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Blau ist nicht der Himmel

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10.02.2000
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Anmerkungen zum Text

Gooks = Vietnamesen
Charlie = speziell Nordvietnamesen bzw. der Vietcong im Süden
HK = HK33, eine Heckler & Koch Waffe, die als Lizenznachbau von den Special Forces in Vietnam verwendet wurde
Mastwurf (einfacher, doppelter) = Segelknoten, auch beim Klettern benutzt

Blau ist nicht der Himmel

Tecumseh Longwater
Keine dreißig Fuß vor mir schluckt der Dschungelboden Menschen, Kisten, Säcke. Der Regen fällt so dicht und prasselnd, dass ich Mühe habe, Details zu erkennen. Es sind Schatten, die in loser Abfolge aus dem Erdreich steigen oder in ihm verschwinden. Ich robbe rückwärts, langsam, in derselben Spur, die ich im Schlamm zog, als ich bis zu diesem Punkt kroch. Zentimeter um Zentimeter. Unter meinem Körper fließen Rinnsale, bilden in Windeseile Pfützen. Zweige und Laub sind in Bewegung, mit dem Wasser auf dem Erdreich, das zunehmend rutschiger wird. Ein Rascheln rechts. Ich stoppe instinktiv und halte den Atem an. Zwischen kleinen Luftwurzeln kriecht ein Hundertfüßer hervor. Lang wie mein Unterarm, dunkelrot, bewegt er sich bis vor mein Gesicht. Hält an und hebt den vorderen Teil seines Körpers. Sein Fühlerpaar bewegt sich virtuos hin und her. Ich schiebe die rechte Hand vorsichtig zur Hüfte, taste nach dem Messergriff. Er senkt den Kopf und verschwindet aus meinem Gesichtsfeld. Ich atme aus. In der Dichte des Regens ist es unmöglich, dass die Gooks meine Bewegungen erkennen. Vorsichtig rutsche ich über die Erhebung hinter mir, gleite auf dem schlammigen Boden bis zur Senke. Das Wasser wird von meinen Spuren nichts übrig lassen.

Ted Barns
»Tecumseh kommt zurück, Ted«, murmelt Mitch.
»Du musst nicht flüstern. Bei diesem Regen hört dich in zehn Fuß Entfernung niemand mehr.«
»Wir hören aber ebenfalls nichts.«
Ich will ihm einen Blick zuwerfen, aber er ist schon wieder vor der Zeltplane. Tec kommt gebückt herein und setzt sich auf den Rest eines alten Baumstammes. Er fährt sich mit beiden Händen übers Gesicht und die schwarzen Haare. Wasser tropft von ihm herab. Seine Uniform ist völlig verschlammt.
»Was entdeckt?«, frage ich ihn.
Er nickt. Die Hände immer noch auf dem Kopf, starrt er auf die Stiefel, die in der nassen Erde eingesunken sind.
»Mit hoher Wahrscheinlichkeit ein unterirdisches Lazarett. Gooks gehen ein und aus, bringen Verletzte rein, auch auf Bahren, die sie an Seilen senkrecht in die Erde ablassen. Dann wieder Kisten, Taschen und so Zeug. Ich nehme an, Proviant, Medizin, Verbandmaterial. Waffen habe ich keine gesehen.«
Er legt die Hände auf die Knie und sieht mich an.
»Ich könnte das Ding auseinandernehmen. Ein Lazarett weniger. Und Charlie hat einen Grund mehr, uns zu fürchten.«
Ich hebe die Feldlampe von der Karte und leuchte über Tec an die tropfende Zeltbahn.
»Das ist nicht unsere Aufgabe, Tecumseh. Unser Auftrag lautet ‚Aufklärung und Erkundung des Bangfai-Flusses‘. Je weniger Lärm, desto besser.«
Tec sieht mich weiterhin an. Seine Augen sind die besten in unserem Zug. Er hat die Sehschärfe eines Adlers.
»Ruh dich aus. Zwei Stunden vor Sonnenaufgang brechen wir auf.«
Er nickt.

Tecumseh Longwater
Mitch weckt mich. Lester und Henry sind schon auf den Beinen. Es regnet Bindfäden. Ein dichter Vorhang aus Wasser. Nichts hält ihn auf. Nichts hält ihm stand. Ein neu entstandener Bach fließt mitten durch unseren Unterstand.
»Die Kekse sind feucht und das Kaffeepulver nur mit Regenwasser angesetzt«, entschuldigt sich Mitch und drückt mir etwas Labbriges in den Mund. Es ist süß, mehr nicht.
»Danke, Mitch.«
Schwerfällig komme ich hoch und trinke den Alubecher leer.
»Beeil dich, Tec. Wir wollen los.«
»Komme schon.«
Zügig falte ich die Zeltplane zusammen, stecke sie in den Rucksack und schultere die Waffe. Colt und Messer sitzen korrekt. Ein kurzer Blick. Nichts darf zurückbleiben. Den Rest erledigt der Regen. Neben dem Felsen stehen Henry und Lester. Mitch hält eine Plane und der Captain kniet darunter. Ich gehe hinüber und nehme Mitch eine Ecke der Plane ab. Der Captain sieht uns der Reihe nach an.
»Bei diesem Wetter werden wir frühestens heute Abend den Bangfai-Fluss erreichen und die Stellen ausfindig machen, die für Brücken geeignet sind oder einen Furtübergang ermöglichen. Wir vermuten, dass sich Charlie einen neuen Weg sucht, über den Ban-Karai-Pass, dann nach Laos eindringt und nach dem Flussübergang Richtung Süden abdreht. Unsere Aufgabe ist es, die vermutlichen Stellen zu fotografieren, um sie mit den Luftaufnahmen abgleichen zu können.«
»Captain ...«
»Lester?«
»Wo holen sie uns raus?«
Wir blicken uns an. Diese Frage ist verboten. Die Antwort muss ausbleiben.
»Tec, du gehst voraus. Dann Mitch mit dem Funkgerät. Ich folge, dann Lester. Henry geht am Ende. Die Richtung ist Ost-Nord-Ost. Abmarsch!«

Ted Barns
Wir sind seit drei Stunden unterwegs. Das Gelände ist abschüssig. Vom Bolaven-Plateau ins Bangfai-Tal. Kein Geräusch, außer den aufschlagenden Tropfen. Ich sollte es nicht tun, denke ich. Tecumseh andauernd die Spitze überlassen. Aber er war und ist nun mal unsere beste Chance in diesem Dauerregen, in diesem ewigen Dschungel. Nicht nur, um den besten Weg zu finden, nein, auch sein inneres Frühwarnsystem ist eine scharfe Waffe, auf die wir uns verlassen können. Unter dieses fast lückenlose Blätterdach dringt so wenig Tageslicht, dass man kaum unterscheiden kann zwischen Männern und Bäumen oder Ästen und Schlangen. Tecumseh kann es. Der Monsun begann vor knapp vier Tagen. Den Jungs ist anzumerken, dass nicht Charlie an ihren Nerven zerrt, sondern das aus Eimern fallende Wasser. Alle unsere Sinne sind trainiert auf Charlie, Stimmen, Kampfgeräusche. Doch wir müssen uns das verdammte Wasser anhören, das alle anderen möglichen Gefahren schluckt. Tecumseh jedoch macht es offenbar nichts aus.

Mitch bleibt plötzlich stehen, geht in die Knie, reißt mich aus meinen Gedanken. Ich tue es ihm sofort nach und hebe die Faust. Lester und Henry treten einen Schritt aus der Reihe, gehen in die Hocke und sichern nach hinten. Mitch gibt uns Zeichen, dass Tec etwas entdeckt hat. Waffen im Anschlag. Warten. Der Boden unter meinen Schuhen gibt nach, rutscht weg. Leise ziehe ich das Messer und stecke es neben einem Schuh tief in den Schlamm. Das Abrutschen stockt. Nach einigen Minuten taucht Tec auf. Er nickt uns zu, gibt Klarzeichen. Es geht weiter. Messer abwischen und einstecken. Nichts zurücklassen. Tecumseh übernimmt wieder die Führung und verschwindet im Regen.

Tecumseh Longwater
Eine Stunde vor Sonnenuntergang erreichen wir den Bangfai-Fluss. Das Wasser rauscht mit einer solchen Lautstärke, dass ich unwillkürlich an ein startendes Flugzeug denke. Der Monsun hat ihn mächtig anschwellen lassen. Neben einem Agarbaum entdecken wir eine von Wurzelwerk gebildete Erdhöhle. Nicht tiefer als zwanzig Fuß in den Hang hinein und zehn Fuß über dem Flussufer. Der Captain winkt uns zusammen.
»Tecumseh sieht sich im Süden um. Mitch im Norden. Maximal eine halbe Meile. Bleibt in Deckung. Lasst euch nicht von der anderen Seite aus sehen. Jeder nimmt eine Karte mit. Lester und Henry richten die kleine Höhle ein, dann nach Westen absichern.«

Ich ziehe los. Gesicht und Hals mit Schlamm eingerieben, nur mit Messer und Colt bewaffnet. Gegen die Vorschriften. Aber der Captain weiß, dass es genügt und drückt ein Auge zu. Der Fluss ist keine 200 Fuß entfernt, der Bewuchs am Ufer besonders dicht. Überall liegen große, teils mannshohe Granitblöcke herum, von Feigenbaumwurzeln umklammert. Ich bewege mich in einem Halbdunkel aus Wasservorhang und schwindendem Tageslicht unter dunkelgrünen Blattdächern. Noch nicht einmal Insekten fliegen. Alles, was klein ist und nicht auf Bäume klettern kann, wird ertrinken.

Rutschen, ausrutschen, zwischen dem Granit klettern, Feigenwurzeln ausweichen, das ist der Weg entlang des Bangfai. Wird das Rauschen der Fluten leiser, korrigiere ich die Richtung. Eine halbe Meile, sagte der Captain. Hier ist niemand. Nichts und niemand. Das Lazarett fällt mir ein. Wie schaffen es die Gooks nur, ihre unterirdischen Tunnel wasserfrei zu halten? Ein peitschendes Geräusch vor mir, halb rechts. Wie ein langer, dünner Ast, der gegen einen alten Stamm schlägt. Ich ducke mich hinter einen Fels. Neben meinem Schuh entdecke ich eine Riesenkrabenspinne, kleine Sturzbäche treiben sie unter dem Stein hervor. Ich zertrete sie. Besser so, denke ich. Als ich den Kopf hebe, sehe ich den Leoparden. Der Regen verhindert, dass er meinen Geruch wahrnehmen kann. Ohne seine Sinne ist er hilflos. Er verschwindet im Dschungel und ich warte noch eine Minute. Dann setze ich meinen Weg fort.

Der Fluss macht einen deutlichen Knick. Innerhalb von ein paar Fuß bricht das Rauschen fast ab. Ich gehe die wenigen Schritte zurück, dann nach links. Nach etwa dreißig Fuß stoße ich auf eine tief ins Ufer reichende Ausbuchtung. Nur wenig Steine liegen hier, meist flache, abgeschliffene. Das Gelände ist flach wie ein Strand mitten im Dschungel, das Blätterdach geöffnet. Rechts sind deutlich steil aufragende Felsen zu sehen. Der übliche dunkelbraune und sehr glatte Granit. Und auf Augenhöhe ein blaues Leuchten.

Sofort lasse ich mich hinter eine Feigenbaumwurzel fallen und ziehe den Colt aus dem Holster. Aber nichts passiert. Der Regen fällt. Mehr nicht. Das Leuchten hat sich nicht verändert. Weder in seiner Stärke noch seiner Position. Ich warte fünf Minuten. Den Blick auf die Felswand gerichtet, den Schalldämpfer auf das Gewinde geschraubt. Nichts geschieht. Vorsichtig robbe ich zurück und umgehe den offenen Bereich, bis ich an der Felswand angelangt bin. Dann nach links. Es muss ein Spalt im Fels sein, aus dem das Leuchten kommt. Kurz bevor ich an der vermuteten Position bin, sehe ich erstaunt die blauen Wassertropfen. Auf Höhe des austretenden Lichts fallen sie langsamer, werden bläulich, nur einen Augenblick, dann wieder fast transparent und erreichen ihre alte Fallgeschwindigkeit. Ich weiß nicht, was ich da sehe oder ob es real ist. Den Colt vor mich haltend beuge ich mich auf die Seite. Im Spalt liegt eine Art Amulett. Ein blauer Elefant durch dessen Rücken eine Lederschnur führt. Er leuchtet intensiv. Aus sich heraus. Seine Oberfläche ist durchzogen mit feinsten rostroten und grünen Adern. Unwillkürlich greife ich nach dem Elefanten. Etwas trifft mich in der Brust.

Ted Barns
»Wo bleibt Tec?«
»Keine Ahnung, Cap«, murmelt Lester.
Ich atme tief durch. Die Feuchtigkeit in der Luft ist so hoch, dass sich meine Lunge anfühlt wie ein mit Wasser gefüllter Schlauch.
»Lester und Mitch. Ihr legt die Claymores an die Zugangspunkte zu unserem Lager. Wie viele Strippen haben wir noch?«
»Ausreichend«, erwidert Mitch.
»Lasst nach Süden offen. Mitch …«
Henry öffnet den Spalt in der Plane.
»Tec kommt zurück. Und … etwas an ihm leuchtet blau.«
Wir sehen uns an.
Keine Minute später steht er zwischen uns. Abwesend. Wie hypnotisiert. Mitch versetzt ihm eine Ohrfeige. Um seinen Hals hat er eine Art Amulett. Ein blauer Elefant, der aus sich heraus leuchtet, ohne dass einer von uns genau definieren könnte, wo in diesem kleinen Ding nun die Lichtquelle ist.
»Das ist ein Lapislazuli«, erklärt Henry. »Meine Tante hat einen Schmuckladen. Ein Haufen bunter Steine. Auch so blaue Dinger. Sie sagte: ‚Diese blauen Steine hier sind Lapislazuli‘. Genauso sieht er aus.«
»Und haben die Steine deiner Tante auch so geleuchtet?«, will Lester wissen.
»Nee«, schüttelt Henry den Kopf. »Aber es gibt ja Steine, die leuchten. Die sind dann phosphoreszierend. So nennt man das. Legt man tagsüber in die Sonne, nachts leuchten sie.«
»Es gibt aber keine Sonne. Schon eine ganze Woche nicht«, wirft Mitch ein.
»Scheiß drauf«, unterbricht Lester. »Tec hat was von einer alten Kultur gefunden. Wenn er wieder zuhause ist, kann er es verkaufen. Ist sicher viel wert.«
Wir sehen uns an. Tec sagt nichts, steht nur da und stiert auf etwas, das wir offenbar nicht sehen.
»Und warum redet er nicht mit uns?«, hakt Mitch nach.
»Keine Ahnung«, unterbreche ich die Diskussion. »Legt ihn auf seine Plane. Mitch, setz die Claymores südlich und übernimm die erste Wache. Dann Henry, Lester, ich. Tec lassen wir schlafen. Wir müssen uns ausruhen. Morgen früh suchen wir den Fluss ab. Eine Stunde vor Sonnenaufgang geht es los.«
»Ist gut, Captain«, bestätigt Mitch und geht aus der Höhle.
»Lester?«
»Ja, Cap?«
»Wickel dieses Amulett in ein Stück Stoff und versteck es unter Tecs Jacke. Wir wollen kein Licht.«
»Ist gut, Cap.«

Tecumseh Longwater
Der Captain weckt mich.
»Tec? Alles okay?«
»Klar, Captain. Warum nicht?«
Er mustert mich einen Augenblick.
»Gestern warst du irgendwie weggetreten, als du von deinem Ausflug zurückkamst.«
»Weggetreten?«
Er nickt mit dem Kopf und legt seine Hand auf meine Stirn.
»Wie im Fieber.«
»Vielleicht der Dauerregen. Der macht jeden mürbe.«
»Ja, vielleicht …«
Mit dem Zeigefinger tippt er auf die Beule unter meiner Jacke.
»Wo hast du das her?«, will er wissen.
Ich hole das Amulett hervor. Es leuchtet ebenso intensiv wie am Tag zuvor.
»Nach etwa einer halben Meile ändert der Fluss seine Richtung. Siebzig oder achtzig Grad nach Osten, schätze ich. Dort gibt es die üblichen Ausbuchtungen. In einer Felsnische am Steilufer lag dieses Amulett.«
»Moment.« Aus seiner Brusttasche holt er die Karte und zeigt sie mir. »Wo ist die Stelle?«
Sie ist nicht schwer zu finden. Laut Karte wird der Bangfai nach dem Knick breiter und verläuft nicht ganz so geradlinig.
»Etwa hier, Captain.« Ich zeige ihm den Punkt.
»Hm, breiter bedeutet weniger Fließgeschwindigkeit. Das Wasser spült an diesem Knick den Grund weg. Dort ist es tiefer. Das Sediment ist schwer. Er wird es vor der nächsten Biegung wieder ablagern.«
Er sieht durch mich hindurch.
»Gibt es dort mehr Felsen als hier?«
»Ja, mehr lose Felsen. Flacher, abgeschliffen«, erkläre ich ihm.
»Okay. Dort suchen wir nach Möglichkeiten zum Überqueren. Mach dich fertig. Abmarsch in fünfzehn Minuten.«

Ted Barns
»Was ist, Mitch?«
»Im Stolperdraht hat sich eine Ente oder so was verfangen, Captain.«
»Gottverdammt! Sind ansonsten alle Claymores abgebaut?«
»Alles verstaut, Cap«, bestätigt Lester.
»Okay. Wo ist das Vieh?«
Mitch führt uns an eine Stelle zwischen Granitblöcken, die jeder halbwegs Normale bei dem Wetter nähme, ginge er am Fluss entlang. Nur wenige Inch von der Mine entfernt hängt der Vogel im Draht. Seine Flügelwurzel ist auf eine nicht erkennbare Weise darum gewickelt.
»Ist das eine Ente?«, fragt Lester.
»Keine Ahnung«, erwidere ich. Ente oder nicht. »Viel mehr würde mich interessieren, wieso das Ding nicht ausgelöst hat?«
»Zu wenig Zugkraft, zu nah am Gehäuse«, wirft Mitch ein.
»Tec«, sage ich knapp.
Tecumseh geht zu dem Vogel, der sich kaum noch bewegt und dreht ihm den Kopf ab. Mit einer schnellen Bewegung reißt er den Flügel heraus, ohne dass der Draht auch nur einen Millimeter seine Position verändert.
»Indianer«, meint Henry.
»Mitch, bau die Mine ab. Vergrab die Ente. Nichts zurücklassen.«
Nach wenigen Minuten sind wir bereit zum Aufbruch.
»Kann es sein, dass der Regen zugenommen hat?«, will Lester wissen.
Niemand antwortet ihm.
»Tec, du führst. Mitch, dann ich, Lester und Henry hinter uns. Vorwärts.«

Langsam nähern wir uns der von Tec beschriebenen Stelle. Erst zwanzig Schritte vor der Ausbuchtung erkenne ich Details durch die vom Himmel stürzenden Wassermassen. Lester hat recht. Der Regen ist stärker geworden, dichter und deutlich kühler. Wir sammeln uns zwischen den Wurzeln eines Feigenbaumes. Tec deutet über die kleine Lichtung.
»Dort drüben ist die Felswand. Fast neunzig Grad steil, dreißig Fuß hoch, schätze ich, an manchen Stellen sicher vierzig. In einer Nische habe ich den blauen Elefanten gefunden.«
Niemand sagt etwas. Das Scheißwetter nimmt uns alle Worte. Ich tippe Tec auf die Schulter, nicke ihm zu und wir marschieren weiter. Das Gelände wird deutlich flacher. Der Fluss hat diesen Teil schon einmal vor langer Zeit bearbeitet. Der Abstand zwischen den Feigen wächst, das Blätterdach lichtet sich. Nach etwa sechshundert Fuß sehen wir vor uns eine Art Plateau. Baumlos, kaum kleinere Pflanzen darauf, ein wenig Moos. Es besteht aus Abschnitten gewölbten Granits mit breiten Furchen dazwischen. In Jahrtausenden vom Bangfai flach geschmirgelt, der breit und träge daran vorbeifließt. Erdbraune Wassermassen, die sich leicht wellig bewegen. Ich hebe die Hand und gebe Zeichen zum Sammeln. Wir knien zusammen unter einer Plane.
»Der Fluss hat deutliche Wellen, aber sie brechen nicht. Also flache Steine unter der Oberfläche. Bei den Wassermassen schätze ich sechs oder sieben Fuß Tiefe. In der Trockenzeit passierbar. Hohe Berge links und rechts. Als Pilot hat man nicht viel Zeit für den Zielanflug. Ich würde an dieser Stelle den Fluss überqueren, wäre ich Charlie.«
Die Männer sehen mich an.
»Checken wir die Gegend«, schlägt Mitch vor.
Ich nicke.

Tecumseh Longwater
Mitch und ich bilden ein Team, Lester und Henry das zweite. Der Captain schickte uns zur westlichen Seite des Plateaus, aber die Sichtweite hat sich im dichter werdenden Regen so weit vermindert, dass sich eine Erkundung kaum lohnt.
»Gehen wir wieder zurück«, fordert mich Mitch auf. Dann bleibt er plötzlich wie angewurzelt stehen, seine Waffe im Anschlag. Gleichzeitig gehen wir in die Hocke. Über seine Schulter hinweg bedeutet er mir, in die Richtung seines Waffenlaufs zu sehen. Ich krieche an seine Seite. Keine zwölf Fuß vor uns, zwischen zwei enormen Brettwurzeln eines Agarbaumes, steht ein Rollstuhl. Fast zur Hälfte im Schlamm versunken. Wir sehen uns an, schweigen, nicken. Ich gehe gebückt auf diesen absonderlichen Fund zu, Mitch sichert die Umgebung. Eine Sprengfalle, ist mein erster Gedanke. Aber ich verwerfe ihn sogleich, denn die Wahrscheinlichkeit, dass überhaupt irgendjemand an dieser Sprengfalle vorbeikäme, ist verschwindend gering. Völlig sinnlos, hier eine Falle zu installieren. Trotzdem suche ich den Rollstuhl nach Besonderheiten ab, als ich ihn erreiche. Nichts. Bis auf die Tatsache, dass es ein sehr betagtes Exemplar ist, fällt mir nichts auf. Ich gebe Mitch ein Okay.

»Das ist das Unglaublichste, was ich jemals in meinem Leben gesehen habe«, sagt er verwundert. »Ein Rollstuhl mitten im Niemandsland.«
Ich gehe näher heran. Auf der vorderen Querstange ist etwas eingraviert.
»Da steht was drauf«, sage ich.
»Kannst du es lesen?«
»Fabriqué en France. Ein alter, französischer Rollstuhl.«
Mitch stößt einen Pfiff aus.
»Okay, dann ist das Rätsel gelöst. Die Froschfresser sind geflüchtet und haben Opa hier gelassen.«
Ich weiß nicht viel über die Franzosen.
»Waren die Franzosen auch in Laos?«, frage ich Mitch. Er kommt aus der Hocke hoch und umrundet den Rollstuhl.
»Laos, Kambodscha, Vietnam. Damals hieß es noch Indochina.«
»Ich dachte, sie waren nur in Vietnam.«
»Nee, nee, nachdem die Japse wieder weg waren, kamen sie zurück. Dann aber nur nach Vietnam. Bis sie bei Dien Bien Phu ordentlich auf den Sack bekamen und uns den Saustall überließen«, fuhr er fort.
»Und?« Ich schau ihn an. »Kriegen wir den Saustall sauber?«
Er legt den Kopf auf die Seite und dreht sich zum Dschungel.
»Ehrlich gesagt …«
Mitch verschwindet. Taucht ab ins Erdreich. So schnell, dass ich nicht einmal reagieren kann. Mit Mühe unterdrücke ich einen Schrei, lege mich auf den Boden und krieche zu dem drei Fuß durchmessenden schwarzen Loch, das sich wie von Zauberhand unter ihm auftat. Hastig nehme ich die Feldlampe aus der Beintasche, leuchte hinein, rufe seinen Namen so laut wie ich es vertreten kann, ohne irgendwelche Gooks in der Nähe zu alarmieren. Nichts. Das Licht der Lampe wird von der Schwärze geschluckt. Ich renne zurück.

Ted Barns
Wir stehen um das Loch. Tec hat sich bis auf die Unterhose ausgezogen und legt sich einen Mastwurf um beide Knöchel.
»Bist du sicher, dass wir dich in dieses Loch hinablassen sollen?«, fragt Lester.
»Mitch ist da unten irgendwo«, erwidere ich und lege mich auf den Boden. »Ich werde ihn auf keinen Fall zurücklassen.«
»Wir wissen doch gar nicht, wie tief das Ding ist«, wirft Henry ein. »Vielleicht ist das ganze Plateau unterspült oder es ist der Eingang irgendeiner Grotte …«
»Wir werden es einmal versuchen«, beende ich das Gespräch. »Das sind wir Mitch schuldig. Wir lassen dich bis 75 Fuß ab, wenn dort nichts ist …«
»Ihr müsst mich kopfüber in das Loch lassen, damit ich gleich meine Hände zur Verfügung habe. Falls es zu eng ist, um mich zu bewegen«, erklärt Tec.
»Okay, das macht Sinn«, gebe ich ihm recht. »Lester, Henry, legt das Seil einmal um diese Wurzel. Die ist stark genug für zwei Leute.«
Tec verschwindet mit dem Oberkörper im Loch. Wir sind bereit und ziehen am Seil. Er rutscht hinein und reißt eine Menge Erde mit sich hinunter. Ich knie vor dem Loch, kann ihn aber schon nicht mehr sehen. Lester und Henry geben abwechselnd Seil. Fuß um Fuß. Fünfundsiebzig. Mehr werde ich nicht zulassen. "Nichts!", kommt von unten. Nach weiteren zehn Fuß wieder ein "Nichts!" Bald ist die Grenze erreicht. Es ist still. Kein Laut dringt an die Oberfläche. Ich fühle mich von der Schwärze angezogen, als wäre ich ein Stück Eisen und dort in der Tiefe ein Magnet.
»Was sollen wir tun, Cap?«, fragt Lester.
Er holt mich aus meinen Gedanken. Ich muss mich entscheiden. Das Seil hat Spannung, zittert ein wenig. Tec bewegt sich. Ruft sicher nach Mitch. Dort unten ist alles, nur kein Boden. Ich springe zu den beiden und packe ein freies Stück Seil.
»Hochziehen!«

Wir sind zurück im Unterstand, am Rand des Dschungels, mit Blick auf das Granitplateau. Zwei Planen zwischen Bäumen aufgehängt. Tecumseh ist wieder in dieselbe Starre gefallen wie gestern und liegt neben mir auf dem Boden.
»Captain …«, Lester setzt sich neben mich, »das ist doch nicht normal. Gestern dieses blaue Dings, Tec ist abwesend bis heute Morgen. Nun fällt Mitch in ein Loch, das nicht enden will, neben einem Rollstuhl aus den zwanziger Jahren …«, er schweigt plötzlich und starrt in den Vorhang aus Regentropfen. »… und dann noch dieser endlose Regen.«
Ich spüre seine Hand auf meinem Arm. Vorsichtig lege ich das Funkgerät auf die Seite. Ich werde es Henry geben. Er hat ebenfalls eine Funkerausbildung.
»Cap, wir müssen hier weg!«
Lester betont jedes Wort.
»Überleg mal, was Tec gesagt hat. ‚Dort unten wurde es immer dunkler‘. Wie soll das gehen? Es IST doch schon dunkel in so nem Loch. Wie kann es da noch dunkler werden? Und keine Spur von Mitch. Noch nicht mal Spuren vom Sturz an den Lochrändern. Denk doch mal nach! Er ist mit Waffe, Stiefeln und Rucksack da runter!«
Warum ist Regen nur so laut? Ich könnte jetzt mein Herz klopfen hören. Lester hat recht. Ich schließe die Augen. Aber …
»Und noch eins, Cap … du hast es auch gesehen, als er wieder aus dem Loch kam. Oder?«
»Was hab ich gesehen?«
Lester fixiert mich mit eindringlichem Blick.
»Die Wunde auf Tecs Brust! Das große, vernarbte Loch. Nie und nimmer hatte er dieses Loch vor unserem Einsatz. Wir sind seit drei Jahren ein Team! Dieses Loch hat er erst seit gestern. Und es ist auf Herzhöhe. Das überlebt man nicht!«
»Gottverdammt«, sage ich und schaue auf den erstarrten Tec. Was war nur mit ihm los? Und was werde ich meinen Vorgesetzten erzählen? Auftrag nicht ausgeführt wegen seltsamer Vorfälle?
»Lester«, ich schau ihn an, »wir sind dafür ausgebildet. Für diesen Mist hier. Jeder von uns kann von Würmern leben und lautlos Menschen killen. Und wir haben einen Auftrag. Wir ziehen das durch. Okay?«
Lester schweigt. Ich sehe ihm an, dass er nicht einverstanden ist.
»Sind alle Claymores platziert?«, lenke ich ihn ab.
»Klar, sicher. Da kommt nicht mal eine Maus durch …« Er stutzt und grinst. »Höchstens ne Ente.«
Er steht auf und geht zu Henry, der seine Waffe reinigt. Es ist der Regen, denke ich. Seit Tagen nur grauer Himmel, tiefhängende Wolken, kaum Licht unter dunkelgrünen, fast schwarzen Blattwüsten. Nichts als Schlamm, kein trockener Platz weit und breit. Es kann nur der Regen sein.

Tecumseh Longwater
Da ist es wieder. Ein metallisches Geräusch, aber nicht im Unterstand. Einen Atemzug später ein zweites Mal. Neben mir kann ich den Captain riechen. Sein spezieller Duft. Ein drittes Mal, dem Klopfen einer Patronenhülse auf Stein ähnlich. Oder ein Verschluss? Aber wie kann ich überhaupt etwas hören? Der Regen tötet doch alle anderen Geräusche. Vorsichtig stehe ich auf, nehme das Messer aus der Scheide und gehe hinter dem ersten Baum vor dem Plateau in Deckung. Neben meinen Füßen schnarcht Lester. Also hat Henry Wache. Er ist vielleicht in Gefahr. Warum haben die Claymores nicht gezündet? Gebückt mache ich mich an der Dschungelgrenze auf den Weg zum Fluss, drehe mich zum Plateau und starre in die Dunkelheit. Erneut ein Klopfen, lauter. Halblinks vor mir. Vielleicht fünfzehn Fuß. Möglicherweise ein Späher der Nordvietnamesen mit derselben Aufgabe wie wir sie haben. Sein Umriss taucht auf. Zwischen zwei größeren Steinen. Noch wenige Schritte. Wieso sollte ein Späher Lärm machen? Aber diese Frage löst sich einfach auf. Ich greife seinen Kopf, drehe ihn zur Seite und ramme ihm das Messer in die Kehle. Kein Gurgeln. Nichts. Dann schleppe ich ihn zum Fluss und werfe seinen toten Körper hinein, tauche das Messer ins Wasser. Wenn es einen Gook gibt, dann möglicherweise mehrere. Sie können ja nur übers Wasser gekommen sein, sonst hätten die Minen gezündet. Ich ducke mich und lausche Richtung Plateau.

Ein oder zwei Minuten später schält sich ein weiterer Umriss aus dem Dunkel. Für ihn bin ich ein Stein, denke ich. Als eine Armlänge genügt, schnelle ich hoch und stoße die Klinge in seinen Hals. Ein kurzes Pfeifen. Er atmet durch die offene Kehle aus. Ich ziehe uns auf den Boden. Seine Hand greift nach meiner Hose, dann höre ich nur noch den Regen. Es bleibt ruhig. Zwei Späher. Mehr nicht. Langsam bewege ich mich wieder auf den Unterstand zu. Der Captain schläft. Lester ist verschwunden, aber es ist mir egal. Ich denke an das blaue Leuchten, greife nach dem Amulett und wickle es aus dem Stoff. Sein Leuchten beruhigt mich und das Prasseln der Regentropfen trägt mich hinüber in einen traumlosen Schlaf.

Ted Barns
Tec schläft noch. Das Amulett in seiner Hand. Von Lester und Henry keine Spur. Die Waffe im Anschlag krieche ich zur Dschungelseite aus dem Unterstand bis zum Fluss. Dann weiter auf das offene Plateau. Zwischen den gewölbten Steinen, parallel zum Bangfai. Bei jedem Schritt quillt Wasser aus dem Sand. Nach kurzer Zeit entdecke ich eine Lache aus Blut und hinter einem kleinen Block liegt Lester mit durchstoßener Kehle. Gottverdammt! Er hat seine HK neben sich liegen. Welcher halbwegs gescheite Gook würde eine gute Waffe hier liegen lassen? Ich reiße seine Hundemarke ab und lehne mich an den Stein. Nur noch Tecumseh und ich. Zwecklos, das hier nun fortzusetzen. Keine der Minen hat gezündet. Kamen sie durch den Fluss? Nein, kein noch so trainierter Schwimmer käme lebend über diesen Strom. Ich würde gerne ein Feuer machen, denke ich, mich wärmen, die Klamotten trocknen. Duschen. Ein dickes Steak essen

Mir ist egal, ob ich entdeckt werde und stehe auf. Wie weit kann man hier auch schon sehen. Die üblichen zwanzig Fuß bei diesem dichten Regen. Langsam gehe ich zurück zum Unterstand. Tec sitzt auf einem Stück Treibholz und stopft wässrige Kekse in sich hinein. Er sieht mich und nickt.
»Captain. Wo sind Lester und Henry?«
Da sind dunkle Flecken auf seiner Hose. An seinem Ellenbogen. Verkrustetes Blut am Unterarm. Ich richte meine Waffe auf ihn und entsichere.
»Tec, mach deinen Oberkörper frei.«
Er legt die Kekse auf die Seite und schaut verdutzt.
»Captain? Was ist denn los?«
Mein Finger wandert zum Abzug.
»Okay, okay …«
Er zieht die Jacke aus, das olivgrüne Shirt, das Unterhemd. Langsam, die Augen auf mich gerichtet.
»Und jetzt, Captain?«
Ich deute mit der Waffe auf das vernarbte Loch in seiner Brust.
»Woher hast du diese Narbe?»
Tec sieht an sich runter, streicht mit den Händen über das verwucherte Gewebe und schaut mich fragend an.
»Keine Ahnung, Captain … wirklich … das müssen Sie mir glauben!«
»Mit so einer Wunde ist man tot, Tec. Stimmst du mir zu?«
Er nickt. Zum ersten Mal in all unserer gemeinsamen Zeit sehe ich Angst in Tecs Augen.
»Tut mir leid, Tec.«
Er versteht es nicht. Ich drücke ab. Die Kugel durchschlägt ihn, knapp neben dieser Wunde. Tecumseh ist auf der Stelle tot. Vorsichtig nehme ich Hundemarke und Amulett ab, stecke beides ein. Etwas Hartes trifft mich in der Brust.

Ich habe keinen von beiden begraben. Es ist Morgen und der Regen hat fast alles Blut fortgespült. Den Rest erledigen die Tiere. Wohin Henry verschwunden ist, weiß ich nicht. Der Dschungel hat ihn geholt – oder der Regen. Das Funkgerät schmeiße ich ins schlammige Wasser des Bangfai, ebenso die Waffen der anderen. Nur die beiden Hundemarken nehme ich mit. Sie sollen meine Zeugen sein für den Tod. Was soll ich jetzt tun? Mein Herz klopft heftig, als ich eine Dose Bohnen öffne. Das Amulett fällt mir ein. Ich ziehe es aus der Hosentasche und betrachte fasziniert das blaue Leuchten. Dieses Blau ist nicht der Himmel. Vielleicht wird dieser Himmel nie mehr blau. Er wird grau bleiben und wir haben nur nicht gemerkt, wann das passierte, wann wir alle gestorben sind. Was also soll ich jetzt tun? Das Prasseln des Regens auf die Granitplatten des Plateaus hört sich ein bisschen an wie Gewehrfeuer. Ich weiß, was ich noch tun muss. Ich werde zurückgehen, und dieses verdammte Gook-Lazarett ausräuchern.

 
Verwendete Wörter
Lapislazuli | Flügel | Rollstuhl | kopfüber | Zeuge(n)

Nabönd @rainsen,

ja, da hast du recht. Ich habe das leicht angepasst. Hineinziehen lassen und lesen, was will man mehr? Das Schönste: beim Schreiben wurde ich auch hineingezogen. Wie so ein Fiebertraum. Es freut mich, wenn es dir gefallen hat und meinen besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Danke auch für die Aufmerksamkeit bezüglich der Zeit. Ich wünsche einen Schönen Abend und nen ruhigen Rosenmontag der keiner ist.

Bis bald.
Morphin

 

Hallo Morphin,
danke für die Geschichte. Ich fand sie sehr dicht, sowohl atmosphärisch, als auch sprachlich und erzählerisch. Ein Realismus, der folgerichtig magische Elemente mit sich führt (da, wo psychologische Erklärungen nicht mehr greifen). Und wie manche Filme, die nur ganz sparsam blau verwenden (jetzt fällt mir auf die Schnelle nur "Der fantastische Mr. Fox" ein), wirkt der Lapislazuli vor dem Hintergrund des Regens und des Dschungels besonders stark. Die Bilder entstehen leicht, zum Teil ergänzt durch Filmbilder, die man kennt, natürlich, aber auch ergänzt und anders, z.B. ist die Wucht des Regens für mich ein neues Detail einer Vietnamerzählung.
Ich hatte allerdings einen langen Weg vom Titel in die Geschichte hinein. Es heißt ja, das Unbewusste verstehe keine Negation. Das stimmt sicher nicht in jedem Fall, aber bei "Blau ist nicht der Himmel" habe ich den ersten Satz vor komplett blauer Kulisse gelesen, blaue Bühnenwand, blaue Tapeten, blaue Vorhänge. Natürlich habe ich den Fehler gleich bemerkt und korrigiert und meine inneren Bühnenarbeiter, wenn man das so sagen kann, haben den ganzen Laden ganz fix umgestrichen: schmutzigbraun, grün und schwarz. Das war ein eher ungewöhnlicher Weg in den Vietnamkrieg. Hat aber funktioniert: Denn dann haben wir alle wie gebannt im Dauerregen die Ohren gespitzt.
Nicht zu wissen, was die Wunde in der Brust bedeutet, hinterlässt ein eigentümliches Gefühl: ist das Herz verändert? Oder herausgerissen? Schön, dass wir das nicht erfahren.

Viele Grüße
Katja

 

Oh, @Placidus,

das hab ich doch glatt übersehen. Entschuldigung. Zuweilen verliere ich die Übersicht. Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Was das Irreale angeht, ist es das Wiedergeben eines Gefühls, das ich als Dreizehnjähriger hatte, als ich mit einer Zeitschrift in North-Carolina im Garten meines Onkels saß, blätterte, Bilder betrachtete, und er plötzlich aus dem Haus kommt und auf die großen Bäume mit Kreide "Gooks" malte, Nordvietnamesen, Vietcong, "Charlie" wie er sagte. Dann schlich er sich vor meinen Augen über den astrein gemähten Rasen und spielte Krieg. An seinen Unterarm hatte er eine Ledermanschette gebunden, in der mehrere Wurfmesser steckten. Er schlich an so einer Kreidefigur vorbei und blitzschnell bewegte er den Arm Richtung Baum und zwei Messer flogen der Kreidefigur ins Gesicht. Charlie ist außer Gefecht, sagte er. Ich saß da, mit dem New Yorker und fühlte mich irgendwie nicht auf diesem Planeten.

Was soll man da sagen, als dreizehnjähriger Mitteleuropäer?

Bis bald und Grüße
Morphin

 

Hallo @Morphin,

Kriegsberichte sind nicht die Art Text, die ich normalerweise lese. Ich weiß nicht, warum, irgendwie mache ich einen Bogen darum. Deine Geschichte hat mich auch eher aus zwei anderen Gründen gekriegt.

1.: Diese Allgegenwärtigkeit des Wassers. Erbarmungslosen, triefenden, durchnässenden Wassers. Mit allem, was damit verbunden ist: Schlamm, erdrückende Wolken, dieses prasselnde Geräusch, dieses einfach-nicht-mehr-trocken-werden. Das fand ich sehr beklemmend. Ich kann mir vorstellen, wie zermürbend das ist, wie es die Psyche genau wie den Körper Stück für Stück durchweicht - vor allem in Anbetracht des Grauens, das in diesem "ewigen Dschungel" lauert.

2.: Das Seltsame. Ich kann mich noch an einen Kriegsfilm erinnern, der klassisch anfing, dann aber in die Mystery-/Horrorschiene abdriftete (hab leider den Namen vergessen). Diese Mischung, die ja total Sinn macht, wie ich finde, hat mich damals schon reingezogen und so geht es mir auch hier. Dass sich all das, was die Soldaten erleben, in ihrer Psyche niederschlägt und Formen annimmt, die nicht mehr kontrollierbar sind, so sehe ich diesen Rollstuhl, das Loch, den Stein. Passiert das oder ist das kollektiver Wahnsinn? Finde ich total interessant, darauf rumzudenken.

Zwischen all dem Atmosphärischen und Beklemmenden, das du gut einfängst, haben mich manche Dialoge kurz rausgerissen, weil sie mir ein wenig zu künstlich vorkamen. Zum Beispiel hier:

»Das ist ein Lapislazuli«, erklärt Henry. »Meine Tante in Houston hat einen Schmuckladen. Ein Haufen bunter Steine. Rubine, Amethysten und auch so blaue Dinger. Sie sagte: ‚Diese blauen Steine hier sind Lapislazuli‘. Genauso sieht er aus.«
Das fühlt sich irgendwie gestelzt an. In dieser Situation, alle angespannt, nun auch noch am Rande des Wahnsinns, zermürbt bis zum geht nicht mehr, redet man da so? Ich glaube, ich würde das an dieser Stelle extrem kürzen. Wortfetzen.
"Lapislazuli", sagt Henry.
Die anderen sehen ihn fragend an.
"Meine Tante hatte so einen Schmuckladen. Da lagen die Dinger auch rum."

Irgendwie so, du weißt schon, was ich meine :)

So ging es mir an ein paar Stellen. Oft gefielen mir die gehetzteren Dialoge, oder knapperen Gespräche, wie auch immer man es nennen mag, besser, weil sie für mich passender für die Gesamtsituation deiner Geschichte sind.

So viel von mir, nimm, was du möchtest :)
Liebe Grüße
RinaWu

 

Salü @RinaWu,

ja, ich gebe zu, ich schreibe sie, um das Zeug mal aus dem Kopf zu kriegen. Ich muss sozusagen ein Bild davon bekommen. Wie ich @Traumtänzer schon geschrieben habe, gibt es viele erzählte, also reale, Elemente. Und immer wieder träume ich davon. Deswegen habe ich mich entschlossen, drüber zu schreiben. Und diese Challenge war irgendwie der Auslöser. Keine Ahnung warum. Hab auch den Dialog bissken gekürzt. Die Mit-Soldaten meines Onkels hatten alle diesen Sprech drauf. Immer bisschen abgehackt. Ist ja auch schon ewig her. Onkel lebt schon lange nicht mehr.

Besten Dank fürs Lesen und Kommentieren und gesund bleiben wünscht
Morphin

 

Gude @Morphin,
ich habe selten Kurzgeschichten zu dem Thema gelesen, eher Filme gesehen. Wo Apocalypse Now auf mich fiebrig wirkt, ist es hier der Regen, der einen Schleier über die Wahrnehmung legt. Ich finde, dir ist es sehr gut gelungen, diese anhaltende Strapaze und damit die Atmosphäre zu schildern. Die Eskalation rund um den Lapislazuli bleibt rätselbehaftet und mysteriös, das gefällt mir. Stark finde ich da auch, dass wir als Leser den Viet Kong nie zu sehen bekommen und stattdessen die Erwartungen und Ängste der Amerikaner dazu hören. Eine gelungene Verlagerung des Kriegs in die Köpfe der Soldaten.

Ein paar Kleinigkeiten:

"Unsere Aufgabe ist es, die vermutlichen Stellen zu fotografieren"
-> Ganz aus dem Gefühl heraus: Wäre da "mutmaßlich" nicht vielleicht das passendere Wort?

"Ich sollte es nicht tun, denke ich. Tecumseh andauernd die Spitze überlassen."
-> Da war für mich nicht klar, warum. Es erscheint aufgrund Tecumsehs Fähigkeiten ja absolut logisch. Ich glaube gelesen zu haben, dass du noch kommentiert hattest, dass eigentlich durchrotiert wird. Vielleicht könnte man das hier einfach aufgreifen und kurz ansprechen. Je nach Publikum könnte da eine ungewollte Unklarheit vermieden werden.

"Nur wenige Inch von der Mine entfernt hängt der Vogel im Draht. Seine Flügelwurzel ist auf eine noch nicht sichtbare Weise darum gewickelt."
-> Die Formulierung irritiert mich ein wenig. Es bleibt ja auch dabei, dass der Draht nicht sichtbar darum gewickelt ist, weswegen sich das "noch" eigentlich erledigt. Ich fände "erkennbar" auch etwas stimmiger, da das m.E. mehr auf die Wahrnehmungsmöglichkeiten des Protagonisten eingeht und weniger objektiv klingt.

Abgesehen von diesen drei Kleinigkeiten habe ich nichts, das wirkt für mich insgesamt sehr rund. Bin dir fasziniert in den verregneten Dschungel gefolgt :thumbsup:

Liebe Grüße
Vulkangestein

 

Morsche @Vulkangestein,

frühe Grüße und besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Hab mal das "noch" raus und erkennbar rein. Bei den zwei anderen Punkten überlege ich noch. Freut mich, wenn es dir Lesevergnügen bereitet hat. Es gibt noch einige andere Aspekte, die ich ich noch ein wenig beschreiben möchte. Beispielsweise dass der Krieg hauptsächlich im Süden stattfand und erst nach Tet mehr und mehr reguläre nordvietnamesische Einheiten als Gegner auftauchten. Es war also meist ein Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Dabei vor allem die sogenannten "Free-fire-Zones", also schießen auf alles, was sich bewegt. Da wird besonders deutlich, wie wenig Herr man der Lage war.

Bis denne
Morphin

 

Lieber @Morphin,

Deinen Text habe ich schon vor Wochen gelesen und jetzt nochmal in der leicht geänderten Version. Ein wenig habe ich mich vor dem Kommentar gedrückt und wollte warten, bis Du andere Stimmen gehört hast. Was mich durch den Text trägt, ist dein flüssiger, guter Stil, der Reichtum an stimmigen Details, an Wissen um tatsächliches Geschehen, das Du einbaust und das aus den Zeilen spricht. Der Krieg und konkret hier der Auftrag ist es nicht, was mich packt. Klar, das ist spannend geschrieben und die Sinneseindrücke, die Du beschreibst, kann ich gut nachfühlen. Dennoch berührt mich der Text nicht wirklich, denn die handelnden Personen bleiben Fremde. Ich bin und bleibe ein Beobachter, komme deinen Protagonisten nicht nahe, weiß nicht, was sie umtreibt, ich lese nur Überlebenskampf, wer da was macht, ist fast egal, sie sind alle Soldaten, unterscheiden sich, wenn überhaupt, nur marginal durch besondere Fähigkeiten, nicht durch Charaktermerkmale, die ich ablesen könnte.
Tec, Ted, Lester, Henry, Mitch, X, Y, Z, ich hab zu keinem deiner Protas wirklich ein Bild. Für mich tragen alle schlammgetränkte Tarnuniformen. Und sonst? Keine Ahnung. Alles bleibt mir persönlich zu abstrakt, die Antagonisten, Charlie, die Gooks sind nur eine Fata Morgana, eine Vorstellung. Bleibt nur der Dschungel und das allgegenwärtige Wasser als einzig greifbare Gegenkräfte, wenn sie das denn sein können. Die Natur ist für mich der heimliche Star der Geschichte, denn nur sie bekomme ich zu fassen, kann mich hineinfühlen in den Dschungel. Glitsch, Schlamm, tosende Gewässer und Regen überall. Und kann mir ausmalen, wie das auf Menschen wirkt, die dem dauerhaft ausgesetzt sind.

Das Amulett kommt ein wenig aus dem Nichts, Deus ex machina, auch das, was es bewirkt, dieses "Etwas trifft mich in die Brust". Wenn ich die ganze Handlung auf eine Prämisse, oder auf das, was im Grunde erzählt wird, eindampfe, bleibt folgender Satz: Ein Trupp Soldaten mit Aufklärungsauftrag tötet sich durch Einwirkung eines magisches Amuletts gegenseitig.
Dadurch erhält das Amulett mMn zuviel Gewicht, denn ohne würde die Story zu nichts führen und mit ist mir persönlich das zu willkürlich und als Twist für den Aufwand, den Du betreibst, zu schlicht. Du betreibst eine elaborierte Versuchsanordnung um der Versuchsanordnung willen, denn das, was letztlich die Handlung bestimmt, hat damit nichts zu tun. Das Amulett könnte auch in Mexiko oder Schweden oder sonst wo auftauchen und sein übles Werk dort verrichten. Es gibt nichts Spezifisches, warum es Vietnam sein muss, weißt? Und das finde ich schade.

Das ist Spannungsliteratur, die mich als Leser durch die Erwartungshaltung mitzieht, mich schlussendlich aber wegen der beschriebenen Leerstellen unzufrieden zurücklässt. Woher bezieht das Amulett seine Wirkung? Wo ist die Backstory dazu? Warum in Vietnam und nirgendwo sonst? Worüber soll ich nachdenken?
Soweit mein persönlicher Leseeindruck. Weiß nicht, ob Du damit was anfangen kannst.

Eine Anmerkung noch.

Seine tiefschwarzen Indianeraugen sind die besten in unserem Zug. Er hat die Sehschärfe eines Adlers.
Stereotyp-Alarm, wie der Schwarze, der so gut tanzt oder der freundliche Thai.

Peace, l2f

 

Hey @Morphin ,

ich weiß nicht, wie sinnvoll der Kommentar hier ist. Den von @linktofink hast du noch nicht beantwortet, und weil ich sehe, dass du seitdem neue Geschchten eingestellt hast, nehme ich mal an, du arbeitest jetzt an denen. Weil das hier aber die Challenge ist, will ich dir zumindest einen Leseeindruck dalassen.

»Das ist nicht unsere Aufgabe, Tecumseh. Unser Auftrag lautet ‚Aufklärung und Erkundung des Bangfai-Flusses‘. Je weniger Lärm, desto besser.«

Das ist für mich Infodump.

Mit den Fingern macht Mitch uns klar, dass Tec etwas entdeckt hat.

Wie macht er es mit den Fingern klar? Hätte mir gewünscht, dass du es genauer beschreibst.

Aber es gibt ja Steine die leuchten

Komma nach Steine.

Ich persönlich mag gut geschriebene Soldatengeschichten, auch gerne in Sci-Fi. Der Fokus liegt klar auf der Mission und dem Obskuren, weniger auf den Figuren. Die bleiben platt, weiß aber nicht, ob ich das deswegen bemängeln kann. Führt aber gleichzeitig dazu, dass mich die Spannung um die Soldaten selbst nicht durch den Text trägt. Am Ende hatte ich das Gefühl von einem Scary Movie, wo nach und nach alle sterben. Die Frage ist dann wer, gar nicht ob. Was mich durch den Text trägt, ist die Atmosphäre: Regen, Regen und noch mehr Regen. Das ist anschaulich beschrieben, reicht mir aber nicht. Zentrale Elemente bleiben für mich unklar: Was machen die da? Was hat es mit dem Amulett auf sich?

Hoffe, der Eindruck bringt dir noch Nutzen.

Liebe Grüße
Meuvind

 
Zuletzt bearbeitet:

Mahlzeit @linktofink und @Meuvind,

@linktofink, ich hab deinen Beitrag glatt übersehen. Da hst du recht, mit allem. Es ist keine Charakterbeschreibung, es sind austauschbare Figuren, Namen, alles ist weit weg, als wäre es eine Geschichte aus dem Nirgendwo. Es ist schlicht Krieg. Zwischen Menschen, die sich kennen oder nicht kennen. So wie ich das bei den Erzählungen meines Onkels empfunden habe. In dieses "Unpersönliche" habe ich einfach die fünf Begriffe gepflanzt. Das mit dem Rollstuhl passte gut, wegen der abgehauenen Franzosen. Und deine Fragen

Woher bezieht das Amulett seine Wirkung? Wo ist die Backstory dazu? Warum in Vietnam und nirgendwo sonst? Worüber soll ich nachdenken?
kann ich dir nicht beantworten. Ich für mich habe sie beantwortet. Aber das sind sozusagen meine Antworten, die aber tatsächlich auch meine bleiben werden. Wie schon bei den Geschichten um meinen Russland-Opa - nicht nur hier - gab es so viele Fragen, was ich wie und warum sagen wollte ...

Ich habe das meinen Opa auch gefragt. Und meinen Onkel. Russland und Vietnam. Beider Antwort lautete: Es war Krieg. Mein Opa sagte noch viele Jahre später, kurz vor seinem Tod 1992: Im Krieg gibt es keine Antworten. Es bleiben nur Fragen. Da hat dieses Amulett gut reingepasst. Also kann ich dir nur meine Antwort sagen, aber nicht deine.

Das ist auch genau das, was ich @Meuvind schreibe. Identische Antwort. Das mit den Fingern habe ich mal raus und einfach "Zeichen" draus gemacht. Wobei du da deiner eigenen Logik in die Falle gegangen bist: Denn "Auftrag erklären = Infodump" und "Wunsch nach Erklärung der Zeichensprache von Spezialeinheiten" schließen sich ja von selbst aus. Ein rekursives Element.

Ich persönlich mag keine Soldatengeschichten. Weder im Jetzt noch im Sci-Fi. Aber ich mag Geschichten, in denen der Mensch nichts mehr ist. Weder menschlich noch sonst etwas. Ich mag Geschichten, die mehr Fragen lassen, als sie zu beantworten. Denn das stellt mich vor das Problem, entweder selbst diesen Fragen auf den Grund zu gehen oder sie für mein Leben zu ignorieren.

Im Falle von Opa Johann und Onkel Ted kann ich sagen, dass mein Bücherschrank und meine Zellen da oben im Schädel voll von allen möglichen Informationen sind, die ich nur irgendwie irgendwo ergattern konnte. Aber leider kann ich immer noch nicht die Fragen beantworten.

Am Ende ... das Amulett ist nichts weiter, als der Überbringer einer Botschaft (das ist meine Antwort für mich). Die Botschaft ist die: Wenn du diese Grenze überschreitest, hörst du auf Mensch zu sein. Aber meine Antwort gehört nicht in so eine Geschichte, in gar keine Geschichte, weil ich sonst Welterklärer werden müsste. Das bin ich nicht.

Was ich aber gut nachempfinden kann, ist, dass dieser Text genau zwei Leser hat. "Mag ich", "mag ich nicht" oder "trifft mich" und "lässt mich unzufrieden zurück".

Bis dahin und noch einen sonnigen Sonntag (so wie hier).
Griasle
Morphin

 

Lieber @Morphin,

du bist ein guter Erzähler, das stelle ich immer wieder fest. Immer, wenn ich eine Geschichte beginne, läuft so nebenher in meinem Kopf das Programm, bei hakeligen Stellen, unlogischen oder fehlerhaften Formulierungen die Zitiertaste zu bedienen, um dem Autor später aufzeigen zu können, welche Stelle es genau war, die mich gestört hat.
Bei deinen Geschichten stelle ich meist am Ende fest, dass ich nichts zum Zitieren gefunden habe.
Sicherlich wird es den einen oder anderen Satz geben, den man optimieren könnte, das gibt es ja immer.
Aber deine Art zu erzählen, führt halt immer dazu, dass ich nur noch lese und lese und vergesse, dass ich eigentlich auch besonders kritisch lesen wollte.
Und genau deswegen halte ich dich für einen guten Erzähler, denn das gelingt dir spielend immer wieder mit deinen Geschichten.
So bin ich auch bei dieser eingetaucht in diese Nässe, Feuchte, schlechte regenverhangene Sicht, die primitivsten Lebensbedingungen, klamme Kleidung, Rutschigkeit und Schlamm, Schlamm, Schlamm.

Das mal so vorneweg als ganz großes Lob für dich.
Und auch damit du die nachfolgenden kritischen Bemerkungen gut aushältst. :D

Dies ist, das ist mal Fakt, meine allererste Geschichte, die ich über den Vietnamkrieg lese.
Ich habe zwar schon ab und zu mal Spielfilme über den Vietnamkrieg angeschaut, meist aber die nicht zu Ende angesehen, weil die dort gezeigten Grausamkeiten mich mental zu sehr runtergerissen hätten. Während ich bei rührseligen Szenen hemmungslos heulen kann, schließe ich meist bei ganz brutalen Szenen die Augen.

Was du da geschildert hast, war so eindrücklich, dass ich einen Film vor Augen hatte, der praktisch nur in Schwarz-weiß lief, denn der Regen und keine Sicht und das ganze Schlammige haben einfach keine anderen Farben zugelassen. Aber gewiss war genau das von dir auch so beabsichtigt.

Diese Männer, die wenn man in Kriegshandlungen überhaupt einen Sinn sieht, eine gar nicht mal so unwichtige Aufgabe hatten, haben sich am Ende selbst aufgerieben, einerseits durch ihre selbst erzeugten Wahnvorstellungen und der, der im Loch verschwunden ist, vermutlich durch einen Unfall.
Dass man unter extremen Bedingungen, in denen man eigentlich ununterbrochen darum kämpft, selbst zu überleben, irgendwann nicht mehr kann und zwar körperlich und mental, hast du gut geschildert. Was mir allerdings fehlt, ist so ein gewisser Hinübergang dahin.
Ich könnte mir vorstellen, weiß es allerdings nicht genau, dass man sich eine ganze Weile lang gegen diesen lebensvernichtenden Zustand wehrt, ihn bekämpft, bevor man in so eine verdrehte Gedankenwelt abdriftet, dass man vergisst, dass es die eigenen Leute sein könnten, die man tötet oder dass man jemanden, der eine Wunde hat, nach welcher er eigentlich nicht mehr leben dürfte, dann umbringt. So jedenfalls habe ich deine Geschichte verstanden.
In deiner Geschichte funktionieren deine Figuren und dann legt sich bei ihnen plötzlich der Hebel um. Das ist mir irgendwie zu sehr gewollt und ausgerichtet auf das dann folgende rasche Ende.
Übrigens habe ich als total Unerfahrene die Worte Gooks, Charlie und Claymore im Internet suchen müssen, weil ich mir da so rein gar nichts drunter vorstellen konnte, aber das war nicht schlimm, ein bisschen was selbst tun kann man ja, wenn man was liest. Oder hab ich einen erklärenden Anhang überlesen? Ich hoffe nicht.
Und ich hatte anfänglich, da musste ich nochmals von vorne beginnen, Probleme mit den beiden Ich-Erzählern, weil ich mir nicht vorstellen konnte/wollte, dass du beide in der Ichform berichten lässt. Aber das sind alles nur kurze Erwähnungen meiner leichten Probleme, das kann so bleiben, es war ja nicht dadurch unlesbar.

Meinen obigen Kritikpunkt, dass mir deine Figuren zu übergangslos verrückt werden, möchte ich noch um einen Punkt erweitern, nämlich der Frage, nach dem Sinn, den du dieser Geschichte geben wolltest. Wenn ich nicht doch etwas komplett nicht gepeilt habe, dann erschöpft sich deine Geschichte darin, dass deine Figuren gegen die Naturgewalten, die ewigwährende feindliche Bedrohung und gegen ihre unerträglich schlechten Lebensbedingungen kämpfen und bis auf einen daran scheitern. Sinnlosigkeit des Krieges, gezeigt anhand einer kleinen Gruppe.
So wäre meine Deutung deiner Geschichte.
Mein Problem ist, dass ich ja sofort unterschreiben würde, dass Krieg sinnlos ist. Dazu benötige ich diese Geschichte nicht. Ich bin also auf deiner Seite, jedoch ohne zusätzliche Erkenntnisse, die meine Ansicht noch deutlicher untermauern oder gar noch mehr verdichten oder eventuell sogar ändern würden. Es fehlt mir also mehr Tiefe, mehr Bedeutung in deiner Erzählung.
Ich hoffe, du verstehst meinen Kritikpunkt.

So bleibt mir eine gut erzählte Geschichte, mit sehr plastischen Szenen, die du so eindrucksvoll geschrieben hast, dass ich mich fast schon selbst ganz erschöpft gefühlt habe, so dicht dran war ich an deinen Figuren. Schwere, Nässe, kaum Sicht, keine Hoffnung auf ein paar Minuten Trockenheit verbunden mit all den Strapazen, die das mit sich bringt.
Das bleibt und das hast du echt gut dargestellt.

Lieben Gruß

lakita

 

Servus @lakita,

uh, was ein langer Kommentar. Vielen Dank fürs Lesen und dat Dingen. Ja, du hast angesprochen, was auch bei anderen Kommentaren schon erwähnt wurde. Sinnfrage, Charakternähe, Erkenntnisse für einen einzelnen Prot ... im Prinzip wird ja nur der Indianer verrückt. Den gibt es - gab es - übrigens im echten Leben. Da hat er mir Ameisen in Honig hingestellt zum essen. Ich hab eigentlich die Figuren aus meinen Erinnerungen geholt und ihre sinnlosen Erzählungen aufgeschrieben. Denn - obwohl ich sie mit 13 gehört habe und damals schon keinen Sinn erkennen konnte - bleibt es auch heute sinnlos. Leider habe ich meinen Onkel danach nur noch einmal gesehen, als sie zu Besuch in D waren. Danach wurde er ja "eingeliefert" ins Kuckucksnest. Wie ich die Geschichten aufgeschnappt habe, bringe ich noch auf Papier (sogar schon angefangen).

Der Captain weiß am Ende nur, dass Tecumseh mindestens einen getötet hat aus der Gruppe. Und dann noch eine vorher nicht dagewesene Wunde ... das Misstrauen ist zu groß und die Zivilisation viel zu weit weg, um noch humane Entscheidungen zu treffen. Alles fügt sich in die Logik des Sinnlosen. Ein Satz meines Onkels damals, den ich auch schon in Beiträgen weiter oben erwähnt habe, fand ich damals mehr als bemerkenswert. Ich quetschte ihn ja förmlich aus, fragte andauernd, auch warum sie dies oder jenes getan hatten. Und irgendwann sagte er: Es war nicht mehr so, dass wir im Krieg waren. Es war eher so, dass WIR der Krieg waren. Man denkt anders. Fühlt anders. Sieht, hört und riecht anders. Als Dreizehnjähriger fand ich das extrem gruselig. Heute auch noch. Aber ich kann über diese Aussage ein paar Texte schreiben.

Zweifellos hinterlässt der Text Fragen. Löcher. Die wollte ich aber auch nicht beantworten. Und auch nicht stopfen.

Griasle
Heiko

 

Hey @Morphin,

Deine Antwort hinterlässt bei mir ähnliche Leerstellen wie der Text.

Aber ich mag Geschichten, in denen der Mensch nichts mehr ist. Weder menschlich noch sonst etwas. Ich mag Geschichten, die mehr Fragen lassen, als sie zu beantworten. Denn das stellt mich vor das Problem, entweder selbst diesen Fragen auf den Grund zu gehen oder sie für mein Leben zu ignorieren.
Geschichten, in denen der Mensch nichts mehr ist ... offene Fragen lassen, statt versuchen sie zu beantworten. Schön und gut. Was Du machst ist, Du zeigst dem Leser das Endprodukt und sagst: Die sind alle kaputt, aber so genau weiß ich auch nicht wieso, denn der einzige Grund ist und kann nur der Krieg sein, dadurch werden Menschen halt so. Und entweder ignoriere ich das "Warum?" oder ich werde zum Experten und knie mich richtig rein, was im Text nicht geht. Hat was von Freifahrschein, finde ich.
MMn ginge das schon anders und du könntest das sehr wohl zeigen. Damit ich das als Prozess sehen kann, diese Entmenschlichung, dieses Werden zu Nichts, muss ich die Figuren, oder wenigstens eine davon, vorher als Mensch wahrnehmen können und nicht ausschließlich als trainierte Killermaschinen, die zwangläufig so geworden sind, wie sie sind.
Aber mich beschleicht der Eindruck, das willst Du gar nicht, denn Du sagst: Ich zeige, was ist und stellt keine Fragen, denn die Antworten darauf kann jeder sich nur allein geben, falls er/sie das möchte.

Am Ende ... das Amulett ist nichts weiter, als der Überbringer einer Botschaft (das ist meine Antwort für mich). Die Botschaft ist die: Wenn du diese Grenze überschreitest, hörst du auf Mensch zu sein. Aber meine Antwort gehört nicht in so eine Geschichte, in gar keine Geschichte, weil ich sonst Welterklärer werden müsste. Das bin ich nicht.
Ich als Leser erwarte von Dir keinen "Welterklärer", darum kann es auch nicht gehen, mir geht es darum, dass ich weder die oben angeführte noch eine andere Botschaft aus dem Text ableiten kann, denn diesen Verweis auf die Metaebene leisten Text und Amulett schlichtweg nicht.

Was ich aber gut nachempfinden kann, ist, dass dieser Text genau zwei Leser hat. "Mag ich", "mag ich nicht" oder "trifft mich" und "lässt mich unzufrieden zurück".
Für Textarbeit sind das mMn nicht die richtigen Kategorien, für mich ist das komplexer. Ich kann Texte, die ich nicht mag, als sehr gut geschrieben erkennen und berührend finden. Es kann mir sehr unangenehm sein, die zu lesen und doch geben sie mir etwas, weil sie mich zum Nachdenken bringen. Unbequeme Texte, die ich mir erarbeiten muss und die ich lese, obwohl sie mir querliegen.
Ebenso können Texte, die ich mir mal eben zwischendurch reinpfeife, mir entgegenkommen, im Sinne von "mag ich, ist nah an mir dran", dennoch hohl sein und das Gefühl hinterlassen "Da hätte Autor viel mehr rausholen können". Also für mich keine reine "Geschmacksfrage".

Peace, l2f

 

Mahlzeit @linktofink,

tja, was soll ich Dir jetzt antworten? Der Text ist tatsächlich genau so, wie ich ihn schreiben wollte. Er ist weder mehr, noch weniger. Bestimmt hätten andere Autoren da viel mehr herausgeholt. Keine Frage. Ich habe keine Ahnung, wie ich deinen Kriterien entsprechen könnte, denn ich habe diesen Text in einem Rutsch aus dem Bauch heraus runtergeschrieben, so schnell ich konnte. Dann gab es noch die Doppelungen, Rechtschreibfehler, Anmerkungen der Leser*innen, aber dann war er fertig. Und ich kann ihn nicht - selbst wenn ich wollte - wieder öffnen, denn er ist nicht mehr Ich, ich bin nicht mehr bei ihm und das Gefühl ist weg. Mein Kopf würde ihn jetzt nur noch als Konstrukt betrachten, analysieren, auseinandernehmen, neu zusammensetzen, ergänzen. Es ist jetzt schon nicht mehr mein Text, weil er in dem Fluss des Schreibens schon weit hinter mir liegt, schon zwei Biegungen dazwischen. Du kannst sagen: Okay, aber es ist ja ne Challenge, bei der jede/r sich Mühe gibt, verbessern möchte, den Text optimieren ..

... das finde ich gut, und unterstütze gerne jede und jeden, die/der das tun möchte mit meiner Meinung dazu. Aber ich bin das nicht. War das nie, und werde es nie sein. Gibt super Geschichten in der Challenge, bei weitem besser als meine und ich habe auch schon meine Bewertung abgegeben. Ich bin da auf jeden Fall nicht dabei.

Ich bin auch nicht böse oder enttäuscht, wenn der Text in vielen Augen nichts ist, unfertig, zu flach bei den Charakteren, ungelöst beim Amulett usw., und doch ist er genau so, wie ich ihn schreiben wollte - wobei wollte zu viel gesagt ist, denn ich habe einfach die Bilder in meinem Kopf beschrieben. Dann war ich leer und mir ist nichts mehr dazu eingefallen. Wie bei einer Geburt. Nabelschnur durchtrennt. Selbständig. Jede weitere Operation würde den Text zerstören, weil meine Bindung, mein Gefühl für diesen Moment weg ist. Das kommt auch nicht wieder.

Griasle
Morphin

 

Hey @Morphin,
danke für Deine sehr ehrliche Antwort. Ich habe mir schon gedacht, dass Du den Text nicht nochmal anfassen willst. Das mit dem Feeling für den Text kann ich verstehen, das geht mir manches Mal auch so und die Gefahr des Verschlimmbessern ist enorm, gerade wenn dieses spezielle Feeling nicht mehr da ist. Meistens jedoch halte ich persönlich den Text fest und kaue weiter darauf rum, bis ich selber meine, da ist nix mehr zu holen. Oft ist das Ergebnis besser, nicht in jedem Fall. Ich habe auch Texte geschrieben, die habe ich bis auf Kleinigkeiten nur verteidigt, weil alles, was an Vorschlägen zur Änderung kam, mir gegen die Fellrichtung ging. Aber auch das, dieses Prüfen und die Selbstversicherung, dass es für mich so richtig ist, wie es ist, ist ein Prozess, der hier möglich ist und das finde ich wichtig.
"Und ich kann ihn nicht - selbst wenn ich wollte - wieder öffnen, denn er ist nicht mehr Ich, ich bin nicht mehr bei ihm und das Gefühl ist weg." Und damit höre ich auch auf zu insistieren, ich verstehe das und Du bist auch schon drei Texte weiter, was ich respektiere und auch bewundere.
Nichts für ungut, linktofink

 
Zuletzt bearbeitet:

Tec sieht mich weiterhin an. Seine Augen sind die besten in unserem Zug. Er hat die Sehschärfe eines Adlers.
...
»Wo holen sie uns raus?«
Wir blicken uns an. Diese Frage ist verboten. Die Antwort muss ausbleiben.
...
Tecumseh geht zu dem Vogel, der sich kaum noch bewegt und dreht ihm den Kopf ab. Mit einer schnellen Bewegung reißt er den Flügel heraus, ohne dass der Draht auch nur einen Millimeter seine Position verändert.
...
Tec sieht mich weiterhin an. Seine Augen sind die besten in unserem Zug. Er hat die Sehschärfe eines Adlers.

Wa lakota -

kann ich am Namen Tecumsehs vorbeikommen, wenn sich mir gleichzeitig der Shawnee Link (wenn man so will "Korea-Krieger") Wray samt seiner rumpelnden Gitarre aufdrängt? Wie immer beeindruckend,

„Brother“ Morphin

selbst wenn nahezu 17 Normseiten, die Zeile zu 60 Zeichen und die Seite zu 30 Zeilen unter der altehrwürdigen Type courier 12 pt. der Schreibmaschine, Vietnam und Regenwald müssen erst einmal verdaut werden von einem, der ja vom zwoten Kreuzzug bis zum 8. Dezember 1980 eher Gewalt nur andeutet und in Ironie versenkt statt in Blut - was mich aber nicht von der Flusenlese abhalten kann.

Unter meinem Körper fließen Rinnsale, bilden in Windeseile Pfützen. Zweige und Laub sind in Bewegung, mit dem Wasser auf dem Erdreich, das zunehmend flüssiger wird.
Jeder weiß, was gemeint ist, aber flüssig bleibt flüssig, kennt keine Steigerungsstufen („flüssiger Verkehr“ täuscht dergleichen nur vor) - bestenfalls in falscher Richtung als zähflüssig oder überflüssig. Die Vorsilbe „ver…“ ist vielleicht der rettende Anker oder "schlammiger"

»Tec, du gehst voraus. Dann Mitch mit dem Funkgerät. Ich folge, dann Lester. Henry geht am Ende. Die Richtung ist Ost-Nord-Ost. Abmarsch
Klingt nicht der Imperativ nach mehr als einem bloßen Aussagesatz!

Das Gelände ist eben, wie ein Strand mitten im Dschungel, das Blätterdach geöffnet.
Komma weg!, die vergleichende Konjunktion leitet keinen vollständigen Satz ein sondern erfüllt nur ihre nackte Funktion

Etwas trifft mich in die Brust.
Da meine ich, dass die Fälle-Falle zuschnappt. Wohin geh ich? In die Hütte. Wo trifft er/sie/es mich? In der Hütte. Aber vorsicht - ich bin auch irrtumsfähig ...

In Jahrtausenden vom Bangfai flach geschmirgelt, der breit und träge daran vorbei fließt.
Ein Wort „vorbeifließen“

"Gern" gelesen wäre das falsche Wort von seiner Bedeutung her, aber icht ungern gelesen tut's auch

tschüssikowski

Friedel,
der die Daumen drückt!

Hoppela, jetzt gerade erst den Schriftwechsel mit link gesehn. Wat nu, spricht der Pott in mir ...

 

Guten Mittach @Friedrichard,

ja, "gern gelesen" mutet ein wenig seltsam an. Ich erinnere mich an den Sonntagmorgen als mein Vater starb, wir den Hausarzt anriefen, wegen Totenschein. Der kam und wollte einen Scherz loswerden, um die Stimmung aufzulockern und sagte: "Was macht ihr alle für Gesichter? Jemand gestorben?" Ich gebe zu, es ist eine ständige Ambivalenz als Pazifist über so etwas zu schreiben. Aus dieser Falle komme ich so schnell nicht heraus.

Da muss man lachen und schlucken gleichzeitig.

Besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Hab mal gleich die Korrekturen ausgebessert bzw. übernommen. Ich wünsche eine angenehmen Resttag und beste Grüße.

Morphin

 

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