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Befreiung
Ich stehe jetzt auf der höchsten Stufe. Eigentlich war bis hierhin doch alles ganz einfach. Kein Grund sich zu fürchten oder gar umzukehren. Selbst meine Höhenangst habe ich noch im Griff. Erstaunlich. Ich hätte erwartet, daß sie mich zur Umkehr bewegen würde.
Normalerweise kann ich auf keinen Turm steigen, keinen gläsernen Fahrstuhl benutzen, an keiner kniehohen Brüstung stehen ohne weiche Knie zu bekommen. Diese Furcht jeglichen Halt zu verlieren im Angesicht der Tiefe, die sich vor mir auftut, hat mich immer schon vollständig erfüllt und jegliche Versuche mich zu überwinden im Ansatz gelähmt und erstickt.
Aber heute ist scheinbar alles anders und leichter. Ich fühle mich richtiggehend beschwingt und ermutigt. Meine Sinne sind wach und geschärft in ihrer Wahrnehmung wie fast niemals zuvor. Ich genieße den Ausblick auf die Dächer der umliegenden hohen Häuser. Wie einfach und schön dieses Gefühl ist. Natürlich viel angenehmer als die kehlezuschnürende Angst, die sonst in dieser Höhe mein ständiger Begleiter war. Ich möchte schreien vor Glück.
Aber das ist meine andere schwache Seite. Gefühle. Ich habe Angst sie zuzulassen, geschweige sie - öffentlich - zu zeigen. Das bietet Angriffsflächen. Das macht verletzlich. Und als ich noch unerfahren war, bin ich häufig deswegen verletzt worden. Aber seit einigen Jahren bin ich erfahren. Mir passiert nichts mehr. Keine Verletzungen durch Andere; nicht mehr im Boden versinken wollen vor Scham. Vielleicht mal innerlich ein leiser ziehender Schmerz, unerfüllte Sehnsüchte - ja! Aber kein Drama mehr. Keine Tränen. Ruhe. Stille. Sehnsucht. Und der Wunsch danach stark zu sein, Gefühle zu zeigen, ohne Angst haben zu müssen. Das Wissen, daß es nie so sein wird. Egal, ob dies auf Andere ebenfalls zutrifft, es betrifft mich - und das will ich nicht, wollte ich nie wieder erleben!
Also stehe ich heute hier und bin plötzlich frei. Ich kann fühlen! Ohne Angst. Ich ertrage die Höhe und die Tiefe vor mir! Ohne Angst.
Ich bin stark!
Die Öffnung ist verdammt klein. Aber an der Stange draußen kann ich mich festhalten. Und mit etwas Mühe zwänge ich mich hinaus. Jetzt trennt mich nichts mehr von der Tiefe vor mir außer ein paar Stangen des Gerüstaufbaus. Ich atme tief und ruhig. Ich schließe meine Augen und fühle mich vollkommen sicher. Unglaublich!! Noch vor ein paar Stunden hätte ich niemals daran geglaubt, so etwas tun zu können. Frei auf einem 120 Meter hohen Gerüst stehen ohne zu zittern. Ohne mich festzukrallen. Ohne den Wunsch möglichst schnell wieder auf sicheren Boden zurückzukehren. Die zwei letzten Schritte sind auch kein Problem mehr. Ich fliege, schwebe, gleite durch die Luft. Ein herrliches Gefühl. Vollkommen angstfrei.
Vielleicht hätte ich es schon eher machen sollen?