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Ich hoffe, dass der Text in diese Rubrik passt. Wenn die Mundart zu dick aufgetragen sein sollte, bitte ich um eine Verschiebung zu den Experimenten.
Apfelbrief
Nich’ jeder Junge wird ‘n Sportler, nich’ jeder ‘n Arbeiter. Manche werd’n Wissenschaftler, Eierköppe, kann man lachen drüber, jau, aber die bring’n die Welt voran. Sagt der Karl vor ‘n paar Tage noch, sagt er: “Keine Stunde würd’n die aushalten auf’m Bau. Gibste den’ ‘n Ziegelstein, kannst’se direkt mit einmauern!”
“Warum?”, hammer gefragt, der Ali, der Mönker und ich.
“Weil ‘se umkippen, die Hemden!”, hatter gelacht und sich aufs Knie geklatscht, der Karl. Ali und Mönker ham auch gelacht, ich nich’. Ich bin nich’ so’n Hohlkopp wie die. Für die is’ alles nur Beton und Sand und Bier und Fußball und heiße Bräute. Wir häng’ hier im Dreck und tun wie Könige, jaja. Könige mit kaputte’ Rücken, Knie, Hände, Füße, Nack’n, na schön' Dank. Nene, man muss sich nich’ totschuften um ‘n Mann zu sein. Das geht klüger. Das geht mit Grips.
Mein Junge, der hat nix am Hut mit Suff und Miezen und wasweißich. Hat mich schon gewundert am Anfang. Hab dumme Sachen gesagt. Hab’ ihm gesagt, ich versteh ihn nich’. Hab’ gesagt, ich war anders. Hab’ gesagt, is’ klar, dass, die ander’n Jungs ihn ‘ne Schwuchtel nennen. Keine Eier hat er, wehr’n soll er sich, oder stimmt’s etwa, biste ’ne Schwuchtel?, hab’ ich gefragt und dann nochma’ gerufen, als er heulend aufs Zimmer gerannt is’.
Und der kam nich’ mehr raus. Blieb im Zimmer, mein Junge. Hat geheult, mein Junge. Mensch, hab’ ich mir da die Karla zurückgewünscht. Die hätt’ ihn in den Arm genommen, hätt’ ihm gesagt, dass der Papa das nich’ so meint, dass der Papa ihn lieb hat und dann hätt’ sie ihm ’n Kuss gegeb’n. Karla hätt’ die Sachen gemacht, die 'n Mann einfach nich’ kann. Da bin ich neidisch auf Frau’n. Steh’ ich zu. Die ham uns was voraus mit den Emotion’. Mit Gefühl’n sin’ Kerle nich’ so gut. Is’ das Testosteron. Also was konnt’ ich denn mach’n?
Der Junge hat geflennt ohne Ende und ich saß unten und hab’ Fernsehn geguckt. Ich glaub’, ’s lief ’n Krimi mit ’nem Mann und ’nem Hund, der immer gebellt hat, wenn die Verbrecher inner Nähe war’n. Bin mir nich’ sicher. Hab’ eigentlich ich aus’m Fenster geguckt, in’ Garten. Grau war’s. Kein Regen, keine Wolken, aber grau. Der Himmel, die Wäscheleinen, die Hecken, der Rasen und Karlas tote Beete. Grau, grau, grau. Und ich auch. War alles grau in dem Moment und da kann man wieder drüber lachen, aber so war’s eben. Ich konnt’ da nix machen. Nix.
Am nächst’n Tag hab’ ich ihn nich’ geseh’n. Hat nich’ gegessen. Is’ nur runter geschlichen und hat die Tür geknallt.
“Mensch, Tom!”, hab’ ich gerufen, aber das hatter nich’ gehört oder es war ihm egal und ich konnte nich’ mal böse werden, weil ich doch wusste, was ich für scheißdumme Sach’n gesagt hab’. ’ne Woche blieb er weg. Dann zwei. Dann ’n Monat. Böse konnt’ ich nich’ werd’n, ne.
Alis Sohn arbeitet jetzt auch manchmal bei uns. Schule hatter durch und nur Zuhause hängen kanner nich’, sagt Ali. Hat den Mund nich’ aufbekomm’ am Anfang, der Bursche, aber jetzt isser fast einer von uns. Jammert nich’ bei ’er Arbeit. Trinkt sein Bier mit uns inner Pause. Macht auch so seine Witzchen und lacht mit dem großen Mund, guckt dabei zum Ali und wenn der Ali redet, da hält er die Klappe. Hab’ selt’n jemand’n so still geseh’n. Kleiner Ali ruf’n wer ihn.
“Mach dir nichts draus”, hat der Ali mir schön öfters gesagt und mir seinen schweren Arm über die Schultern gelegt. “Is’ nich’ deine Schuld, dass dein Junge abgehau’n is’. Ich hab Glück gehabt mit mei’m. Der’s jetz’ schon einer von uns, aber der Tom, ne, der war halt nix.”
Und dabei kannte Ali den Tom garnich’ wirklich. Aber ich hab nur genickt. Wollt’ eigentlich, dasser sein’ Scheißarm von mir runter nimmt. Dasser nich’ so von mei’m Jungen redet, weil er den nich’ ma’ gekannt hat, nich’ wie ich, und dann soll er mir nich’ was erzähl’n davon, wie Tom war, und scheiß Kanacke ,wollt’ ich sag’n und auch dass ’s nett is’, dass er mich tröst’n will, dass er sein Maul halt’n soll, dass er Recht hat, dass ich Tom lieb’ hab, immer noch, dass der Junge keine Eier hat, dass er geheult hat wie ’n Mädchen, wie ne Göre, dass ich nix machen konnte, weil alles grau war, aber ich hab’ nur genickt und wir sin’ wieder an die Arbeit.
Am Mittwoch kam ’n Brief von Tom. Zwei Seiten, vollgeschrieb’n mitter Hand. Was’n Vogel, hab’ ich gedacht, ruft nich’ an, schreibt ’n Brief, dieser Depp, hab’ ich gedacht, aber mich gefreut wie ’n Kind an Weihnachten. Hab’ den Umschlag immer noch. Ein großes Stück und sieben Schnipsel. Zerfetzt hab’ ich das Ding. Konnt’ ’s nich’ erwart’n. Wie Bolle hab’ ich mich gefreut, kannste mir glaub’n, aber ma’ sicher, wie Bolle.
Lieber Papa,
da wir uns sehr lange nicht mehr sehen werden, schreibe ich diesen Brief, um dir wenigstens ansatzweise zu erklären, warum ich dich verlassen musste.
Dass ich in der Schule nicht glücklich war, wusstest und weißt du. Ich wurde auf die verschiedensten Arten erniedrigt und obwohl ich mich an Lehrer, Tutoren, sogar den Schulleiter wendete, ergriff nie jemand Maßnahmen, die über eine Aufforderung zur Entschuldigung hinausgegangen wären. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, in einem Kreis aus Menschen zu stehen, die “Spasti kann nicht stehen” singen, nein brüllen, während sie einen wieder und wieder zu Boden schubsen und solange treten, bis man aufsteht, nur um erneut gestoßen zu werden? Was glaubst du, wie es sich anfühlt, wenn eine Mitschülerin dir zwischen die Beine greift, dir sagt, sie könne deinen kleinen Mikropimmel gar nicht spüren und dabei presst und presst und presst, bis du versuchst, ihren Arm zu lösen, sie wegzuschubsen, was nur dazu führt, dass aus irgendeiner Ecke jemand kommt, um dich festzuhalten, damit du dich nicht wehren kannst, während sie dich anspucken und eine scheiß Schwuchtel nennen? Siehst du die ausdruckslosen Gesichter der Lehrer, ihre platten Fratzen, ihre Schultern, die nichts können, außer zu zucken?
Ich verlange zu viel von dir, ich weiß. Du kannst diese Dinge nicht verstehen. Du fragst dich, warum ich nicht einfach allen auf die Fresse gehauen habe. Warum ich nicht einfach eine Tracht Prügel nach der anderen verteilt habe. Hätte man dich zum Elterngespräch gebeten, um dir zu sagen, dass ich drei anderen Jungen die Nasen gebrochen habe, du wärst vor Stolz fast geplatzt. Ganz wie der Papa. Nase um Nase, Kiefer um Kiefer, hättest du zerprügelt. Ich nicht. Natürlich waren es immer mehrere, natürlich war ich immer der Schwächere, aber ich bin mir sicher, dass ich mich selbst dann nicht gewehrt hätte, wenn das Kräfteverhältnis ein anderes gewesen wäre. Ich bin kein Kämpfer. Die Wut fehlt mir, der Hass. Außer Angst hatte ich ihn diesen Momenten, diesen Jahren nichts. Es war keine Angst vor härterer Bestrafung, es war gar keine Angst vor irgendetwas. Es war diffuse, unförmige, allumfassende, lähmende, unnenn- oder grenzbare, ewig metastasierende Furcht. So real wie die Fäuste, die Füße, die Beleidigungen und schwarzen Flecken, die wie Brandlöcher durch mein Blickfeld wuchsen, wenn ich kurz davor war, mein Bewusstsein zu verlieren, so real, aber längst nicht so beschränkt. Sie war all diese Dinge und auch alles sonst. Sie war mein Zimmer, der Blick aus dem Fenster, die Müdigkeit am Morgen, der Sand in meinen Augen. Wenn wir abends zusammen aßen, dampfte sie in den Tellern, schwang sie im Brummen des Kühlschranks, im Murmeln des Fernsehers nebenan. Sie war die Stühle, der Tisch, das Besteck, das Licht und sie war auch du, ganz besonders war sie du.
Sie war dein kaputter Körper, deine abgeriebenen Fingerkuppen und dein in der sauren pissfarbenen Sonne gegerbtes Gesicht. Wenn wir vor dem Fernseher saßen, irgendeinen Krimi guckten und du mit leeren Augen neben mir ein Bier trankst, furzend, stöhnend und gedankenlos, schob sie mir ihre heißen schwarzen Fingerspitzen durch die Schläfen in die Augäpfel und drehte, drehte, drehte, bis meine Augen nach innen zeigten. Und weißt du was ich sah? Nichts. Mein Kern ist leer. Es gibt mich nicht.
Wahrscheinlich ergibt das für dich alles keinen Sinn, aber deswegen musste ich gehen. Es war nicht auszuhalten.
Grüß doch bitte Ali, Karl und Mönker von mir. Auch Alis Sohn, ich hoffe, er macht sich gut auf dem Bau. Seinen Namen hast du mir nie gesagt. Komisch eigentlich.
Hab’ dich lieb.
Dein Sohn,
Tom
Franz. Alis gottverdammter Sohn heißt Franz. Hab’ Ali danach gefragt und er meinte, er wollt’ ’n deutschen Namen für sein’ Sohn, desweg’n Franz. Karl, Mönker und ich ham’ uns gar nich’ mehr eingekriegt, lach’n auch immer noch jedes Mal, wenn wer den Jung’n ruf’n. "Frahaaaanz", ruf’n wer und der Junge rollt mit den Augen, aber er kommt und Ali findet 's auch irgendwie lustig, grinst jedenfalls immer so blöde. Wenn Tom wieder da is’ werd’ ichs ihm sagen. Wird sich nich’ mehr einkriegen, mein Junge. Beömmeln wirder sich. Wir beide. Wir werd’n lachen und lachen und lachen.