Amnesie
Amnesie
Mühsam versucht sie, ihre Augen zu öffnen. Bleiern liegen die Lider über den Augen, fühlen sich an, als würden sie Zentner wiegen. Gerade so, als würde man von dem Ausschlafen eines starken Rausches erwachen. Merkwürdig ist ihr zumute. Sehr merkwürdig. Was ist nur los? Was ist passiert? Ja, wo ist sie überhaupt? Ihr Kopf fühlt sich schwer an, dröhnt. Als sie ihn ein Stück anheben will, fällt ihr schlagartig auf, dass ihr schwindlig ist. Ja, direkt übel. Sofort lässt sie den schmerzenden Kopf wieder auf die Fläche sinken, auf der sie gerade liegt. Langsam beginnt sie, ihre rechte Hand zu bewegen, sie will nach dem Untergrund tasten, um zu fühlen, wo sie sich befindet. Steif ist die Hand, eingeschlafen. Es ist dieses Gefühl, als wenn einem tausende von Ameisen durch die Glieder krabbeln würden. Eklig fühlt es sich an. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen beginnt sie jetzt, die Finger zu bewegen. Jeden einzeln. Zwar tritt nur eine unbedeutende Linderung ein, aber zumindest liegt jetzt wieder etwas Gefühl in ihrer Hand. Weichen Stoff fühlt sie, vielleicht Seide? Sie kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. Sie glaubt aber, eine Decke ertasten zu können. Wo ist sie nur? Was hat das alles zu bedeuten?, fragt sie sich nervös. Als sie erneut versuchen will, sich zu erheben, um sich umzuschauen, merkt sie mit Schrecken, dass es nicht nur ihre Hand ist. Nein, der ganze Körper befindet sich in einer lähmenden Starre! Nun bekommt sie es richtig mit der Angst zu tun. Angehen muss sie dagegen! Um jeden Preis! Schnell versucht sie nun, ebenfalls ihre linke Hand zu bewegen und stellt fest, dass sie auch in dieser langsam wieder mehr empfindet. Was ist mit ihren Armen? Nur mühsam bekommt sie die schweren Unterarme auch nur einen Millimeter angehoben. Sie strengt sich an. Sehr! Es muss einfach klappen! Sie merkt, dass mit jeder noch so kleinen Bewegung auch hier wieder mehr Gefühl in ihre Gliedmaßen fließt. Endlich spürt sie wieder etwas. Jedoch nicht das gewohnte Gefühl, wenn einem nach dem Einschlafen des Gliedes das Blut wieder frei durch die Adern fließt. Nein, ein merkwürdiges Gefühl. Unbekannt. Beängstigend. Etwa, wie eine Mischung aus höllisch heiß und eiskalt. Und böse. Als würden sich Dämonen in ihr eine Schlacht gegeneinander liefern. Schauerlich! Fürchterlich! Sie gerät in Panik. Mit der ganzen Kraft, die man in Todesangst zu entwickeln vermag, stemmt sie sich mit einem Ruck hoch. Ein Schmerz, als hätte ihr jemand einen Dolch direkt in die Wirbelsäule gerammt, fährt ihr dabei durch den Rücken, sodass sie beinahe droht, erneut das Bewusstsein zu verlieren. Nein! Bloß nicht, nur wach bleiben, beschwört sie sich. Vor Schmerz reißt sie die noch zuvor so schwer gewesenen Augen weit auf. Die Müdigkeit ist wie nie zuvor da gewesen. Sie weiß nicht, wie lange sie geschlafen hatte, aber jetzt ist sie hellwach. Sie blickt sich um, schaut an sich herunter. Blut, überall sieht sie rotes, leuchtendes Blut! Sie ist starr vor Schreck! Panisch greift sie sich an die Brust, an den Hals. Da erst nimmt sie diesen Geruch war. Bewusst war. Diesen ganz besonderen Geruch. Tief saugt sie ihn ein.
Schlagartig fällt ihr wieder alles ein. Dass sie mit ihren Mädels in der Disko war. Getanzt hatten sie, viel getanzt, Spaß hatten sie gehabt. Getrunken und ausgelassen gefeiert. Und dann traf sie diesen wundervollen Mann an der Bar. Eduardo hieß er. Am Anfang hatte sie ihn gar nicht bemerkt. Nur einen kühlen Drink wollte sie zur Abkühlung einnehmen, als sie sich an die Bar stellte. „Hallo“, vernahm sie eine warme, melodische Stimme von der Seite, „darf ich dir einen Drink Ausgeben?“ Als sie sich lachend umgedreht hatte, schaute sie in das schönste Gesicht, was sie jemals gesehen hatte. Glänzende schwarzgelockte Haare, die weich über die Schultern fielen, umrahmten sein wahres Engelsgesicht. Auf Anfang 20 schätzte sie ihn. Sein ebenmäßiges, herzförmiges Gesicht mit den hohen Wangenknochen passte einfach perfekt zu den schönen, dunklen Haaren und der nahezu weißen Haut. Sein wunderschönes Lächeln nahm sie vom ersten Moment an gefangen. Die ganze Nacht hatten sie durchgetanzt. Herrlich war es gewesen! Als ihre Freundinnen um 5 Uhr morgens nach Hause wollten, zwitscherte sie ihnen verschwörerisch zu, dass sie ruhig schon fahren sollten, sie hätte noch etwas „Wichtiges“ zu tun. Und winkte ihnen lachend zum Abschied. Dann war alles ganz schnell gegangen. Sie war mit Eduardo ins Hotel gegangen. Geküsst hatten sie sich, erst ganz zärtlich. Dann heftiger, fordernder. Immer fordernder. In eine Extase waren sie geraten. In reine Extase!
Mit einemmal sind die Scherzen weg. Sie fühlt sich gut! Sie fühlt sich Gigantisch!
Eine Gier spürt sie in sich aufsteigen. Von den Zehen an kriecht diese schleichende Empfindung ihren Körper herauf. Wie lange Finger, die sie umgreifen wollen. Vollkommen verschlingen wollen. Eine ungeheure Gier! Eine Gier solchen Ausmaßes, wie sie sie noch nie zuvor verspürt hatte. Eine Gier nach Blut! Nach süßem, leckeren, gigantischen Blut! Nach viel Blut! Undendlich viel! Jetzt weiß sie, wer oder was Eduardo gewesen war. Und was sie jetzt ist!! Diese ungeheure Gier treibt sie an. Treibt sie aus dem Hotelzimmer. In die Freiheit. Auf die Pirsch… .