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- 09.08.2020
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Bis zur Frühschicht
Ich betrete das Büro. Steven sitzt schon an seinem Platz und sagt: „Moin.“ Vor ihm flimmert der Monitor.
„Moin“, sage ich, setze mich vor meinen Computer und mache ihn an. Es piept. Ich lege Portemonnaie, Hausschlüssel und Zugangskarte auf den Schreibtisch. „Bereit für eine weitere Nachtschicht voller Spiel, Spaß und Spannung?“, frage ich.
„Wie verrückt“, sagt Steven. „Hab nur drei Stunden gepennt.“
„Scheiße. Aber ich hab Karten mitgebracht“, sage ich. „Können ja ein bisschen spielen. Da bleiben wir wenigstens wach.“
Steven gähnt. „Mal sehen. Bin nicht so auf der Höhe.“
Ich stöpsele mein Headset ans Telefon. „Was denn los?“
„Weiß nicht. Hab komisch geträumt.“
„Wovon?“
„Weiß nicht mehr. Irgendwas mit einer schwarzhaarigen Alten.“
Ich grinse. „War sie nackt?“
Steven grinst auch. „Fick dich.“
„Wie läuft es mit deiner Neuen?“
„Ganz gut. Ist echt ne Süße.“
„So?“
„Ja, Mann.“ Er lehnt sich in seinen Bürostuhl zurück und streckt das rechte Bein aus und zieht sein Handy aus der Hosentasche. Das Display wirft blasses Licht auf sein Gesicht und da bemerke ich die Augenringe. Und die Lippen. So farblos, als wäre kein Blut mehr darin. Als ich danach fragen will, sagt er: „Hier, guck. Ist sie nicht geil?“
Er hält mir sein Handy hin. Eine blonde Frau steht da, schlank und groß. Sie schaut in die Kamera mit halb geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund. Wie ein Model. Ein enges rotes Shirt spannt sich über ihre großen Brüste, und ich bemerke, dass sie keinen BH trägt. Ich starre auf ihre Nippel, wohlgeformte Kreise unter rotem Stoff. „Sieht gut aus.“
„Ja, oder?“, fragt Steven.
„Wo kommt sie nochmal her? Norwegen?“
„Island. Die Braut heißt Sigurdur.“ Steven steckt sein Handy wieder weg und sagt: „Gestern war ich bei ihrer Familie und …“ Das Telefon klingelt. „International Service Center“, sagt Steven.
Während er mit dem Kunden redet, starte ich alle Programme und logge mich ein. Ruft eh niemand an. Wenn ich Glück habe, kriege ich diese Nacht fünf Anrufe rein. Warum hat Steven so eine heiße Freundin? Ich starre auf meine Tastatur. Ich könnte auch mal wieder. Pralle Brüste anfassen, warme Haut auf meiner spüren, weiche Lippen küssen; das ist alles schon so lange her. Ich gucke aus dem Fenster und sehe den Vollmond über den Gebäuden. Links und rechts hängen Wolken wie milchige Stofffetzen.
Stevens Gespräch ist zu Ende und er klickt sich durch das Programm, setzt dann sein Headset ab, und während er hier und da Haken setzt und einen Auftrag ins System einpflegt, sagt er: „Jedenfalls war ich bei ihrer Familie. Die sind vielleicht komisch.“
„Wieso?“, frage ich.
„Die Männer sind bärtig und riesig, die Frauen schlank und wunderschön. Und alle sind tätowiert. Raben, Totenköpfe, all sowas.“
„Ist vielleicht was Kulturelles.“
„Vielleicht.“
„Und Sigrid?“
„Sigurdur.“
„Von mir aus“, sage ich. „Hat sie Tattoos?“
„Nein, nicht mal was Winziges. Und ich habe überall nachgeschaut.“ Er grinst.
Ich grinse auch, aber nur halbherzig, ich will nicht an nackte Frauen denken. „Na, kommt vielleicht noch.“
„Sie kann machen, was sie will. Und wenn mir das Tattoo nicht gefällt, such ich mir halt ne andere.“
„Sie ist also nicht die Frau fürs Leben?“
„Nicht so wirklich.“ Er lehnt sich zurück und verschränkt die Arme, schaut an die Decke, während er redet. „Sie ist so still. Und sie lacht kaum. Ich glaube, Isländer haben keinen Humor. Hättest ihre Familie mal sehen sollen. Haben alle ne Fresse gezogen, das ist unglaublich.“
„Hm. Hab oft gelesen, dass Skandinavier eher verschlossen sind.“
„Aber doch nicht so“, sagt Steven. „Mit denen kann man ja gar nichts anfangen. Sigurdurs Mutter war aber leider nicht da gestern, die hätte ich gerne mal gesehen. Abchecken, ob Sigurdur mit fünfzig immer noch fresh aussieht, weißte? An den Müttern kann man das ja so ein bisschen abschätzen.“
„Dachte, sie ist nichts für länger?“
„Schon, aber interessiert mich trotzdem.“
Ich schaue zum Vollmond. „Na, abwarten. Die siehst du bestimmt noch.“
Dann schweigen wir. Ab und zu klingelt das Telefon. Die Computer brummen und die Klimaanlage rattert. Die Zeit vergeht langsam. Ich lese nebenbei Dracula und frage mich, warum niemandem auffällt, dass Lucy wochenlang vom Grafen ausgesaugt wird.
Steven steht auf und stellt sich hinter seinen Bürostuhl, streckt sich, legt dann beide Unterarme auf die Rückenlehne. „Ich brauche Urlaub.“
Ich frage: „Mit Sigrund?“
„Sigurdur.“
„Mein ich doch“, sage ich. „Kannst ja mit ihr nach Island.“
Steven schnaubt. „Was soll ich denn da? Da friere ich mir den Arsch ab. Und da regnet es ständig. Und da wohnt keine Sau. Nee, lass mal. Ich dachte eher an Malle.“
„Malle?“, frage ich. „Mit deiner Freundin?“
„Bist du verrückt?“, fragt Steven. „Mit der hätte ich da überhaupt keinen Spaß. Nee, mit meinen Homies. Ein paar Bier kippen und ein paar Mietzen aufreißen. Die fliegen da auf Deutsche, glaub ma. Für nen Zwanni kannste alles mit denen machen.“
„Echt?“
„Klar, blasen dir einen hinter ner Hecke, schieben eine schnelle Nummer am Strand. Machen’s dir sogar ohne Gummi, schwöre.“
„Und wenn du eine schwängerst? Was dann?“
„Passiert mir schon nicht.“
„Das sagen sie alle.“
„Nee“, sagt Steven. „Kann mir wirklich nicht passieren. Wollte mal Samen spenden. Ein paar Euro neben dem Studium, weißte. Der Arzt da hat meine kleinen Soldaten untersucht und gesagt, die schwimmen zu langsam. Mein Sperma ist verkrüppelt, oder so. Schwängern ist nicht drin.“
„Ach du Scheiße, das wusste ich ja gar nicht.“
„Woher denn auch?“ Er mustert mich, bemerkt meinen besorgten Blick und lacht. „Keine Sorge, ich find’s gut. Will eh keine Kinder.“
„Aber vielleicht in zehn Jahren“, sage ich.
„Wenn die Welt noch voller und das Klima noch beschissener ist? Nein, danke.“
Ich nicke. Er hat schon irgendwie recht. „Weiß Sigdruna davon?“
„Sigurdur. Und ja, ich habe es ihr gestern erzählt. Haben nach dem Familientreffen darüber geredet. Im Auto. Hat mich gefragt, ob ich mir auch Kinder vorstellen kann und da hab ich ihr’s erzählt.“
„Und?“
„Was und?“
„Was hat sie dazu gesagt?“
„Nichts. Wie gesagt, sie redet nicht viel. Hat es einfach hingenommen. Aber komisch war es schon. Sie war danach noch kälter als sonst. Wollte auch nicht mit mir schlafen.“
Steven klickt sich durchs Internet, guckt sich Videos über teure Flitzer auf YouTube an.
Ich lese weiter und warte auf Anrufe, aber das Telefon schweigt. Ich kann mich ohnehin nicht konzentrieren, muss an meinen letzten Urlaub denken. Mit meiner Ex. Wir waren in Paris.
Zusammen sind wir durch die Straßen geschlendert, die nach Kaffee und frisch gebackenem Brot dufteten. Wir waren auf dem Eifelturm und haben die ganze Stadt gesehen. Der Wind hat ihre Haare zerzaust. Ihre Wangen waren rot, die Lippen glänzten im Sonnenlicht. Dort oben haben wir uns geküsst und der Lärm der Stadt war ganz weit weg und die ganzen Touristen nur Statisten und die Welt bloß die Kulisse für unsere Liebe. Und die Heimat unserer künftigen Kinder. Aber der Film war schnell vorbei. Nächte an der Seine, das Wachgeküsstwerden mit den ersten Sonnenstrahlen; das alles liegt hinter mir und ich frage mich, ob ich je wieder sowas erleben werde. Manchmal möchte ich meiner Ex schreiben, fragen, wie es ihr geht, aber welchen Sinn hat das? So pure und unschuldige Liebe; ich schätze, die hat man nur einmal im Leben. Bis einem das Herz gebrochen wird. Eine Schande.
Ich lege das Buch beiseite und stehe auf. „Bin mal kurz pissen.“
Steven starrt weiter auf den Bildschirm. „Verlauf dich nicht.“
Der Grundriss des Gebäudes ist quadratisch. Vier gleichlange Flure, von denen die Büroräume abgehen. Ich betrete den Flur und schließe die Tür zu Büro 237 hinter mir, unser Nachtschichtbüro. Es ist dunkel in den Fluren und alle anderen Büroräume sind leer. Wir sind die einzigen hier. Ich gehe zum Klo. Der Filzteppich dämpft meine Schritte, während ich an leeren Zimmern vorbeigehe; bei manchen steht die Tür offen und ich blicke hinein, kann aber nichts erkennen. Da sind nur Schatten und Mondlicht. Ich gehe weiter den Flur entlang und die einzige Lichtquelle sind die Notausgangsschilder. Sie werfen grünliches Licht an Wände und Boden. Ich würde gerne die Deckenlampen anmachen, aber das Management hat das untersagt. Wir müssen Strom sparen, hieß es. Der Umwelt und Rechnungen zuliebe.
Als ich vom Klo wiederkomme, steht Steven neben dem PC und klopft seine Hose ab. „Fuck“, sagt er.
„Was ist?“, frage ich.
Er legt den Kopf in den Nacken und stöhnt. „Drecksscheiße, ich habe meinen Schlüssel zuhause vergessen.“
„Deinen Hausschlüssel?“
„Ja, Mann. Dachte, ich hätte ihn eingesteckt.“
„Und jetzt?“, frage ich und setze mich wieder vor meinen Bildschirm.
Steven nimmt sein Handy. „Jetzt schreibe ich Sigurdur. Sie soll mir den Zweitschlüssel geben. Hoffentlich pennt sie noch nicht.“
„Sie hat einen Schlüssel für deine Bude?“
„Klar. Die Damen stehen auf sowas. Quasi als Zeichen des Vertrauens. Das macht sie anhänglicher. Also hab ich ihr einen Schlüssel gegeben. Dann denken sie sofort, es ist was Ernstes, weißte.“
„Wenn du meinst.“
„Wie sieht es denn bei dir aus? Beißen die Ladys?“
„Ist eher Ebbe.“
„Wir sollten saufen gehen. Vielleicht dieses Wochenende. Ich mach dir den Wingman.“
„Klar, versuchen kann man’s.“
„Klingst ja nicht gerade begeistert, wir …“ Stevens Handy vibriert und er schaut drauf. „Ah, Gott sei Dank. Sigurdur kommt her. Wäre ja echt scheiße gewesen, wenn ich todmüde vor meiner Hütte stehe und nicht reinkomme.“
„Ja, echt scheiße.“
Ich habe den Roman weggelegt und lese Artikel im Internet. Über ein neuartiges Krakenwesen, das im Pazifik entdeckt wurde und irgendeiner Gottheit ähnelt, und über einen Schriftsteller, der von einem Fan geschlagen wurde, weil ihr das Ende seines neuen Buches nicht gefiel. Konzentrieren kann ich mich trotzdem nicht. Jeden Augenblick kommt Sigurdur durch die Tür und ich weiß jetzt schon, dass ich kein anständiges Wort rauskriegen werde. Frauen machen mich nervös, besonders wenn sie so aussehen wie Sigurdur.
Nach zwanzig Minuten steht Steven auf und verlässt das Büro. Ich höre, wie er die Tür mit seiner Zugangskarte aufmacht, dann redet er mit jemandem und eine Frauenstimme antwortet. Sigurdur ist da. Steven kommt zurück. „Und hier ist unser Allerheiligstes“, sagt er.
Hinter ihm betritt Sigurdur das Büro und sie sieht noch schöner aus als auf dem Foto. Sie ist größer als ich und ungeschminkt. Ihre Haare sind etwas durcheinander, aber das Gesicht strahlt Sanftheit aus. Sie lächelt mir zu. „Hallo, ich bin Sigurdur.“ Sie betont das H und rollt das R, und als sie mir ihre Hand entgegenstreckt und ich sie schüttle, die weiche Haut spüre, lächle ich auch und sage: „Ha... Hallo.“
Dann fragt sie Steven etwas und sie reden darüber, was sie morgen essen wollen. Ich sehe ihnen zu und habe das Gefühl, Sigurdur anzustarren, aber sie bemerkt es wohl nicht, lässt sich zumindest nichts anmerken. Ich wende mich wieder den Artikeln zu.
Sigurdur geht. Bevor sie den Raum verlässt, sagt sie: „Ich kann kaum erwarten, dass du bald neben mir liegst.“ Während sie das sagt, schaut sie mich an. Ich spüre, wie meine Wangen warm werden. Aber sie kann nicht mich meinen. Schön wär’s. Hat sie mir gerade zugezwinkert?
Steven sagt: „Du bist so süß, Schatz. Morgen machen wir’s uns den ganzen Tag gemütlich, okay?“
„Okay“, sagt sie und lächelt mir zu. „Bis dann.“
Ich winke und sie legt den Kopf schief und kichert. Hat sie mit mir geflirtet? Unmöglich. Steven ist doch hier, sie ist bestimmt nur seinetwegen gut gelaunt. Und wenn nicht? Steht sie auf mich? Das kann nicht sein. Es kribbelt in meinem Magen. Scheiße, ich bin schon verknallt. Meine Hände werden schwitzig.
Steven gähnt. „Gott, bin ich im Arsch.“
„Hm?“
„Ich kann echt kaum noch pennen.“
„Vielleicht zu viele Nachtschichten?“
„Nein. Es sind diese Träume. Denkst bestimmt, ich bin ein Weichei, was?“
„Nein.“ Er sieht blass aus und sein Gesicht ist eingefallen. Und seine Mundwinkel zucken oft. Etwas stimmt nicht mit ihm, das sehe ich sofort. Aber ich sage: „Lass dich doch von deiner Freundin massieren. Das hilft bestimmt. Brauchst nur ein bisschen Entspannung.“
Er reibt sich die Stirn. „Hast sicher recht.“
Ich erhebe mich. „Ich muss nochmal auf’s Klo.“
„Wassen los? Konfirmandenblase?“
„Zu viel Kaffee.“
Im Bad wasche ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser, reibe mir den Nacken mit nassen Händen, betrachte mich im Spiegel. Meine Wangen sind immer noch gerötet. Ich muss an Sigurdurs Stimme denken. Und an ihr Lachen. Ich stelle mir vor, wie ich mit ihr auf dem Eiffelturm stehe und sich Paris unter uns erstreckt. Der Wind fährt Sigurdur durch die blonden Haare. Wir küssen uns.
Auf dem Klo, unter dem kalten Licht der Leuchtstoffröhren, bekomme ich langsam eine Latte. Ich klatsche mir noch mehr Wasser ins Gesicht, trockne mich ab, frage mich, was eine Frau wie Sigurdur an Steven findet. Er sieht nicht gut aus, labert nur oberflächlichen Scheiß, ist ein Arschloch. Aber das wird es sein; Frauen stehen auf Arschlöcher. Vielleicht ist das mein Problem, ich bin zu nett. Mutter hat immer gesagt, ich würde schon noch ein süßes Mädchen abbekommen, die richtige Frau würde sofort erkennen, was für ein feiner Kerl ich sei. Aber was hilft das, wenn keine richtig hinsieht? Ich …
Ich entdecke lange Haarsträhnen im Waschbecken. Sie sind blond. Vorhin war hier noch alles sauber. War Sigurdur auf dem Klo? Ist sie noch hier? Hat Steven sie überhaupt rausgelassen? Ich kann mich nicht erinnern. „Hallo?“, frage ich die geflieste Wand. Keine Antwort.
Wir haben mehrere Toilettenkabinen, doch die Trennwände reichen nicht bis zum Boden; ich gehe in die Hocke und halte Ausschau nach Füßen, doch entdecke keine. Dafür etwas anderes. Neben einer Toilette liegen Klamotten. Ich gehe hin. Die Tür zur Kabine ist nicht abgeschlossen und ich stoße sie auf und starre auf die Kleidung. Ein violettes Hemd und eine Damenjeans. Sigurdur hat sowas getragen. Ich hebe das Shirt auf, es ist noch warm, und als ich die Jeans auflese, kommt darunter ein schwarzer Slip zum Vorschein. Was geht hier ab? Hat sich Sigurdur ausgezogen? Läuft die jetzt nackt durchs Büro?
Ich verlasse das Bad und halte inne. Am Ende des Flurs bewegt sich etwas. Ich kneife die Augen zusammen. Inmitten der Schwärze entdecke ich etwas noch Dunkleres, den Umriss einer Person. Der Schatten verändert sich nicht. Als ich mich räuspere und etwas sagen will, verschwindet der Schatten in einen Büroraum und ich höre gedämpfte Schritte auf dem Filzteppich. Kalter Schweiß klebt mir unter den Armen und ich kann meinen Herzschlag bis in den Hals spüren. Bestimmt sehe ich nicht nach, wer sich da rumtreibt. Zumindest nicht allein.
Als ich Büro 237 betrete, ist Steven weg. Ich bleibe in der Tür stehen und atme tief ein, meine Gedanken rasen. Aber vermutlich mache ich mich grundlos verrückt. Steven ist bestimmt nur aufs Klo gegangen … aber ich Idiot komme ja vom Klo, also kann er da nicht sein. Vielleicht ist er rausgegangen, um eine zu rauchen. Kann sein, aber seine Zugangskarte liegt noch auf dem Schreibtisch und ohne kommt er nicht raus. Am wahrscheinlichsten ist, dass er sich mit Sigurdur in einem leeren Büro vergnügt. Das würde auch erklären, warum sie nichts anhat. Ja, so wird es sein. Der Glückspilz. Aber frische Luft würde mir trotzdem guttun, ich drehe gerade ein bisschen durch. Könnte mir zehn Minuten die Beine vertreten, und wenn ich wiederkomme, ist Steven bestimmt zurück und grinst dümmlich.
Ich steh vor meinem Schreibtisch, und dann kribbelt es in meinem Nacken. Meine Zugangskarte ist weg. Mein Hausschlüssel ist ebenfalls verschwunden.
Da sind wieder Schritte. Ganz ruhig, das wird nur Steven sein. Doch die Schritte sind laut, selbst auf dem Teppich. Als trüge die Person schwere Stiefel. Ich höre tiefen und gleichmäßigen Atem und drehe mich um, starre in die Schwärze jenseits der Tür und sehe einen Schatten, der immer größer wird und bald den Türrahmen ausfüllt, und ich erkenne, dass ich hier nicht mehr rauskomme. Ich öffne den Mund, will schreien, da stürmt ein Wikinger in mein Büro und ich verschlucke mich an meinem Speichel.
Er ist riesig und bärtig und seine schwarzen Haare sind geflochten und reichen ihm bis zu den Nieren. Sein Oberkörper ist beharrt und volltätowiert. Bäume und Schädel und Raben, deren Flügel aussehen wie Klingen. Der Wikinger trägt nur einen Lendenschurz, einen Wolfspelz. Der Schädel des Viehs schwingt bei jedem Schritt hin und her wie ein riesiger Penis mit Fangzähnen. In der rechten Hand hält er eine Axt. Die Klinge ist schartig und rostig und bevor ich mich über die Erscheinung vor mir wundern kann, holt er mit der Axt aus.
Ich weiche einen Schritt zurück und die Axt knallt vor mir in den Schreibtisch. Holz splittert und landet auf der Tastatur. Der Wikinger grunzt. Er stinkt nach Schweiß und brennenden Ästen und salzigem Stein. Beim Ausweichen verliere ich das Gleichgewicht und muss mich an dem Schreibtisch festhalten; dabei stößt meine Hand gegen einen Brieföffner und ich packe ihn, und bevor der Wikinger die Axt aus dem Tisch ziehen kann, stürze ich vor, quieke dabei wie ein Kind und ramme ihm den Brieföffner zwischen die Rippen.
Der Hüne brüllt. So laut und tief, dass mir die Eingeweide vibrieren. Er fasst sich an die Wunde, Blut strömt über seine Finger und tropft auf den Schreibtisch. Rote Flecken auf weißem Holz. Ich starre, dann reiße ich mich los und dränge mich an dem Wikinger vorbei, der gerade den Brieföffner aus sich zieht. Blut spritzt an die Wand, zieht ein Spritzmuster über die Tapete. Ich renne in den Flur.
Die Gänge sind immer noch dunkel. Ich laufe an offenen Büros vorbei. Die Türen gleichen schwarzen Mäulern. Jederzeit könnten Wikinger herausströmen. Mit jeder Tür zittere ich stärker. Ich komme am Eingang vorbei und sehe, dass der Schalter für die Zugangskarte zerstört ist. Ich komme hier nicht mehr raus. „Nein, nein, fuck.“ Tränen kullern über meine Wangen. Ich kann nicht raus und weiterlaufen kann ich auch nicht, würde ja ohnehin nur im Kreis rennen. Und früher oder später in den Armen des Wikingers landen. Oder eines anderen.
Die Gänge sind dunkel und ich höre Schritte und tiefen Atem, als würde das ganze Gebäude Luft holen, doch im grünen Licht der Notausgangslampen kann ich nichts erkennen. Ich stocke. Die Notausgänge, das ist meine Chance.
Als ich loslaufen will, kommt der Wikinger um die Ecke. Blut rinnt über seine Hüfte und färbt den Wolfspelz dunkelrot. „Scheiße,“ sage ich. Der Wikinger grinst und hebt die Axt. Ich quieke und laufe vor Panik in den nächstgelegenen Raum. Vielleicht finde ich noch einen Brieföffner oder eine andere Waffe. Als ich drin bin, schlägt mir der Gestank von Urin entgegen. Und der Geruch von Pisssteinen. Die mit Zitronenduft. Ich bin wieder auf dem Klo gelandet. „Verdammte Scheiße.“
Ich verstecke mich in einer Kabine, habe das Licht ausgelassen und nun warte ich. Der Wikinger kommt rein. Seine Schritte hallen von den Wänden wider. Er bleibt kurz stehen und macht das Licht an. Ich kneife die Augen zusammen, so grell sind die Leuchtstoffröhren nach der Dunkelheit.
Langsam schreitet der Wikinger durch das Bad. Ich habe die Beine hochgezogen, sodass er mich durch den Spalt unten nicht sehen kann, sitze auf der Toilette wie ein Wasserspeier auf einem Kirchturm und frage mich, ob ich so verharren kann, bis die Frühschicht kommt. Doch das bezweifle ich. Dann verkrampfe ich. Ich Idiot habe die Kabinentür abgeschlossen; der Wikinger muss nur den roten Punkt unter der Klinke sehen, schon weiß er, dass ich hier hocke. Alle anderen Türen stehen schließlich offen, und während ich das denke, bleibt der Wikinger vor meiner Kabine stehen. Sein Atem ist laut. Neben mir steht die Klobürste und ich packe sie und halte sie vor mich wie ein Schwert.
Für einen Moment ist es still, dann knallt es und die Schneide der Axt bricht durch die grüne Kabinentür. Ich packe die Klobürste etwas fester. Mir wird schwindelig und ich murmele: „Jesus Christus, Herr im Himmel, steh mir bei.“
Der Wikinger rammt erneut die Axt ins Holz und murmelt etwas Isländisches.
Ich hebe die Klobürste über meinen Kopf.
Das Holz gibt unter den Axtschlägen nach und Splitter fliegen mir ins Gesicht und ich schließe die Augen, um nicht geblendet zu werden. Als ich sie wieder öffne, hat der Wikinger eine Lücke in die Tür geschlagen und starrt mich an und grinst. Seine Zähne sind dunkelgelb und krumm und seine Augen haben die Farbe von Eis. Er presst sein Gesicht in die Lücke, das Holz umrahmt seinen Kopf wie bei einem Porträt, und der Wikinger murmelt wieder etwas Unverständliches, und ich schmettere ihm mit ganzer Kraft die Klobürste in die Fresse. Er kneift die Augen zusammen und verzieht angewidert die Mundwinkel. Aber mehr passiert nicht. Er greift mit dem Arm durch die Lücke und entriegelt die Tür und kommt rein, steht vor mir, ich kann nicht mehr weg. Ich lasse die Klobürste fallen und hebe beide Fäuste. „Komm doch, du Mistsau.“
Er könnte mich locker köpfen, aber tut es nicht, packt mich stattdessen am Kragen und zerrt mich aus der Kabine. Ich schreie und trete und zappele, lasse mich auf den Boden fallen wie ein trotziges Kind. Mit der rechten Hand halte ich mich am Türrahmen fest. Der Wikinger zieht und zieht, aber mein Griff ist eisern. Die Panik gibt mir Kraft. Der Wikinger murmelt wieder und ich denke schon, er gibt auf, da bohrt sich die Axt dicht neben dem Türrahmen in den Boden. Die Fliesen zerspringen. Und dann merke ich, dass sich mein Griff gelöst hat und ich schreie. So laut, dass meine Kehle brennt. Vier meiner Finger rollen vor dem Klo über den Boden. Sie sehen aus wie fette Würmer, aus denen Blut sickert. Gehörten die mal zu mir? Liegen dort Teile von mir? Meine rechte Hand glänzt rötlich und im Rhythmus meines Herzschlags spritzt Blut aus den Stümpfen und während mich der Wikinger wegschleift, ziehe ich eine Blutspur durch das WC. Ich will mich festhalten, aber mit den Stümpfen finde ich keinen Halt. Und dann kommen die Schmerzen und der Schwindel und ich höre meine Schreie nicht mehr.
Als ich wieder zu mir komme, sitze ich auf einem Bürostuhl, bin mit einem Seil an ihn gefesselt. Der Vollmond scheint durchs Fenster; in diesem Büro sieht man ihn in seiner ganzen Pracht. Ansonsten ist es dunkel. Doch das fahle Licht ist hell genug. Steven sitzt auf einem Bürostuhl neben mir, ist ebenfalls gefesselt. Blut klebt auf seiner Stirn. Seine rechte Gesichtshälfte ist mit dunkelroten Striemen überzogen. Vier Wikinger stehen im Halbkreis vor uns, halbnackt und mit schweren Äxten bewaffnet. Mein Angreifer drückt eine blutige Hand gegen seine Rippen und zieht zischend Luft durch zusammengebissene Zähne und bei dem Anblick muss ich lächeln. Das hat er nun davon.
Sigurdur ist auch da. Sie steht zwischen den Wikingern und ist nackt. Ihre Haut ist ganz weiß im Mondlicht und ihre Haare reichen bis zu ihren Brüsten, kleben auf ihnen wie dünne Schlangen. Sie lächelt mir zu, dann sieht sie meine zerhackte Hand und ihr Gesicht wird steinern. Sigurdur sagt etwas Isländisches. Ihre Stimme ist tief und klingt wie das Knarren von Bäumen. Mein Angreifer zuckt mit den Schultern und sagt etwas; es klingt wie eine Entschuldigung.
Steven sagt: „Was soll der Scheiß? Wollt ihr mich verarschen, oder was?“
Sigurdur sieht ihn an, aber nur für eine Sekunde. Sie dreht sich zu einem Wikinger und hält die Hand auf und der Kerl gibt ihr ein Messer.
„Leg das weg. Lass uns doch reden“, sagt er, während Sigurdur auf ihn zugeht. „Ich verstehe gar nichts mehr.“
Sigurdur hebt den Kopf und murmelt etwas, sieht dabei zum Vollmond.
Steven sagt: „Komm, jetzt hör endlich auf mit dem Sche…“
Sigurdur rammt ihm das Messer in den Bauch. Und sie beginnt zu schneiden. Stevens Fleisch schmatzt und er zuckt, als stünde er unter Strom. Er will sich aus dem Stuhl winden, doch die Fesseln halten. Sigurdur schneidet und schneidet und Steven wird immer blasser. Er will etwas sagen, aber ihm entweicht nur ein Gurgeln. Er keucht und jammert, aber nur kurz, die Kraft verlässt ihn schnell.
Ich sage: „Fuck, fuck, was zur Hölle.“ Ich zapple hin und her, vergesse den stechenden Schmerz in meiner rechten Hand. Mein Angreifer kommt auf mich zu und hält mir seine Axt vor die Nase, mein Blut klebt noch daran. Ich verstumme und halte still, während Sigurdur Steven aufschneidet.
Mit aufgerissenen Augen schaut Steven zu. Sigurdur steckt ihre rechte Hand in seinen zerfetzten Bauch und wühlt in ihm herum. Fleisch schmatzt und etwas Glitschiges fällt aus Steven heraus und landet in seinem Schoß und mein Magen verkrampft und ich schmecke Galle. Gleich kotze ich den Wikinger vor mir voll, denke ich noch, und das würde mir nicht einmal missfallen, dann hört er vielleicht auf zu grinsen. Doch dann denke ich nichts mehr, denn Sigurdur packt Stevens Darm und zieht ihn aus ihm heraus. Er glänzt wie ein schmieriger Schlauch. Und Sigurdur hängt ihn sich um, trägt ihn wie eine Halskette und zieht weiter und weiter, ich muss an Würstchenketten denken und da schmecke ich Erbrochenes in meinem Mund, bitter und beißend, und ich schlucke die Kotze runter und gucke weg, starre den Vollmond an, aber das hilft auch nicht, denn Sigurdur stellt sich vor den Mond und reißt die Arme hoch. Ihr nackter Körper glänzt vor Blut und Schleim. Wie ein Neugeborenes. Es stinkt nach Kupfer. Und nach Scheiße, denn der Darm ist an einigen Stellen gerissen und dünnflüssiger Kot tropft heraus.
Die Wikinger fangen an zu summen und schwanken hin und her. Sigurdur hält etwas in der Hand, es sieht aus wie Stevens Leber, und Sigurdur sagt: „Fyrir móður.“ Immer wieder „Fyrir móður.“ Dann beißt sie in die Leber, reißt ein Stück hinaus und kaut es.
Sie dreht sich zu mir und kommt auf mich zu, entblößt ihre weißen Zähne. Fleischfetzten hängen noch dazwischen, und sie sagt: „In dir steckt ein Wikinger.“
Ich räuspere mich und frage: „Wa… Was?“
„Und ich möchte, dass du diesen Krieger in mich spritzt.“
Die Wikinger summen weiter mit tiefen Stimmen.
„Was?“
Sie setzt sich auf meinen Schoß, als wollte sie mich reiten, drückt ihren warmen Schritt gegen meinen und grinst noch breiter. Und sie presst ihre Brüste gegen meinen Körper, weich wie Kissen. „Während einer Vollmondnacht werden die tapfersten Krieger gezeugt. Häuptlinge.“
Steven rutscht vom Stuhl und knallt auf den Boden. Schnell breitet sich eine Lache unter ihm aus. Sigurdur folgt meinem Blick und sagt: „Gräme dich nicht. Er hat seinen Zweck erfüllt. Mutter tauscht nur eins zu eins. Eine alte Seele für eine neue.“
„Mutter? Ich … also …“
Ihr Gesicht kommt meinem nahe und dann küsst sie mich. Der Gestank von Blut und Scheiße steigt mir in die Nase und Sigurdur schmeckt nach Eisen und rohem Fleisch. Ihre Zunge berührt meine und ich zucke, will weg von ihr, aber die Fesseln halten und die Wikinger summen und über Sigurdurs Schulter erblicke ich den Mond und das wird mir alles zu viel. Ich halte still und lasse Sigurdurs Küsse geschehen und schließe die Augen.
Grüne Felder reichen bis zum Horizont. Tau perlt von den Grashalmen und reflektiert das Licht der aufgehenden Sonne. Zerklüftete Berge umranden die Felder, schwarz heben sich die Felsen vom Hellblau des Himmels ab. Qualm entsteigt den Hängen, wirbelt umher und wird vom Wind verweht und zu den Geysiren getragen; Wasser schießt aus der Erde und Dampf überzieht das Land wie dichter Nebel und im Sonnenlicht bilden sich kleine Regenbogen. Es ist still; keine Vögel singen, nirgendwo ist Leben. Da ist nur Erde und Gras und Wasser, älter als Mensch und Tier. In der Ferne rauscht ein Wasserfall; ein Fluss stürzt einen steilen Hang hinab und feine Tropfen stieben empor und benetzen dunkles Gestein. Der Wasserfall ist laut; das Rauschen übertönt das Trommeln tief in der Erde, in den Höhlen hinter dem Schleier aus klarem Wasser.
Die Höhlen reichen bis tief unter die Erde, wo kein Sonnenlicht hingelangt, und das Trommeln wird immer lauter und tiefe Stimmen summen, ein kehliger Gesang erfüllt die kargen Gänge, die vor Urzeiten in den Felsen gehauen wurden. Fackeln erhellen den Gang, Ruß bedeckt die Steine. Männer stehen in einer großen Höhle; die Decke ist in der Dunkelheit nicht auszumachen. Die Männer sind bemalt, blaue Farbe auf Wangen und Stirnen, und sie tragen verdrehte Hörner auf den Köpfen und Blut klebt auf ihren geflochtenen Bärten. Nackte Frauen tanzen im Kreis, halten sich bei den Händen und lächeln und ihre Haare umwehen ihr Gesicht und sie springen im Takt der Trommelschläge auf und ab. Schweiß glänzt auf ihren Körpern.
In ihrer Mitte steht eine große Frau mit blonden Haaren. Sigurdur. Und neben ihr steht noch eine Frau. Ihr Gesicht ist blass und zerzauste schwarze Haare fallen ihr auf die Schultern und sie trägt eine Robe, die so schwarz ist, dass ihr Körper mit der Dunkelheit verschmilzt; es wirkt, als schwebe dort nur ein Gesicht. Ihre Augen sind dunkel und Adern zeichnen sich unter der fahlen Haut ab, pulsieren mit jedem Herzschlag. Die Frau steht reglos da und starrt mich an und ich weiß, wer mich da ansieht. Sigurdurs Mutter. Hel. Und die Männer singen lauter und die Mädchen tanzen schneller.
Sigurdur trägt eine weite Robe, und als sie mich sieht, streift sie die Kleidung ab. Nackt steht sie vor mir, kommt auf mich zu, berührt mich. Ich bin ebenfalls nackt, wie lange schon, das kann ich nicht sagen. Wir legen uns auf die Steine, die seltsam warm sind, und Sigurdurs Haut ist sauber und makellos. Sie duftet nach Weiblichkeit, nach Verlangen. Ich lege meine Hände auf ihren Rücken, spüre die Muskeln unter der weichen Haut, und ich presse Sigurdur an mich und sie küsst meinen Hals. Ihr heißer Atem kitzelt und ich bekomme eine Gänsehaut. Hel sieht zu. Die Männer summen und die Frauen tanzen schneller und schneller. Ein neues Leben für ein altes. Wie gelähmt liege ich da, ich will mich auch gar nicht bewegen. Sigurdur liegt neben mir und streichelt meinen Penis, bis er hart wird, und dann setzt sie sich auf ihn, tief gleite ich in sie. Sigurdur bewegt sanft die Hüfte und atmet erregt. Hel lächelt. Der Vollmond. Ein Häuptling. Ein starker Schwertarm für Ragnarök. Sigurdur wird schneller und meine Hoden kribbeln. Es dauert nicht lange, bis ich aufstöhne und Sigurdurs schweißnassen Körper eng an mich drücke. Die Männer verstummen und die Frauen halten inne. Hel wendet sich ab. Ich spüre Sigurdurs Herzschlag. Dann richtet sie sich auf, sieht mich lange an. „Ich danke dir“, sagt sie und küsst mich. Ihre Lippen schmecken salzig. Ihre Zunge berührt meine, zärtlich und zögerlich, und ich schließe die Augen.
Als ich sie wieder öffne, sitze ich vor meinem PC. Drei verpasste Anrufe wird angezeigt. Ich schaue aus dem Fenster; der Himmel im Osten wird allmählich grau und die Sterne verblassen und der Mond wirkt transparent, so konturlos hängt er zwischen den Wolken. Ich fühle mich, als wäre ich aus einem Albtraum erwacht. Wäre da nicht meine rechte Hand. Die Wikinger haben sie bandagiert und mir was gegen die Schmerzen gegeben, ich merke gar nichts, die Hand pocht nicht einmal. Innere Zufriedenheit erfasst mich; das Gefühl habe ich nur nach erfüllendem Sex.
Steven ist weg, und ich weiß, dass ich ihn nicht wiedersehe. Niemand wird das. Nie. Vermutlich haben die Wikinger seine Leiche mitgenommen, Gott weiß, wohin. Wahrscheinlich verarbeiten sie seine Knochen zu Waffen und machen aus seiner Haut ein Buch. Oder einen Lampenschirm.
Das Telefon klingelt und ich räuspere mich und nehme den Anruf an. „International Service Center.“
„Hallo, Schatz. Bin gerade aufgewacht.“ Sie betont das H und rollt das R. „Wie war die Schicht?“
„Ruhig“, sage ich. „Wie immer.“
„Das ist gut“, sagt Sigurdur. Sie schweigt; ich höre nur das Rauschen der Leitung. Dann sagt sie: „Du, meine Familie hat uns zum Essen eingeladen. Morgen. Kommst du mit?“
„Sicher“, höre ich mich sagen.
„Sehr gut. Mutter wird sich freuen. Sie mag dich.“
„Ich weiß.“
„Da können wir auch die Bombe platzen lassen.“
„Bombe?“
„Na, dass wir schwanger sind.“
„Mhm.“
„Wir sollten uns langsam einen Namen überlegen. Ich finde Ragnar schön, aber da sprechen wir in Ruhe drüber, okay?“
„Okay.“
„Und unseren Urlaub müssen wir auch noch planen. Was hältst du von Paris?“
„Ist schön da.“
„Dann ist es abgemacht. Ich freue mich schon.“
„Ich mich auch.“
„Gut, dann mache ich dir jetzt Pfannkuchen, damit du noch was essen kannst, bevor du dich hinlegst. Bis gleich.“
„Ja.“
„Ich liebe dich“, sagt sie.
„Ich dich auch“, sage ich.
Dann ein Knacken, das Gespräch ist beendet.
Schlafen, ich will einfach nur schlafen. Aber ich bin sicher, dass ich nie wieder erholsamen Schlaf finden werde. Ich zücke mein Handy, mache die Frontkamera an. Mein Gesicht ist bleich und tiefe Ringe umranden meine Augen und meine Lippen sind farblos. Ich lehne mich in den Stuhl zurück und schaue dem Sonnenaufgang zu und warte auf die Frühschicht.