
Sie wachte schweißgebadet auf und sah sich um. Es war die zweite Nacht auf dem endlosen, schmalen Weg, durch das Mondlicht über ihr konnte sie zumindest Umrisse erkennen. Die Vorräte waren fast aufgebraucht, sie hatten jedoch gerade erst die Hälfte geschafft. „Ich werde dich nicht sterben lassen“, flüsterte sie und streichelte mit der Hand über ihren Bauch.
Sie nahm das große Küchenmesser aus der Tasche und sah Tedor einige Minuten an, neigte den Kopf zur Seite. Auch er schwitzte und murmelte im Schlaf vor sich hin. „Dein Leben für das meiner Tochter“, sagte sie und stach ihm das Messer in den Hals. Blut spritzte aus der Wunde, als sie es herauszog. Tedor drückte die Hände auf den Schwall, strampelte mit den Beinen. Sein ganzer Körper bebte, aber es wurde weniger, immer weniger, bis er still liegen blieb. Seine Augen starrten sie im Mondlicht anklagend an. Sie brauchte Nahrung und machte sich mit dem Küchenmesser an die Arbeit.
Das Sonnenlicht ließ ihre Augen schmerzen und tränen. Gesicht und Hände waren von getrocknetem Blut bedeckt. Sie blickte sich um, konnte die Welt überblicken. Die tieferen, schneebedeckten Berge. Im Tal zur einen Seite die Moorlandschaften, zur anderen die Wiesen und Wälder, wo ihre Heimat gewesen war. Unter der Schneedecke waren die Überreste des Dorfes schon nicht mehr zu erkennen.
Nicht weit entfernt sah sie den Eingang einer Höhle, die in den Gipfel des Berges führte. Bevor sie eintrat, suchte sie den Himmel ab, nur vereinzelte Schleierwolken waren zu sehen.
Es dauerte nicht lange, bis die Höhle in eine große Felskammer führte. Unter der Öffnung in der Decke befand sich der Schatz, dessen Legende schon so viel Leid gebracht hatte. Jeder Diebstahl oder nur der Versuch wurde erbarmungslos bestraft.
Sie sah sich um und entdeckte am Rand der Kammer vier Dracheneier. Mit blutigen Händen berührte sie sie, als wäre sie blind und wollte ihre Form ertasten. Das größte Ei nahm sie mit und setze sich im Schneidersitz unter die Öffnung. Eine Hand berührte das Ei, die andere ihren Bauch. Sie wartete und betete zu Veta.
Es wurde finster. Sie öffnete die Augen und blickte nach oben. Der purpurne Drache sah sie und das Drachenei an, die gelben Augen weit geöffnet. Abwägend.
Sie durfte dem Blick auch diesmal nicht ausweichen, nicht einmal blinzeln. Aber jemand versuchte sie zu stören. Agnes. Ihre Angst drang zu ihr durch, ließ sie erzittern. Sie streichelte mit der Hand ihren Bauch. Es war nun ihr Kind, niemand würde sich dazwischen stellen. Während sie dem Drachen weiter in die Augen blickte, drängte sie Agnes zurück. Stellte sich einen Raum vor, in den sie sie schubste und einschloss. Versuchte, ihre Schreie zu ignorieren.
Das Ungetüm schwebte mit ausgestreckten Flügeln herab und kam mit seinem Kopf ganz nah an ihren. Beide hielten den Blick, Minuten vergingen, bis der Drache die Augen zumachte und das Haupt senkte. Sie lehnte den Kopf an seinen und schloss ebenfalls die Lider.
„Sollen wir nicht doch besser umkehren?“, fragte einer der beiden Männer.
„Warum? Es ist schon seit Jahren kein Drache mehr gesehen worden, also stell dich mal nicht so an. Wer weiß, vielleicht finden wir ja was. Ich bin bestimmt nicht hier rauf gekommen, um direkt wieder abzuhauen.“
Als sie sich der Höhle näherten, erschien ein Mädchen im Eingang. Mit heller Haut und schwarzen Haaren, zu einem Zopf geflochten. Sie lächelte die Männer an und verschwand in der Dunkelheit.
„Hey, warte“, rief einer der beiden, bevor sie hinterherliefen.
Sie erreichten die Kammer und blieben mit offenen Mündern stehen, als sie den Schatz sahen. „Heiliger Veta!“
Das Mädchen stand am Rand der Kammer, noch immer lächelnd.
„Du hast ja bestimmt nichts dagegen, wenn wir uns ein wenig bedienen, oder?“, fragte einer der beiden, während sie sich den Reichtümern näherten. „Wohnst du hier? Wo sind deine Eltern?“
Das Lächeln des Mädchens verschwand. „Sie sind tot. So wie ihr.“
Vier kleine Drachen flogen in die Höhle, bevor es dunkel wurde. Noch ehe die Männer wussten, was passierte, hüllten gleißende Flammen sie von allen Seiten ein.
"Ich habe keinen Namen", war das Letzte, was sie hörten.
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