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Albas Reise
Albas Reise
Alba erhob sich und schlug die Augen auf, das Feuer war schon niedergebrannt. Er reckte seine steifen Glieder. Dieser Tag würde wieder so werden, wie der gestrige und der morgige, und wie jeder Tag in seinem Leben, dachte er. - Wie er sich irrte.
Seine wenigen Habseligkeiten waren schnell gepackt, und so machte er sich noch im Morgengrauen auf den Weg. Als er an einem Beerenstrauch vorbeikam, da dauerte es nicht lange, und sie waren in seinem Rachen und in seiner Umhängetasche verschwunden. Später vernahm er ein Plätschern und merkte, wie durstig ihn die Beeren gemacht haben. Gierig trank er das Wasser, das in einer dünnen Strasse über die Steine lief, als warte am Ende der Reise seine Liebste auf es. Von diesem Gedanken gepackt viel es Alba schwer, seine Gefühle im Zaun zu behalten. Ob am Ende seiner Reise wohl die Liebe warten würde?
Mit einem Ruck brachte er seine Gedanken wieder auf eine nützliche Ebene. Flennen, das war etwas, was sich kein einsamer Wanderer leisten konnte, wenn er in dieser unwirtlichen Welt überleben wollte. Er wanderte noch den ganzen Tag weiter. Äste schlugen ihm ins Gesicht, Wurzeln fassten nach seinen Füssen und braunrote Eichhörnchen schrien ihn keck von den Baumwipfeln herab an. - Es war ein Tag wie jeder andere. Am Abend war er erschöpft, und die Füsse taten ihm weh. Als ein leichter Nieselregen einsetzte, entschied sich Alba dazu, ein Nachtlager aufzuschlagen. Er verzehrte die restlichen Beeren, trank etwas aus seinem Behälter. Er wollte auch ein Feuer entzünden, aber die Regentropfen wurden grösser, und nach einigen erfolglosen Versuchen gab er auf. Dann suchte er die Umgebung nach Kaninchenlöchern ab, wenn er eines fand, lachte er vor Freude und legte eine Schlinge über das Loch. Zufrieden mit sich und der Welt legte er sich schlafen.
Ein Tropfen weckte Alba aus einem ruhigen Schlaf. Verärgert strich er sich mit der Hand über die Augenhöhle. Er war gerade wieder am Einschlafen, als er Geräusche vernahm. So leise wie möglich richtete er sich auf. Stimmen. Es schien, als kämen sie näher.
Lautlos erhob er sich, um sich hinter einem Baum zu verstecken, doch zu spät, sie waren schon da. Unbeweglich verharrte Alba noch halb in der Aufsteh-Bewegung. Er konnte nur hoffen, dass sie ihn im Dämmerlicht nicht entdeckten. Auf der Lichtung, die Alba zu seinem Schlafplatz erkoren hatte, blieben sie stehen. Als der grösste von ihnen mit rauer Stimme zu sprechen begann, kamen Alba zum ersten Mal Zweifel an der Menschlichkeit dieser Gestalten. Diese rauen Stimmen, die Unfähigkeit, sich durch den Wald zu bewegen, und nicht zuletzt die schiere Grösse versetzten Alba für einen kurzen Moment zurück in die Vergangenheit, in die Zeit, als er noch am Herd gesessen hatte, und sein Grossvater die unglaublichsten Geschichten erzählt hatte. Sie handelten von Helden, Ungeheuern wie die Goblins, Mantikoren und Orks. Wenn dieser kleine Knirps mit den grossen Augen damals gewusst hätte, dass diese Monster tatsächlich existierten, wäre er vor Angst die ganze Zeit im Haus geblieben.
Ein kalter Schweisstropfen, der Alba den Rücken hinab lief, rief ihn aus der gemütlichen Vergangenheit in die unangenehme Lage der Gegenwart zurück. Da standen sie vor ihm, zwei Schritt grosse Kreaturen. Die kleinen Augen schienen die Dunkelheit zu durchdringen, wie ein Messer Seide. Ihre stark behaarten Körper stanken, als hätten sich die Orks schon seit Jahren nicht mehr gewaschen, was wahrscheinlich sogar der Wahrheit entsprach. Doch trotz der empfindlichen Augen nahmen sie Alba nicht wahr. Er dankte den Göttern dafür. Als die Orks nach einer kurzen Verschnaufpause weitermarschierten, sackte Alba erschöpft den Baumstamm entlang zu Boden. Nachdem er seine Hand wieder ohne zu sehr zu zittern in der Luft halten konnte, packte er seine Sachen zusammen. Er wollte wieder Menschen begegnen. Und da diese Orks sicher hier waren, um einen Hof oder ein kleines Dorf anzugreifen, fasste er den Beschluss, diesen Hof vorzuwarnen. Schnell waren seine wenigen Habseligkeiten gepackt. Lautlos wie eine Katze in der Finsternis rannte Alba den Orks hinterher. Er schlug einen Bogen, um nicht geradewegs von hinten über die Orks zu stolpern. Nach einem Weilchen hörte er ein Knacken vor sich. Orks? Liefen sie so schnell? Ein zweites Knacken liess ihn die Beantwortung dieser Frage auf später verschieben. Er liess einen neuen Vorsprung zwischen sich und den Orks entstehen. Dann schlug er einen noch grösseren Bogen. Er rannte so schnell er konnte, ohne zu viele Geräusche zu machen.
Ein Licht in der Dunkelheit zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Leise schlich er sich an. Hinter einer Holzpalisade lag ein kleines Dörfchen. Auf einem hölzernen Turm sass ein alter Mann und schlief fest. Andere Wachen waren nicht zu sehen. Es fiel Alba nicht leicht, seine Existenz aufzugeben, um Menschen zu retten, Menschen, die wahrscheinlich nicht besser waren als diejenigen, die ihn zu einem einsamen Leben gezwungen hatten. Nach einigen Augenblicken, die für Alba langsam wie Stunden vergingen, trat er aus der beschützenden Dunkelheit des Waldes. Als er sich auf wenige Schritten den Palisaden genähert hatte, fing ein Hund zu bellen an. Andere fielen mit ein. Nach wenigen Augenblicken sah sich Alba den wenigen Wachen des Dorfes ausgeliefert, nach und nach trafen auch die Dorfbewohner, die bis vor kurzem noch geschlafen hatten, ein. "Orks! Orks kommen hierher!", war alles, was Alba in diesem Moment über die Lippen brachte.
Die Bewohner Feldheims, so hiess das Dorf, redeten durcheinander. Einige meinten, er wäre bloss ein Dieb, der sich aus einer heiklen Lage befreien suchte. Als einige diesen Gedanken äusserten, bereute Alba, dass er die Dorfbewohner nicht einfach ihrem Schicksal überlassen hatte. Doch einige weiniger misstrauische Personen des Dorfes schenkten Albas Rede Glauben, gingen wieder ins Haus und kamen mit einem Speer, einem Jagdbogen oder einer Mistgabel wieder hinaus. So waren wenigstens einige Dorfbewohner gefasst, als ein blutrünstiger Schrei von jenseits der Palisade erklang. Doch kein Bericht eines einsamen Wanderers und keine Waffe konnten sie auf das vorbereiten, was sie in Kürze erleben würden. Eine schwarze Masse quoll durch den wagenbreiten Durchgang im Palisadenwall, schwang heulend und nach Blut lechzend Säbel und grobschlächtige Schwerter. Die wenigen Kinder und Frauen, welche sich auf dem Dorfplatz befanden, wurden zuerst hingeschlachtet. Jedes Mal, wenn ein Ork Blut vergoss stiess er einen ekstatischen Schrei aus. Die wenigen Menschen, die das Glück hatten, Waffen zu tragen, waren schnell umringt und wurden, auch wenn sie noch so tapfer kämpften, von der Schwarzen Flut hinweggespült.
Nach wenigen Augenblicken, wie sie noch keiner der hier Anwesenden je erlebt hatte, sahen sich die Dorfbewohner an die Palisaden zurückgedrängt. Mit dem Mut der Verzweiflung bäumten sie sich wie ein verletztes Raubtier ein letztes Mal auf, um die verbliebenen zu retten, die noch in den Hütten waren. Alba hatte einem Gefallenen ein Schwert abgenommen, das er nun mehr mit der Kraft des dem Untergang geweihten als mit Können schwang. Als er sah, wie die Dorfbewohner wieder zurückgedrängt wurden, sich nur noch kraftlos und ohne Hoffnung der Schläge erwehrten, die auf sie niederprasselten, wünschte er sich ein weiteres Mal, er wäre im Wald geblieben.
Der Angriff traf die Ungeheuer völlig unerwartet. Alle verbliebenen Dorfbewohner, darunter auch Kinder, hatten sich im Rücken der Orks versammelt und stürmten nun von hinten auf die Orks zu. Die letzte Reihe der Orks wurde von hinten erdolcht, bevor auch noch irgendeine der Bestien begriff, was vor sich ging. Durch das Kampfgeschrei ihrer Frauen und Kinder und das Brüllen ihrer Feinde fassten die in die Ecke getriebenen neuen Mut.
Es stank. Schwarzer Qualm stieg aus dem Dorf auf. Überall waren Menschen damit beschäftigt, Orkleichen auf Karren zu laden und zum Dorfplatz zu bringen, wo bereits ein grosses Feuer brannte. Der alte und schwerhörige Aaron, der die Schlacht in seiner Hütte verschlafen hatte, sah sich um. Er stiess einen der verbliebenen Männer mit dem Ellbogen an und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Auch dieser schaute sich daraufhin um. Er ging zu seinem Onkel, der älteste, der am Kampf teilgenommen hatte. "Wo ist der Wanderer von letzter Nacht?" Der Onkel sah seinen Neffen an.
"Ist er nicht mehr da?"
"Wir können ihn nicht finden."
"Dann wird er wohl weitergewandert sein."
Alba blickte noch einmal zurück. Feldheim lag friedlich unter ihm. Nur noch eine schwarze Qualmsäule und der leichte Geruch von verbranntem Haar erinnerten an letzte Nacht. Alba drehte sich um, schulterte sein Bündel mit gestohlenem Fleisch und Brot und trat in den Schatten des Waldes hinein.