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Asphalt
Von einem Moment auf den nächsten wurde der Einzeller aus seinem angestammten Lebensraum gerissen. Das Kollektiv war zerstört. Botenstoffe signalisierten dem Einzeller, dass umliegende Zellen von der Nahrungsquelle getrennt worden waren. Sie verloren dabei ihr Leben, ohne dass er ihren Tod begriff. Der Einzeller traf keine bewusste Entscheidung, als er seine Nahrungsvakuolen verschloss, alle Stoffwechselprozesse im Cytoplasma stark verlangsamte und damit seine Lebensfunktionen auf ein Minimum beschränkte. Keine Sorgen oder Ängste begleiteten den Einschluss in das Druckgefäß und den nachfolgenden rasanten Aufstieg aus mehr als 3000 Metern Tiefe.
„..haben wir für diese spektakuläre Entdeckung zu danken! Ebenso Herr Gonzales aus dem mexikanischen Außenministerium, der uns bei der Tauchexpedition vor Yucatán nicht nur förderte, sondern uns auch auf unbürokratischem Weg half, alle erforderlichen Genehmigungen in Rekordzeit zu erlangen.
Ihre letzte Frage betreffend erster Zwischenergebnisse. Machen Sie sich einmal deutlich, dass wir es hier mit einer bisher nicht beschriebenen und damit vollkommen unbekannten Spezies zu tun haben, deren Stoffwechsel uns Rätsel aufgibt. Unsere Anstrengungen werden interdisziplinär sein und neben Meeresbiologen auch Biochemiker und Geophysiker beschäftigen. Wir haben auch schon eine These. Für Ergebnisse, die unsere Vermutungen bestätigen, ist es aber noch zu früh.
Ich kann Ihnen soweit nur noch einmal die wichtigsten Indizien aufzählen. Der Wurm wurde direkt von der Flanke des größten uns derzeit bekannten Asphaltvulkans der Tiefsee gepflückt. Alle verfügbaren Sonden der Quest haben im weiten Umkreis Proben entnommen und sind dabei weder auf Schwefelwasserstoff, noch auf Methan gestoßen. Die Möglichkeit, dass die Plattwürmer sich von Schwebstoffen ernähren, glauben wir in Anbetracht ihrer beeindruckenden Größe ausschließen zu können. Weiterhin wurde in Zellen der Würmer eine bemerkenswert hohe Konzentration von Asphalt nachgewiesen. Das diese Würmer sich tatsächlich von Asphalt ´ernähren´, bleibt soweit aber erst einmal Theorie.
Die Untersuchungsbedingungen sind nebenbei denkbar schwierig. Sezieren sie einmal einen Wurm unter Druckbedingungen, die einer Wassersäule von 3500 Metern entsprechen. Natürlich haben wir mehrere Würmer auch außerhalb der Druckkapseln in Augenschein genommen und analysiert. Die Aussagekraft eines Körpers, dessen Zellen nahezu vollständig aufgeplatzt sind, ist jedoch begrenzt und bedarf exakterer Folgeuntersuchungen.
So, keine weiteren Fragen, ich bitte um ihr Verständnis. Dafür haben Sie jetzt die Möglichkeit, sich und ihren Lesern oder Zuschauern ein Bild von einer dieser Kreaturen zu machen. Folgen Sie mir bitte. Hier hinten haben wir den Körper auf einen Tisch gebart. Zum Vergleich sehen Sie eine Fotographie, die unter den authentischen Lebensbedingungen in der Tiefsee aufgenommen... passen Sie doch auf! Mein Gott, so eine Sauerei! Blödmann!“
Gesenkten Hauptes und Blickes verließ Prof. Stetten das Alfred-Wegner-Institut und versuchte, die Aufregung des Tages gleich wie die lästigen, immer wiederkehrenden Gedankengänge abzustreifen. Es gelang ihm nicht, die Ernährungsfrage beschäftigte ihn weiterhin. Sie hatten bisher nichts Wegweisendes herausgefunden und rein gar nichts bewiesen. Er kam sich vor als stünde er in einer Sackgasse, wie er dort an der Ampel gedankenverloren auf die Erleuchtung wartete. Asphalt in den Zellen, gut. Als Nahrungsmittel, fraglich.
Welche Enzyme waren dazu in der Lage, den Asphalt zu zersetzen, mit welchen Organen wurden die Stoffe aufgenommen? Welchen Nutzen brachte Asphalt dem Tier im Stoffwechsel? Welchen biologischen Sinn machten die gigantischen Dimensionen der Plattwürmer?
Er musste wieder an das von einem tollpatschigen Fotografen beim Einzoomen umgeworfene Tablett mit der Probe denken und das anschließende langwierige Auflesen der Wurmfetzen überall im Raum. Diese dämlichen Journalisten hatten ihn aus dem Konzept gebracht. Erwarteten allen Ernstes zwei Tage nach der Rückkehr der “Sonne” schon klare Forschungsergebnisse. Stetten sehnte die alten Tage auf der “Polarstern” zurück, wo er weit ab jeder Zivilisation einmal wochenlang im Packeis festgesessen und dabei Zeit zum Meditieren gefunden hatte. Journalisten! Aber das Institut hatte sich diese Flöhe selbst in den Pelz gesetzt.
„Die finanzielle Situation erfordert besondere Maßnahmen“, hatte Direktor Weinert über den Rand seiner Brille hinweg erklärt und Stetten dann zu verstehen gegeben, dass die Zeiten „zweckneutraler“ Grundlagenforschung vorbei seien. Stettens eigene Anstellung stünde heute ebenso zur Disposition wie die Zukunft des gesamten Instituts. Die öffentliche Wahrnehmung sei extrem wichtig vor dem Hintergrund der in der kommenden Woche anstehenden Verhandlungen der Ministerkonferenz. Wenn es bisher keine nennenswerten Ergebnisse zu verzeichnen gäbe, so solle er sich eben welche “erarbeiten”.
Bemessen an dieser Erwartungshaltung konnte die Pressekonferenz nur als Desaster gewertet werden. Immerhin hatte er dem unwissenschaftlichen Pöbel ein paar bunte Fotos und als Schmankerl den aufgedunsenen Kadaver eines bereits sezierten Tieres bieten können. Die Nahrungskette...
Stetten blieb mitten auf der Straße stehen und verharrte einen Moment. Natürlich! Das er nicht vorher darauf gekommen war! Warum sollten eigentlich alle Stoffe zwingenderweise vom Wurm selbst verarbeitet werden? Möglicherweise musste er weiter Vorne ansetzen, vielleicht gelangte der Asphalt schon zu einem früheren Zeitpunkt in die Nahrungskette und verblieb dort als Randprodukt einer Lebensform, die ansonsten weitgehend organisch aufgebaut...
Die Wasserproben waren frei von Schwebstoffen, aber die Oberfläche des Asphaltes selbst harrte noch immer eingehenderer Untersuchungen. Ohne das Hupen der Autos zu beachten machte er auf dem Absatz kehrt und eilte zum Institut zurück. Ein mikroskopisch kleiner Körper löste sich dabei von seiner Schuhsohle und ein neuer Kreislauf des Lebens nahm seinen zunächst recht unscheinbaren Anfang.
Der Einzeller war auf ein vielfaches seiner ursprünglichen Größe angeschwollen. Die Reise hatte er im Ruhezustand verbracht. Der plötzliche Sprung von –3500 m auf 20 m hätte ihn platzen lassen, wäre nicht zu diesem Zeitpunkt bereits ein Großteil seines Cytoplasma zwecks Lebenserhaltung in Energie und eine ungewöhnlich gehärtete Außenhaut umgesetzt gewesen.
Kurze Zeit nach dem Druckverlust wurde der Einzeller auf 23 m über dem Meeresspiegel gehoben. Nach einem weiteren Zeitzyklus, der ihn fast all sein Cytoplasma aufbrauchen lies, näherte sich eine überdimensionierte Linse dem Einzeller. Darauf folgte eine Erschütterung und der Einzeller stürzte
auf 22 m.
In der unscheinbaren und mikroskopisch kleinen Zelle, die wenig später an Stettens Schuhsohle haftete, pulsierte noch immer das Leben. Zur Entfaltung ihres Lebensimpulses und der Regeneration des Kollektivs durch exponentielle Zellteilung im Sekundentakt kam es jedoch erst, nachdem der Einzeller sich losgelöst und mitten auf der Kreuzung einen wohlbekannten Schlüsselreiz empfangen hatte:
Asphalt