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Bernd und Elli

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06.03.2008
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Bernd und Elli

Wir hätten uns nie geliebt, hätte es Bernd und Elli nicht gegeben. Sie waren unsere Idole ganz unabhängig voneinander, lange bevor wir uns kennen lernten. Jede freie Sekunde verbrachten wir mit ihnen: ich mit Bernd, Du mit Elli. Bernd brachte mir bei, wie man den hecklastigen Silberpfeil mit Eleganz durch die engen Kurven wuchtet, Elli ließ Dich den Steuerknüppel ihres Sportflugzeuges greifen bei Eurer Tour rund um die Welt. Ihr ward ein schönes Paar: Die junge Frau mit der nie versiegenden Energie, immer bereit Wissen und Geld zu sammeln, um Pfade zu betreten, auf die sich vor ihr noch keine andere Frau wagte. In ihrer Begleitung ein noch nicht erblühtes Schulmädchen, dem sie unaufhörlich Mut machte, es ihr gleich zu tun.

Ich entdeckte Dich, als ich mich hochkonzentriert auf dem klapprigen Rad meines Bruders den steilen Waldhang hinunter rollen ließ. Dabei umtänzelte ich die jungen Bäumchen wie ein Skifahrer auf eisiger Piste die Slalomfähnchen. Bernd half mir, den Rhythmus zu finden, mit meinem Gefährt zu einer Einheit zu verschmelzen, indem er mir die Route auf seinem Silberpfeil vorgab. Dich umschmeichelte der Wind auf einer nahen Hügelkuppe, als Du leicht vornüber gebeugt mit geschlossenen Augen, lächelnd, die Arme zur Seite ausgestreckt, den breiten Schal auf den Ärmeln, wild flatternd, den Vögeln gleich, davon zu gleiten drohtest.

Nie werde ich meinen Kummer vergessen, als mir klar wurde, dass meine Gegenwart Dich aus Deinen süßen Träumen riss. Doch Du warst mir noch nicht einmal böse. Du nahmst meine Hand und erzähltest mir von Ellis Abenteuern. Ich traute mich, Dir mein Geheimnis anzuvertrauen, das ich mit niemandem teilen wollte, denn Bernd sollte auch Dein großer Freund werden. Ich beschrieb seine eindrucksvolle Gestalt, sein schönes Gesicht mit dem blonden Haar, das so vortrefflich den neuen Idealen entsprach. Ich schwärmte Dir vor von seinem lausbubenhaften Charme, dem die Mächtigen nichts entgegenzusetzen wussten, der Mütter wie Schwiegermütter und alle jungen Frauen bezirzte und auch auf Dich nicht ohne Wirkung blieb.

Als die Zeitungen berichteten, Bernd und Elli seien ein Paar schon seit geraumer Zeit, jedoch bisher sei es ihnen gelungen, ihre Zuneigung der Öffentlichkeit zu verbergen, da stand für mich unumstößlich fest: Du und ich, auch wir zwei waren füreinander bestimmt, auch wenn Deine Hand so manchen Blondschopf kraulte.

Meinen Prognosen zum Trotz gelang es mir nur noch ein einziges Mal, Dir ganz nah zu sein. Wir beide gingen in dieselbe Reformschule, deren Lehre auch unter den veränderten Verhältnissen noch immer Sympathie entgegengebracht wurde. Jungen und Mädchen wurden in zwei getrennten Flügeln unterrichtet, die durch ein zentrales gläsernes Treppenhaus verbunden waren. Dort begegnete ich Dir an jenem Januarmorgen auf dem Weg in meine Klasse. Wie üblich übersahst Du meine bewundernden Blicke. Gern hätte ich Dir gesagt, wie gut mir Deine weiß strahlende Rüschenbluse gefiel, die einen verspielten Kontrast zu Deinem tiefschwarzen langen Rock setzte. Dein wild gelocktes Haar hattest Du tags zuvor auf Kinnlänge gestutzt. Um den Hals hing Dir wie ein Brautschmuck eine Kordel, an der ein Schlüssel baumelte.

Von Bernd hatte ich gelernt, den Fuß nicht vom Gas zu nehmen, wenn am Horizont die Steilkurve in den Himmel ragt, deren buckelige gepflasterte Oberfläche die von der Fliehkraft wirkungslos zusammengestauchte Federung nicht mehr abzumildern weiß. Doch das Gefühl ganz nah am oberen Rand entlang brausend die weniger Beherzten zu distanzieren, dabei der Versuchung widerstehend, sich hinaustragen zu lassen und wie eine Rakete himmelwärts zu steigen, entschädigt unbeschreiblich und erhebend für alle körperliche Pein.

Kurz nach Beginn des Unterrichts täuschte ich eine Übelkeit vor, als mein Blick durch das Fenster nach draußen, Dich auf dem Weg zurück zum Treppenhaus erhaschte. Du blicktest Dich um, als wolltest Du um keinen Preis bei dem, was Du nun vor hattest, Zuschauer dulden. Dein Weg führte Dich ganz nach oben, wo vom letzten Treppenpodest aus eine schmale Wendeltreppe zu einem Ausgang auf die große flache Dachfläche führte. Der Schlüssel, den Du bei Dir trugst öffnete den Weg nach draußen. Ohne jedes Geräusch gelang es auch mir, die unverschlossen gebliebene Tür aufzustoßen und auf das einer riesigen Terrasse nicht unähnliche flache Dach zu schlüpfen. In ihrer optimistischen Aufbruchsstimmung hatten die Architekten die Dachfläche mit den gleichen Natursteinplatten gedeckt, die auch die Fassaden zierten. Jetzt war man die ewige Durchregnerei satt. Bereits auf mehr als die Hälfte der Fläche hatten sie tiefschwarze Bitumenbahnen auf die weißen Steinplatten geklebt. Es gab dort oben nicht viele Möglichkeiten, sich zu verstecken, doch ich fand Dich nicht, bis ich über mir das Flattern Deiner zarten Bluse im rauen Wind vernahm. Die Terrasse bot Dir nicht Ausblick genug, du musstest das Dachhäuschen erklimmen, das den Austritt überspannte.

»Elli kommt« hörte ich Deine Stimme, die zwar erwartungsvoll doch dabei eigentümlich melancholisch klang.
Dein Blick suchte den Horizont ab.
»Warum bist Du so traurig?«, fragte ich zurück.
»Bernd ist tot!«
Bernd, das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, war beim Versuch, wieder der schnellste Mensch auf Rädern zu werden, gegen Mittag mit über 400 km/h gegen einen Baum geprallt.
»Aber Elli lebt«, rief ich so emphatisch, wie ich nur konnte.
»Nein, sie wird abstürzen, hier vor meinen Augen. Genauso wie ich kann sie ohne ihn nicht mehr weiterleben.«

Dann fielst Du unter ungeklärten Umständen vom Dachhäuschen. Später erzählte man mir, Du hättest bei jeder Gelegenheit behauptet, ich hätte Dich aufgefangen, ich hätte Dein Leben gerettet mit meinem Lachen. Ich selbst erinnere mich nur daran, wie wir fest umschlungen auf der Dachkante lagen, bewegungsunfähig, mit gebrochenen Knochen, darauf hofftend, entdeckt zu werden, bevor uns die Eiseskälte niedermachte. Mein Bein, über das ich keine Kontrolle mehr hatte, hing die Fassade hinunter. Eine falsche Bewegung und wir wären in die Tiefe gestürzt. Ich hielt Dich fester, als es die Situation erforderte. Ich drückte Dich an mich. Ich küsste mich besinnungslos an Deinen Lippen.

Unterstellt hat man uns beiden, alles das getan zu haben, wovon ich nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Ich dementierte nichts. In der Folge mussten wir beide die Schule verlassen. Kurz darauf kam meine Einberufung. Dich habe ich nicht wieder gesehen, doch kein Tag ist seitdem vergangen, an dem ich mir nicht in Gedanken das unbeschreibliche Gefühl, Dir nahe zu sein, zurückgeholt habe. Trotz eines ungewöhnlich langen Lebens hat mich später nichts tiefer berührt als jener eine Moment.

Gestern hörte ich im Fernsehen, dass Elli wohlauf ihren hundertsten Geburtstag feierte.

 
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Hallo pabu,

soviel Lob tut gut, zumal diese Geschichte hier mein erster Versuch in kleiner Form war. Bisher konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, mich mit der großen Form zu beschäftigen.

Gruß nach Liechtenstein
Pit Ka

 

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