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Als das Unglück auf Kotte zurollte

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11.06.2020
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Als das Unglück auf Kotte zurollte

Wie ein siechender Einsiedler saß Kotte auf seinem Holzstuhl, der Rücken gekrümmt, das Gesicht fahl vom fehlenden Tageslicht. Er hatte sich alles andere gewünscht, nur nicht diesen Job. Aber was war ihm übriggeblieben? Nach seinem Motorradunfall war er von einer Sekunde auf die andere arbeitsunfähig geworden und bettelarm zugleich. Und er hätte sich Zeit seines Lebens mit ein paar Groschen aus Unfallversicherung und Rente zufrieden geben müssen, hätte nicht ausgerechnet das oberste Komitee dafür gesorgt, dass er diesen Job als Hüter des Archivs der Curas Versicherung bekam. So verbrachte er den Arbeitstag damit, einsam im Keller des Gebäudes die abgelegten Papiere zu bewachen und bei Bedarf das eine oder andere Dokument, das noch nicht digitalisiert war, auszuleihen.
Das Komitee, von dem soeben die Rede war, war der Schwarzmarkt der städtischen Verwaltung. Es bestand aus den Anführern und Strippenziehern der Prostitution, des Drogengeschäfts, der Arbeitsvermittlung (Abteilung Osteuropa) und einigen wenigen Clanleuten. Sie trieben ihr Wesen in einer Art Parallelverwaltung, die genau dort, wo die örtliche Verwaltung keinen Fuß in die Tür bekam, für auffallend geordnete Zustände sorgte.
Kotte war damals dankbar gewesen, dass sich jemand um ihn gekümmert hatte. Nicht dass er Teil dieser nützlichen, wenn auch illegalen Stadtteilregierung gewesen wäre. Nein, ganz und gar nicht. Er gehörte lediglich früher einer Motorradgang an, hatte aber keine wichtige Funktion. Das reichte aber schon, nach dem Unfall in den Genuss solidarischer Hilfe zu gelangen. Die Connections des Komitees zur Spitze der Curas Versicherung reichten, diesen an sich überflüssigen Arbeitsplatz einzurichten und mit ihm, Konrad Teichmann, seit ewigen Zeiten Kotte genannt, zu besetzen.

Die Entlohnung von 1200 Euro im Monat entsprach der von osteuropäischen Schwarzarbeitern auf dem Bau und reichte weder zum Leben noch zum Sterben, aber Kotte war klug genug, sein Leben und das seiner über alles geliebten Ehegattin Marga rechtzeitig den prekären Bezügen anzupassen, um nicht in noch größere Not zu gelangen.
Das sah man ihrer Wohnung und den Speisen, mit denen Marga ihren Mann täglich nach der Arbeit empfing, auf den ersten Blick an. Die Dachgeschosswohnung war groß genug für die beiden, aber damit hörten die Vorzüge auch schon auf. Die Wände waren rissig, die Dielen verschlissen, das Mobiliar abgenutzt und nur durch Einzelstücke aus dem Sperrmüll ergänzt. Die Wasserhähne tropften, und die Fensterläden ließen sich nicht mehr schließen, wenn im Sommer die Sonne ihre heißen Strahlen auf das Ziegeldach und die Fenster der Mansarde prallen ließ.
Kotte und seine Frau Marga hatten sich an die Unzulänglichkeiten gewöhnt. In ihrer Liebe zueinander entwickelten sie so viel Kraft, dass sie jede Hürde, die das Schicksal ihnen in den Weg stellte, nahmen, und wenn es eine Möglichkeit gab, ihre Treue und Zuneigung durch Verzicht auf irdische Dinge zu dokumentieren, so taten sie es mit größter Freude und gemeinsam. So zum Beispiel bei der Zubereitung des Essens.
Marga kam mit dem Wenigen, das ihr für das Kochen zur Verfügung stand, blendend zurecht. Sie zauberte sogar, wenn es sein musste, verwandelte Abgelaufenes aus dem Supermarkt in Haute Cuisine, experimentierte mit dem, was es gerade billig gab und scheute sich nicht, in ihrer Rolle als Haus- und Ehefrau in persona aus dem, was andere verächtlich liegengelassen hatten, eine wohlschmeckende Mahlzeit zuzubereiten. Dass sie das schaffte, lag in erster Linie daran, dass sie nicht nur mit Liebe kochte, sondern es verstand, ihr reiches Wissen um Kräuter, Wildgemüse und Rezepturen aus den Notzeiten vergangener Jahrhunderte sinnvoll zu nutzen.
So kam bisweilen für ganz kleines Geld ein Essen auf den Tisch, das ganz im Gegensatz zu ihrer sozialen Situation stand.
Was Marga tat, tat sie aus Liebe. Grundsätzlich. Dazu gehörte auch der Verzicht auf alles, was eine Frau sich wünscht: berauschende Parfüms, pflegende Cremes, ein Paar modische Schuhe, Kleider in den Farben der Saison, Pelze, Schmuck.

Es war an einem Mittwoch, als Kotte um fünf nach fünf in seinen verschlissenen Mantel schlüpfte, die Tür hinter sich schloss und sich auf den Heimweg machte. Wie jeden Mittwoch um diese Zeit betrat er die Schleuse, eine Eckkneipe mit einem L-förmigen Tresen und einigen wenigen Tischen. Hier traf er seine ehemaligen Freunde aus der Motorradgang, und wenn er Glück hatte, waren die in Spendierlaune und gaben ihm ein, manchmal auch zwei Biere aus.
Die Schleuse lag genau an der Reviergrenze, das heißt, Eingang und Bierschenke befanden sich auf dem Gebiet des Komitees, also der oben bereits erwähnten Schwarzmarktverwaltung. Der Flur im hinteren Teil des Gebäudes und die Toiletten lagen aber schon auf dem Territorium der Raiders, dem Konkurrenz-Komitee, das den südlichen Teil des Viertels verwaltete. Diese unglückliche Teilung hatte seinen Ursprung darin, dass die Gangs eines nachts im Bemühen um Frieden im Viertel die Gebiete aufteilten wie die Cowboys einst ihre Claims: mit Lineal und Bleistift. So wurden nicht nur Straßen gehälftelt, sondern auch Häuser. Man lebte damit so recht und schlecht, und Gerangel gab es eigentlich nur, wenn übermäßig gesoffen wurde. Wie an diesem Mittwoch.
Kotte hängte seinen Mantel an einen Haken und stellte seine Aktentasche mit der leeren Brotdose ab. Dann machte er die drei Schritte zur Theke und wollte sich ein Bier bestellen, als er von einer Hand, die so groß wie ein Spaten war, zurückgehalten wurde.
„Du trinkst heute auf meinen Deckel“, sagte eine raue Stimme und gleichzeitig legte sich ein Arm auf Kottes Schulter. „Wie geht’s dir denn, alter Freund?“
„Als ich neben dir gefahren bin, ging's mir wesentlich besser. Grüß dich, Mücke. Danke für's Bier.“
„Mach ich gern, weißt du doch“, wiegelte der Zweimetermann mit dem unzutreffendem Spitznamen ab.
Die beiden Motorradfreunde verfielen schnell in ein Gespräch über vergangene Zeiten, Erinnerungen wurden ausgetauscht, alte Frauengeschichten wieder aufgewärmt und der eine oder andere Fehltritt mit Lachen, flachen Witzen und machohaften Bemerkungen kommentiert. Sie tranken beide ein zweites Bier, und weil es in der Schleuse immer heißer und stickiger wurde, ein drittes. Der Laden war inzwischen rammelvoll, und während Kotte sein fast geleertes Glas samt Bierdeckel in der Hand hielt und in die Gesichter der Anwesenden schaute, wurde ihm plötzlich himmelangst. Da waren sie alle vereint aus beiden Lagern und so eng beieinander, dass das nicht gutgehen konnte, kam es Kotte. Und kaum hatte er seinen Gedanken zu Ende geführt, begann auch schon die Rangelei. Wie zwei austrainierte Kampfgruppen standen sich plötzlich die Schutzgeldeintreiber, Prostituiertenbeschützer und das Aufsichtspersonal der Drogenszene gegenüber. Der Kampf begann verbal, schnell kamen Drohungen hinzu, kurz darauf kleine Schubsereien, schließlich provozierende Posen. Einer bot demonstrativ seine linke Backe dem Widersacher an, hielt dabei beide Fäuste schlagbereit in Hüfthöhe und tönte: „Schlag zu! Trau dich nur! Wenn du das Echo vertragen kannst!“
In diesem Moment flog eine Faust, fast gleichzeitig elf weitere, Gläser fielen vom Tresen, Stühle und Barhocker krachten, Blut floss. Gemäß ihrer Ausbildung sah man, wie Köpfe in Schwitzkästen verschwanden, hier und da erkannte man einen Doppelnelson und andere raffinierte Ringer- und Wrestlergriffe.
Alle Unbeteiligten außer Kotte verfolgten die Prügelei wie Fans ein Fußballendspiel und hatten ihren Spaß dabei, wie die Sache weiter eskalierte. Zwei der Beteiligten wollten halbvolle Bierflaschen auf Köpfe niedersausen lassen, was aber irgendwie misslang. Eine verlor Kotte aus den Augen, die andere jedoch blieb im Geschehen, weil jeder sie sehen konnte. Sie flog in hohem Bogen über die Köpfe hinweg und landete in der Deckenbeleuchtung, einer Mischung aus Kandelaber und Kronleuchter.
Kotte wollte nicht sehen, wie die Glasscherben herunterrieselten, duckte sich und starrte vor sich auf den Boden, als er plötzlich, während andere sich nur zwei Meter vor ihm die Mäntel und Jacken in Fetzen rissen, eine rotbräunliche Rolle auf sich zukullern sah.
Er schaltete blitzschnell, hob die Spitze seines linken Fußes an, stoppte das runde Etwas wie ein Kicker einen Fußball und senkte die Spitze wieder. Als er sich sicher war, dass sonst niemand die Rolle bemerkt hatte, ließ er seinen Bierdeckel fallen, bückte sich nach ihm, hob ihn und die Rolle gleichzeitig auf, ließ die Rolle in der Tasche seines Jacketts verschwinden und stellte das Bierglas samt Deckel auf den Tresen. Dann tat er, was alle taten: Er schaute der Prügelei interessiert zu, aber nur für einen Augenblick, tippte dann kurz seinen Freund Mücke an und verabschiedete sich: „Ich pack's mal. Das ist nichts für meinen kaputten Rücken. Nicht dass ich noch einen abkriege. Danke nochmal fürs Bier.“ Mücke nickte kurz, dass er verstanden hatte.
Ohne Hast legte sich Kotte seinen Mantel über den Arm, schnappte seine Aktentasche und verließ das Lokal. Er ging schnellen Schrittes nach Hause, ohne den Eindruck zu erwecken, dass er es eilig habe, überwand die Treppen bis in den dritten Stock und betrat seine Wohnung unter dem Dach, als ob nichts geschehen sei.
„Hallo, Liebling, ich bin da!“, rief er in die Küche hinein, folgte aber nicht seinem Ruf, sondern betrat das kleine Bad. Er griff in seine Jackentasche, entnahm ihr die Rolle und streifte mit zittrigen Fingern den Gummiring ab, der sie zusammenhielt. Dann begann er zu zählen. Die Scheine glitten nur so durch seine Finger. Einundzwanzig – einundzwanzigfünf – zweiundzwanzig – zweiundzwanzigfünf – dreiundzwanzigtausend. Und noch immer hielt er ein ungezähltes Dutzend Scheine in der Hand. Beim letzten waren es einunddreißigtausendfünfhundert. Ein breites Lächeln, fest wie in Holz geschnitzt, legte sich über sein Gesicht. Er schaute in den Spiegel und erkannte sich vor Glück selbst nicht mehr.
Mit diesem Lächeln ging er in die Küche, umarmte seine Marga, die gerade das Essen vorbereitete, von hinten und drückte ihr einen Kuss in den Nacken.
„Nanu?“ entwich es ihr. Sie drehte sich um und wunderte sich. So glücklich lächelnd hatte sie ihren Mann in den letzten zehn Jahren nicht mehr gesehen. „Was ist denn mit dir los?“ Sie wurde sichtlich nervös. „Was ist denn passiert? Nun spann mich doch nicht so auf die Folter!“
Kotte lächelte noch immer wie zuvor, und er überlegte, wie und was er ihr erzählen solle, um ihre Neugier noch ein bisschen am Leben zu erhalten. Doch er liebte sie viel zu sehr, ihr den Geldsegen noch länger zu verschweigen.
„Wir haben eine kleine Geldspritze bekommen“, untertrieb er, während er sich an den Küchentisch setzte.
Ihr Kinn klappte vor Enttäuschung herunter. „Hast wohl zwanzig Euro Gehaltserhöhung bekommen wie vor zwei Jahren? Die helfen uns auch nicht weiter.“ Sie nahm zwei Topflappen und begann, das Essen aufzutischen. Mittwochs gab es immer einen Gemüseauflauf, weil dienstags nach Ladenschluss der Supermarkt in ihrer Straße das unansehnlich gewordene Gemüse vom Wochenende aussortierte. An diesem Tag hatte sie schon vor Mittag angestanden, um noch ein wenig Auswahl zu haben, bevor die anderen kamen. Sie teilte den überbackenen Blumenkohl in mehrere Portionen und reichte ihm einen Heber, damit er sich bedienen konnte.
Kotte grinste immer noch wie zuvor, und Marga wurde endgültig nervös. „Nun rück endlich raus mit der Sprache und behandle mich nicht wie ein Kind“, mahnte sie ihn. „Und hör mit diesem Grinsen auf, ich vertrag das heute nicht.“
Doch Kotte grinste weiter. Er konnte nicht anders, als sich darauf zu freuen, wie sie reagieren würde, wenn er ihr die Wahrheit sagte. „Marga, es sind nicht zwanzig Euro, es sind tausende!“, platzte es aus ihm heraus.
„Soll ich jetzt in Ohnmacht fallen?“, fragte sie unsicher. „Erwartest du vielleicht, dass ich dir das glaube?“ Sie schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Zeig sie mir! Und Gnade dir Gott, wenn du mich veräppelst.“
Da Kotte immer noch keine Regung im Gesicht zeigte, begann sie nun mitzugrinsen und drängte: „Kotte, bitte!“
Kotte griff in die linke Tasche seines Jacketts, holte die Rolle hervor und stellte sie senkrecht auf den Tisch. Kaum dass er seine Hände vom Tisch genommen hatte, jauchzte Marga los: „Soviel Geld! Soviel auf einmal habe ich ja überhaupt noch nicht gesehen. Du hast es doch nicht gestohlen, Liebling“, presste sie übervorsichtig und voller Misstrauen heraus.
Er schüttelte den Kopf, und dann erzählte er, wie es in seinen Besitz gelangt war.
Sie nahm die Rolle in die linke Hand, legte die rechte darüber, als würde sie ein junges Vögelchen behüten, und stammelte: „Liebling, was machen wir denn jetzt mit soviel Geld?“ Und ehe Kotte etwas darauf antworten konnte, brach es euphorisch aus ihr heraus. „Soviel Geld, Liebling! Weißt du, was wir uns damit alles leisten können? Ich kann endlich wieder richtig einkaufen gehen, statt mich bei der ausrangierten Ware anzustellen. Ich werde mich endlich mal wieder richtig einkleiden. Eine neue Bluse, einen Sommerrock und ein paar leichte, offene Schuhe – ach, Schatz, du weißt ja gar nicht, wie ich mich danach sehne. Mein ganzes Leben gab es nur Entbehrungen, jetzt endlich können wir uns all das kaufen, was sich alle anderen leisten. Und die Wohnung können wir auch renovieren, findest du nicht? Ach, und das Schönste wäre, wenn ich mit dir einmal in den Urlaub fahren könnte. Und wenn es nur für ein paar Tage ist.“
„Ich freue mich so sehr für dich, Marga“, versuchte er sie zu beruhigen. „Aber mit dem Ausgeben geht das nicht so ...“
„Was heißt das denn? Jetzt, wo wir's haben, geben wir es doch auch aus, oder?“
„Das geht nicht so einfach, mein Schatz.“
„Wie? Was heißt das: nicht so einfach? Du gönnst es mir nicht. Du gönnst mir nicht, dass ich mich endlich einmal so adrett kleide wie all die anderen Frauen. Wie kannst du nur so gemein sein?“
„Marga, so hör doch zu! So war das doch gar nicht gemeint. Es ist nur so: Wir dürfen ...“
Sie fiel ihm ein weiteres Mal ins Wort. „Ich wüsste nicht, warum wir es nicht ausgeben können.“
„Ich versuche ja dauernd, es dir zu erklären, aber du lässt mich ja nicht ausreden.“
„Dann sag endlich, was du sagen willst, du, du, du Geizhals!“
„Jetzt komm mal ganz schnell runter, Marga, sonst nehme ich das Bündel Scheine und trage es dorthin, wo es herstammt.“
Marga starrte ihn mit aufgerissenen Augen an und schüttelte den Kopf. „Nein, nicht zurückbringen, bitte, Kotte, das kannst du mir nicht antun.“
„Will ich ja auch nicht, aber jetzt hör endlich zu: Das ist Geld, das uns nicht gehört. Es ist soviel Geld, das man es suchen wird. Und weißt du, wer es suchen wird? Es sind entweder die Gangster aus dem nördlichen Viertel oder aus dem südlichen. Sie werden eine Truppe von Schlägern zusammenstellen, die Haus für Haus durchkämmt, jeden befragt, zur Not mit ein bisschen Gewalt, die droht, einschüchtert und und und. Sie werden alles tun, um das Geld wiederzubekommen.“
„Und was bedeutet das für uns? Sie verdächtigen doch nicht etwa uns?“
„Nein, da musst du keine Angst haben. Aber Tatsache ist nun einmal, dass ich in der Schleuse war, als die Scheine abhanden kamen, und damit gehöre ich zum engeren Kreis der ...“
„Wenn sie uns foltern und schlagen, oh Gott, Kotte, das halt ich nicht aus.“
„Nun beruhige dich mal. Das tun sie ja nicht. Wir dürfen ihnen nur keinen Grund liefern, etwas genauer bei uns zu suchen. Und nun lass uns essen.“
„Ja, tu dir schon mal auf, Liebling“, kam es ganz süß. „Ich nehme mir mal einen Schein, damit ich das Nötigste einkaufen kann. Ich möchte mal wieder ein Stück Fleisch essen. Das kannst du doch verstehen?“ Sie nahm den obersten Schein, einen Fünfhunderter, faltete ihn zusammen und hielt ihn in der Hand.
„Marga, das sind alles so große Scheine. Du kannst nicht mit einem Fünfhunderter einkaufen gehen. Kein Laden akzeptiert so große Scheine, aber in fünf Minuten weiß das ganze Viertel, dass du zu Geld gekommen bist. Sei also vernünftig und leg den Schein zurück. Ich muss überlegen, was wir tun müssen, um diese Riesenlappen kleinzukriegen.
Marga legte missmutig den Schein auf den Tisch, und Kotte nahm ihn und fügte ihn der Geldrolle hinzu. „Das ganze Geld gehört dir, Liebes, aber alles zu seiner Zeit.“
Sie nickte enttäuscht und sah zu, wie Kotte die Rolle nahm und das Zimmer verließ. Nach wenigen Minuten war er zurück und setzte sich wortlos an den Tisch, bestückte seinen Teller mit einem Stück dampfenden Blumenkohls und stellte sich vor, um wieviel herzhafter das Gemüse schmecken würde, hätte Marga genug Geld gehabt, um den Kohl mit einer Scheibe gekochten Schinken und etwas Käse zu überbacken.
Der Kohl war an diesem Tag obendrein ziemlich wässrig. Da hatte auch nicht geholfen, die gesamte Oberfläche mit geriebener Muskatnuss zu bestreuen. Offensichtlich war er vor Altersschwäche schon ganz weich geworden, so dass er sich voll Wasser gesaugt hatte. Doch Kotte war Manns genug, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Seine geliebte Marga war schließlich diejenige, die das ärmliche Essen am wenigsten zu vertreten hatte.
Kottes Hunger war so groß, dass er sich noch ein zweites Stück auf den Teller lud und die blassen Röschen samt Strunk mit einem Schnitt teilte. Als er sich das erste Stück in den Mund führen wollte, klingelte es. Das Blut schoss ihm augenblicklich in den Kopf, denn er wusste genau, wer ihn um diese Zeit aufsuchen würde. Er schaute auf die Uhr. Es war kurz vor acht. Kein normaler Mensch besuchte um diese Zeit einen anderen, ohne sich vorher anzukündigen. Kotte stand auf, und Marga sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Die Angst stand im Raum und war zum Greifen nahe.
„Erwartest du jemanden?“, fragte sie mit zittriger Stimme.
„Nein, niemanden. Vielleicht ist es die Nachbarin“, versuchte er, seine Befürchtungen zu überspielen. Er verließ die Küche, durchmaß den kleinen Flur mit schlurfenden Schritten und öffnete die Tür. Zwei Männer in schwarzen Lederjacken standen breitbeinig im Türrahmen und schüchterten Kotte allein mit ihren Blicken so sehr ein, dass er automatisch drei Schritte nach hinten machte. Daraufhin traten die beiden Herren ein.
„Tach Kotte“, sagte der ältere der beiden. „Wir müssen mal mit dir reden.“
„Kein Problem, Leu. Bin gerade beim Essen, wenn es euch nicht stört.“
Alle drei betraten die Küche und sahen, wie Margas Gesicht immer ängstlicher wurde. Das legte sich erst, als Kotte die beiden vorstellte.
„Marga, das ist Leu, eigentlich Leo. Er war einer von denen, die sich dafür eingesetzt hatten, dass ich den Job bei der Cura bekam. Und dieser Herr ist Eddie; ich habe ihn vorhin in der Schleuse gesehen. Was hast du eigentlich für eine Funktion, Eddie?“
„Eddie ist im Finanzressort tätig, unser Steuerfachmann sozusagen“, erklärte Leu kurz und kam gleich zur Sache: „Kotte, du hast doch vorhin die Keilerei mitgekriegt. Erzähl doch mal, was du gesehen hast. Du kannst ruhig weiteressen.“ Er schaute auf Kottes Teller, dann fügte er trocken hinzu: „Sag mal, ist das dein Essen für den Tag?“
„Der Job gibt nicht mehr her, Leu. Wir haben gelernt, bescheiden zu leben. Was bleibt mir denn mit meinem kaputten Kreuz anderes übrig?“
Leu nickte nachdenklich und mitfühlend. „Also: Was hast du gesehen, Kotte?“
Kotte erzählte im Detail, was und wen er wobei gesehen hatte. Er brachte seinen Vortrag so glaubwürdig rüber, dass Leu immer nur nickte, und während Kotte die Klopperei immer detaillierter schilderte, stolzierte der Steuerfachmann in der Küche herum, öffnete die Türen des Hängeschrankes und durchstöberte alle Gefäße darin, die geräumig genug waren, eine Rolle Geldscheine zu beherbergen. Marga beobachtete ihn skeptisch, als er plötzlich eine abgegriffene Blechdose aus einem der Fächer nahm, sie auf den Tisch stellte und vor aller Augen öffnete. Der Deckel flog neben die Schüssel mit dem Blumenkohl, und ehe er zu liegen kam, hatte Eddie schon in die Dose gegriffen und förderte einen Zehner und etwas Kleingeld zutage.
„Ist das alles, was ihr im Haus habt?“ fragte er zynisch.
„Das ist der Rest für diesen Monat. Der Lohn ist noch nicht überwiesen“, antwortete Marga barsch und griff nach der Dose.
„Ich nehm dir die paar Kröten schon nicht weg“, donnerte Eddie und mäßigte sich sofort, als Leu ihn scharf ansah.
„Und dann hast du dich einfach auf und davon gemacht, Kotte?“, wollte Leu wissen.
„Was heißt einfach, Leu? Ich meide grundsätzlich jede Schlägerei, vor allem wenn Stühle und Flaschen fliegen. Wenn ich einen einzigen richtigen Rempler abkriege, verbringe ich den Rest meines Lebens im Rollstuhl. Vergiss nicht, dass mir zwei Wirbel zerschmettert waren. Dass ich jeden Tag zur Arbeit gehen kann, grenzt sowieso an ein Wunder. Das setze ich doch nichts aufs Spiel.“
Leu nickte, weil das sehr glaubwürdig klang, und erzählte dann von der Rolle Geld, die jetzt bei der Monatsabrechnung fehlte, und dass das Komitee darauf bestünde, dass sie wieder auftaucht. Und dann schloss er mit einem Satz, der Marga und Kotte wie ein Stromschlag durch durch Mark und Bein ging.
„Du kennst ja die Regeln, Kotte. Wer was weiß und nichts sagt, wer irgendwie mit drinhängt und wer einen anderen deckt, der drinhängt oder was weiß, darf sich schon mal das Holz für die Kiste aussuchen. Wenn dir also irgendetwas zu Ohren kommt, dann weißt du, wem du es zuerst erzählst.“ Kotte nickte brav, fast ehrfurchtsvoll. Dann wandte sich Leu an Eddie: „Finish – Abflug!“ Er hob seine rechte Hand und nickte dem Ehepaar zu. “Wir finden allein hinaus.“
Kotte hörte die Tür ins Schloss fallen, und ehe Marga ein Wort sagen konnte, hatte er seine Hand auf ihren Mund gelegt. Dann legte er einen Finger an seine Lippen, und Marga verstand.
„Hast du noch etwas von der Muskatnuss? Der Kohl ist ziemlich wässrig heute. Ach, was ich dich fragen wollte: Ist heute mit der Post ein Brief von der Cura gekommen? Ich habe läuten gehört, dass es für bestimmte Mitarbeiter im Haus Gratifikationen geben soll. Vielleicht bin ich ja auch mal dabei.“
„Nein, heute war nichts von der Cura in der Post, aber meine Schwester hat mir geschrieben. Sie ist schon wieder schwanger, und das mit vierzig. Die kriegen aber auch nicht genug.“
Sie mussten beide grinsen, und während sie sich wortlos ansahen und mit dem Essbesteck klapperten, hörten sie, wie die Wohnungstür ein zweites Mal ins Schloss fiel. Kotte erhob sich, ging ins Schlafzimmer und schaute ohne das Licht anzuknipsen auf die Straße. Die beiden Männer in ihren schwarzen Jacken gingen gerade über den Zebrastreifen.

*

Den folgenden Tag war Kotte bemüht, so normal wie möglich ablaufen zu lassen. Er tat das, was er an seinem Arbeitsplatz im Keller jeden Tag tat: Er saß auf seinem Holzstuhl, scannte das eine oder andere Dokument und verwaltete sein Archiv, bis ihm das Kreuz wehtat. Um Punkt fünf nach fünf passierte er den Haupteingang, fragte den Pförtner, ob er die Tageszeitung, die im Papierkorb steckte, mitnehmen dürfe und verließ das Gebäude. Mit der Gleichmäßigkeit eines Metronoms setzte er seine Tippelschritte und ging schnurstracks nach Hause.
Als er die Haustür öffnete, kam ihm ein nicht unangenehmer Duft entgegen, der Unheil ahnen ließ. Marga hatte aufgekocht. Kottes Augen entdeckten sofort die drei Nackensteaks, die braungebruzzelt in der Pfanne lagen, daneben befand sich eine weitere mit Bratkartoffeln und auf dem Tisch und - bereits serviert - für jeden ein Schälchen mit gemischtem Salat.
„Nun tu nicht so erschrocken!“, empfing sie ihn. „Komm rein und setz dich. Es ist alles fertig. Ich habe schon auf dich gewartet.“


Kotte schluckte trocken. Das war genau das, was unbedingt verhindert werden musste. Was in der Pfanne lag, so hatte er schon am Tag zuvor argumentiert, war der Beweis, dass er mehr Geld hatte als üblich, und schon bei der ersten Frage danach wäre er in Erklärungsnöten gewesen.
„Marga, du hast die Jungs doch gestern erlebt. Willst du keine Vernunft annehmen? Du weißt doch, was uns dann blüht. Ich hatte dich so sehr gebeten, unauffällig zu bleiben. Ich könnte wütend werden! Woher hast du überhaupt das Geld für dieses Essen?“
„Meinst du, ich wüsste nicht, wo dein Geheimversteck ist. Ich habe dich mal beobachtet, als du die Bilder von deiner früheren Freundin versteckt hast. Linkes Fenster, zweite Ziegelreihe, zweite von links. Nur anheben, und schon kann man druntergreifen. Ich habe mir doch nur einen Schein genommen, einen einzigen von den vielen. Ich habe das Essen doch nur für dich gemacht, Liebling. Und bitte, sei nicht so streng mit mir.“
„Marga!“, brauste er auf. „Das hat doch mit Strenge nichts zu tun. Hier geht es schlicht und einfach ums Überleben. Und da können wir froh sein, wenn sie uns nicht vorher noch die Knochen brechen. Du unterschätzt diese Leute.“ Er ging zum Küchentisch, zog die Schublade auf und wollte ihren Geldbeutel kontrollieren, aber er war nicht da, obwohl er dort seit Jahren aufbewahrt wird. „Marga, ich lass dir jetzt zehn Euro in deiner Geldbörse, und morgen gibt es einen Eintopf. Hast du verstanden?“
„Das kannst du nicht mit mir machen. Ich habe auch ein Recht auf ein bisschen Leben. Entbehrungen, Entbehrungen, immer nur Entbehrungen! Ich habe es satt. Ich will ein bisschen Leben als Frau, verstehst du das denn nicht?“
„Marga, zum Donnerwetter! Du bringst uns beide in höchste Gefahr, nun sei doch vernünftig!“
„Und wie lange gedenkst du, mir das ganze Geld vorzuenthalten?“
„Das kann ich dir auch noch nicht sagen. Wenn die Gefahr vorüber ist, können wir ganz vorsichtig ans Ausgeben denken, aber wirklich nur ganz vorsichtig. Wann das sein wird? Keine Ahnung, vielleicht vier Wochen, vier Monate oder sogar ein bis zwei Jahre. I c h w e i ß e s n i c h t !“
„Du bist scheußlich, Kotte. Du gönnst mir gar nichts. Warum hast du mich überhaupt geheiratet?“
„Was ist das denn jetzt für eine Tour? Ich denke, dir hat das Geld das Gehirn vernebelt. Ich will jetzt wissen, wo deine Geldbörse ist.“
„Leck mich!“
Das hatte Kotte noch nie aus ihrem Mund gehört. Er erstarrte und bekam Zweifel, ob es ihm gelingen würde, sie zur Vernunft zu bringen. Und während er überlegte, wie er die Situation retten könnte, stürmte er hinaus ins Treppenhaus, öffnete das linke Fenster, hob eine Ziegel in der zweiten Reihe links hoch, griff darunter und umfasste die papierne Rolle. Gott sei dank, wenigstens war sie noch da. Sie hätte sie ja auch an einer anderen Stelle verstecken können.
Neben der Wohnungstür hatte Kotte noch ein zweites Versteck. Es befand sich im Sicherungskasten, in dessen Innerem eine Abdeckplatte locker war, so dass man ins Mauerwerk hineingreifen konnte. Dort deponierte er die Rolle, kam mit leeren Händen zurück in die Küche und machte sich über die Rostbrätl her, die Marga nach Thüringer Art mit Bier und Senf zubereitet hatte. Es schmeckte ihm so gut, dass er sie zur Anerkennung küssen wollte, aber die Fronten waren inzwischen so verhärtet, dass sie völlig unbeteiligt ihm gegenübersaß, nicht ansprechbar war und kaum einen Bissen hinunterbekam.

Am nächsten Tag, einem Freitag, hatte Kotte schon um zwei Feierabend. Mit einer Vorahnung, die ihn zum Schwitzen brachte, eilte er nach Hause, aber seine Marga war wie befürchtet ausgeflogen. Sie hatte das vom Tag zuvor übrige Essen demonstrativ auf den Herd gestellt, sonst aber keine Nachricht hinterlassen. Kotte schwante nichts Gutes.
Gegen halbsechs, einer Zeit, in der freitagnachmittags die Straßen kaum noch Platz zum Laufen ließen und jeder sich in den Geschäften drängelte, kam sie, bepackt mit vier Einkaufstüten, mit dem Taxi nach Hause.
„Ich habe gar nicht gewusst, dass ich eine Selbstmörderin geheiratet habe. Geht's vielleicht noch ein bisschen auffälliger?“
Marga tat so, als würde sie ihn gar nicht hören, schaute unbeteiligt zur Seite und nahm die Tüten mit ins Schlafzimmer, wo sie sie auspackte und die Kleidungsstücke in die Schränke räumte. „Alles nur Unterwäsche, Strümpfe und zwei Blusen“, bemerkte sie, ohne aufzublicken. „Alles Sachen, die unbedingt sein müssen. Das Nötigste eben.“
Als sie mit dem Einräumen fertig war, sagte sie in einem bestimmenden Ton, den Kotte gar nicht kannte: „Komm mal mit, ich muss mit dir reden.“
Na, wenigstens will sie reden, dachte Kotte. Dann weiß ich wenigstens, was dieses uneinsichtige Hirn vorhat.
Er trabte in der kleinen Wohnung hinter ihr her, bis sie in der Küche angekommen waren, dann nahmen beide ihre gewohnten Plätze ein.
„So, Kotte, jetzt hörst du mir zu, und wage es nicht, mich zu unterbrechen. Mit dem Elend ist jetzt Schluss. Ich will mich total neu einkleiden, ich habe mir eine Brosche reservieren lassen, ich will ein bisschen Schmuck für Finger und Ohren, ein Pelzjäckchen und unbedingt eine neue Handtasche. Dazu ein Paar Schuhe, das ich mir schon ausgesucht habe. Ich will das alles, weil für mich ein neues Leben beginnt. Und damit du vor Angst nicht in die Hose machst, ziehe ich vorübergehend nach Köln zu meiner Schwester. Da gibt es auch die Probleme mit den großen Scheinen nicht. Und wenn du mir nicht die Hälfte freiwillig gibst, lasse ich mich scheiden. Dann wird sowieso geteilt, und zwar auf richterliche Anordnung. Nun kannst du selbst entscheiden, was du willst. Und jetzt her mit der Kohle!“
Das klang, als hätte sie sich anwaltlich beraten lassen. Kotte wurde kreidebleich und sagte keinen Ton. Wie ein geprügelter Hund ging er zum Sicherungskasten, holte die Geldrolle, zählte fünfzehntausend Euro ab und schob sie ihr wortlos zu. Seine Augen waren wie tot, die Haut in seinem Gesicht fahl und blutleer, seine Bewegungen unkontrolliert, fast zombiehaft, so sehr hatten ihre Worte seinen Körper gelähmt. Er kochte vor Wut, und das hatte meistens Folgen.

*

Sie hatte ihn mit ihrer Unvernunft tatsächlich am Haken. Er überlegte lange, was vernünftigerweise zu tun sei, und dabei dachte er nicht an heute oder morgen. Kotte war einer, der richtig in die Zukunft sah, und so erkannte er auch, dass nur ein Wunder seine Marga und mit ihr das Geld zu retten war. Aber würde er es tatsächlich fertigbringen, sie zur Vernunft zu bringen, sie zu überzeugen, dass Zurückhaltung die einzige Überlebensstrategie war? Würde sie jemals begreifen, dass Schmuck und Pelz genau das Gegenteil von Vernunft und Zurückhaltung waren?
Kotte grübelte und grübelte, wurde in seinen Zweifeln aber immer wieder bestätigt. Da kam ihm ein ganz übler Gedanke.
„Wann willst du zu deiner Schwester fahren?“, fragte er.
„Übermorgen, Sonntag. Da ist nicht so viel Betrieb in den Zügen.“
Kotte nickte. „Gut, bis dahin sollten wir uns vertragen. Wir haben jetzt genug gestritten, und es ist ja noch nichts zu Ende, hoffe ich. Ich werde dich zum Bahnhof bringen. Du fährst offiziell zu deiner Schwester, weil sie schwanger ist und sie dich braucht. Klingt plausibel, oder?“
„Sehr sogar“, stimmte sie zu. „Ach Kotte, irgendwie tut es mir leid, aber es ist ja nicht für ewig. Du wirst schon ohne mich zurechtkommen.“
Kotte wandte sich von ihr ab, setzte sich in dem kleinen Wohnzimmer in seinen abgewetzten Fernsehsessel und schaute Fußball. Er verfolgte den Ball, aber das Spiel gelangte nicht bis in seinen Kopf. Er war mit etwas ganz anderem beschäftigt.
Ich muss sie loswerden, kam es ihm. Selbst wenn sie vorübergehend in Köln wohnte, was würde danach sein? Und war es nicht auffällig, dass sie zu einem Zeitpunkt verschwand, zu dem der ganze Kiez nach dem Geld suchte? Was wäre, wenn sie von den Typen in die Mangel genommen und befragt würde? Die würde doch beim ersten groben Wort weich wie ein Stück Butter!
Die Gedanken quälten ihn, doch dann sprach er das Unglaubliche im Stillen aus: Ich muss sie töten, ich muss sie wegräumen, es vielleicht wie einen Selbstmord oder einen Unfall aussehen lassen. Das ist die einzige Möglichkeit, jetzt noch heil aus der Sache herauszukommen beziehungsweise gar nicht erst hineinzugelangen. Er musste nicht lange überlegen, wie er es anstellen würde. Marga litt unter Bluthochdruck und nahm jeden Morgen Tabletten ein. Er würde ihr ein Mittelchen am Samstag früh verabreichen, das sicherstellte, dass sie am Sonntag nicht mit dem Geld abreiste.

Am frühen Samstag nahm Marga ihre Tabletten wie gewohnt nach dem Frühstück ein und machte sich daran, Lauch, Möhren und Wirsing und die verschiedenen Kräuter zu putzen und zu schnippeln. Als alles fertig war, stellte sie den Topf auf den Herd, fügte noch etwas Reis, Wasser und einen Brühwürfel hinzu und gab ihm die Anweisung, ihn um halbzwölf herunterzunehmen. „Dann dürfte sie fertig sein und muss nur noch abgeschmeckt werden“, ließ sie ihn wissen. „Ich gehe nochmal kurz in die Stadt, um einen Rock zu holen, der geändert werden musste.“
In bester Laune verließ sie die Wohnung, und Kotte machte es sich vor dem Fernseher bequem. „Ich hab das nicht gewollt, armes Mädchen“, brummelte er vor sich hin, „aber du hast mir keine Wahl gelassen. Wenigstens hast du mir noch eine Minestrone mit viel Wirsing und Petersilie zum Abschied gemacht, wo du doch weißt, dass ich sie für mein Leben gern esse.“

*

Am Samstag kurz nach zwei, so meldete der lokale Radiosender, sei eine Frau in einer Shoppingmeile zusammengebrochen und verstorben, bevor der Rettungswagen eintraf. Da die Frau Schaum vor dem Mund hatte, brachte man sie in die Pathologie. Ihre Identität sei noch nicht geklärt, da sie keine Papiere bei sich trug.
Einen Tag später, am Sonntag gegen Mittag, brachen Leu und Eddie die Tür auf. Ihnen war längst zu Ohren gekommen, wie großzügig Marga eingekauft hatte. Als sie Kottes Leichnam sahen, riefen sie sofort die Polizei.
In der Pathologie begann das große Rätselraten. Warum hatte Marga eine so heftige Herzattacke, dass sie verstarb? Der Pathologe hatte eine Überdosis Digitalis festgestellt, konnte sich aber keinen Reim darauf machen, wo sie das giftige Zeug herhatte und wie sie es aus Versehen einnehmen konnte. „Wenn es kein Selbstmord war, wovon ich ausgehe“, so folgerte er, „dann muss das Mittel in einer Retardkapsel versteckt gewesen sein, die sich erst Stunden nach der Einnahme auflöste. In ihrem Magen befand sich nur etwas angedautes Brot mit Marmelade, das Frühstück also. Wenn sie das Gift mit dem Frühstück eingenommen hätte, wäre sie gar nicht aus dem Haus gekommen.“
Und Kotte, der Attentäter? Er wurde ebenfalls Opfer, denn die Mordgedanken, die Kotte hegte, hatte auch sie gleichermaßen. Und wie war er umgekommen?
„Wenn es kein Selbstmord war, wovon ich ausgehe“, rezitierte der Mediziner wieder, „dann war es ein Giftmord, wie er für Frauen seit Jahrtausenden typisch ist. Sie bereitet das Gemüse vor, schneidet Blätter und Wurzeln von Petersilie und Schierling, die sich äußerlich zum Verwechseln ähneln, und serviert ihrem Mann das tödliche Kraut in einer köstlichen Minestrone.“

Übrigens: Das Geld hat man nie gefunden. Kotte hatte seinen Teil im Mauerwerk hinter dem Elektrokasten versteckt, Marga den ihren unter der Dachziegel am linken Fenster links, zweite Reihe. In der Wohnung fand man nur Kleingeld.

 

Hallo @Nicdinard und herzlich willkommen.
Es ist äußerst ambitioniert, zwei Geschichten gleichzeitig einzustellen, um sie kommentieren zu lassen. Es bedeutet ja auch, dass du zum einen auf die Kritik eingehen und zum anderen den Text bearbeiten musst - erleben wir uns doch hier als eine Textwerkstatt. ;)
Zu Beginn wäre es schon gut, wenn du die Absätze angemessen setzen könntest, damit der Text nicht unnötig ... aufgebläht wirkt.

Auf jeden Fall wünsche ich dir viel Vergnügen, auch beim Kommentieren der Geschichten anderer. :D

Bester Gruß, Kanji

 
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Hallo Kanji,
ich muss mich entschuldigen. Es war nicht meine Absicht, zwei Beiträge in eine Datei zu packen, und, ehrlich gesagt, ist es mir schleierhaft, wie das passieren konnte. Was die großen Räume zwischen den Absätzen angeht, so ist im Originaltext nur ein ganz leichter Durchschuss eingebaut gewesen, um die Absätze überhaupt erkennbar zu machen. In der Wiedergabe hier erscheinen sie sehr groß, weswegen Deine Kritik auch berechtigt ist.
Es war die erste Einstellung; die nächste wird ordentlich. Ich gelobe Besserung.
Gruß Nic

 

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